![](https://fairunterwegs.org/wp-content/uploads/migrated/_migrated/tx_news/Al_Amal.bmp)
Emanzipation: Das Öl des Argan
Würden sich die Menschen dieser Welt als eine Gemeinschaft verstehen, wären die 70 Frauen der Kooperative "al Amal" wohl niemandem einen Zeitungsartikel wert. Es wäre völlig normal, seine Kräfte zu vereinen und Gewonnenes wie Verlorenes fair zu teilen. Es würde nicht erstaunen, dass eine Gruppe von verwitweten oder geschiedenen Marokkanerinnen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft leben und kaum lesen oder schreiben können, in Zusammenarbeit mit der Landesregierung und der Unesco einen substanziellen Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt leistet. Und nebenbei eine vom Staat unabhängige Sozialstruktur errichtet, indem sie für ihre alt oder krank gewordenen Mitglieder sorgt. Doch die Dinge liegen nun mal anders.
Entlang der staubigen Strassen Südmarokkos reihen sich streckenweise die Hinweistafeln auf Frauenkooperativen aneinander wie die Palmen oder Arganienbäume. Nicht jede Tafel steht für eine seriöse Kooperative. Als sich Mitte der Neunzigerjahre Frauen in einer "Coopérative feminine" zu organisieren begannen, glaubten nicht viele an die Idee – zu stark waren die Widerstände der Männer aus der Politik und dem Ehebett. Die Vorstellung, dass damit schon zehn Jahre später Etikettenschwindel betrieben werden würde, war noch undenkbar. Missbrauchen nun etwa dieselben Männer das Label der inzwischen erfolgreichen Frauen zu eigenen Marketingzwecken?
Kooperativ zur UnabhängigkeitMeryem Moussa schaut zwei, drei Momente lang in die Luft in Richtung des Fensters, das auf die geschäftige Strasse hinausgeht, und sagt dann mit kaum wahrnehmbarer Verachtung: "Es sind einfach die Kapitalisten." Dies soll das einzige Mal bleiben, dass sie für einen Augenblick ihre ganz persönliche Haltung aufblitzten lässt; ansonsten bleibt ihr Auftreten stets absolut sachlich. Die junge Frau ist die Kommunikationsverantwortliche von "al Amal", die an der Hauptstrasse zwischen Agadir und Essauira liegt. Als solche darf sie selbst nicht Mitglied der Kooperative werden, sondern ist deren erste und einzige Angestellte. Die 70 Frauen, für die sie spricht, hielten es für besser so. "Jemand, der in einem Arbeitsverhältnis mit der Kooperative steht, blickt mit mehr Distanz darauf", sagt Moussa dazu.
Ein altes arabisches Sprichwort besagt: "Die Zunge ist die Übersetzerin des Herzens." Moussas Kontaktfreudigkeit wirkt gleichermassen ehrlich wie professionell. Ihr Trenchcoat sitzt so gut wie ihr Sprechton und die Sätze, mit denen sie in geschmeidigem Englisch Auskunft gibt. Im Innenhof des neu errichteten Haupthauses – ein moderner Bau im arabischen Stil – erläutert sie im Detail die Herstellung von Arganöl und die Produkte der Frauengemeinschaft. Später, im Verkaufsraum, beantwortet sie Fragen zu den Grundsätzen, der Geschichte und der Zukunft der 1996 gegründeten Kooperative "al Amal". Anfangs sei es nicht leicht gewesen für die Frauen, aber immerhin hätten sie das Königshaus und internationale Organisationen wie die EU auf ihrer Seite gewusst. "Die Kooperative hat sich als tragfähige Partnerin erwiesen. Die Geschäfte laufen gut und wir können inzwischen regelmässig Mittel in Infrastruktur und Weiterbildung investieren", sagt Moussa, die dem westeuropäischen Erstaunen über diese schon fast radikale Form der Emanzipation mit Gelassenheit, gar mit Grazie begegnet.
Im Gegensatz zu früher sind die Mitglieder von "al Amal" längst nicht mehr vorwiegend alleinstehende Frauen. "Die meisten Männer finden es gut, wenn auch ihre Frauen geschäften. Warum sollten die Männer etwas dagegen haben, wenn auch ihre Frauen Geld verdienen?" Dass einige dieser Männer ein Problem hätten, wenn ihre Frauen mit Männern zusammenarbeiten würden, wie Moussa anmerkt, findet die 24-Jährige normal. So ist es auch für sie Tradition und den marokkanischen Frauen scheint dies ganz recht zu sein. Ihr Fokus ist ihre Arbeit, der Erfolg der Kooperation – und ihr eigenes Fortkommen. "Die Kooperativen machen die Frauen unabhängig von ihren Männern und Söhnen", wie die "al Amal"-Sprecherin sagt. Gerade in der Landwirtschaft sind ausschliesslich von Frauen betriebene Kooperativen keine Seltenheit in diesem Land, das bei Frauen eine Alphabetisierungsrate von gerade Mal 43 Prozent aufweist. Diese ist zwar sehr viel besser als etwa jene von Mali (18 Prozent), aber bedeutend schlechter als die des Nachbarlandes Algerien (66 Prozent).
Kugeln auf kargen Hügeln
Während die Frauen von "al Amal" ihre Produkte – Speiseöl, Haaröl und Lippenbalsam – im Zentrum des Städtchens Tamnar durch die gut ausgebildete Meryem Moussa präsentieren, stehen ihre männlichen Konkurrenten alle paar hundert Meter mit ein paar Petflaschen des Öls am Strassenrand. Und geben ein eher erbärmliches Bild ab, wenn sie aufgeregt fuchteln, sobald sich ein Fahrzeug nähert, und vollends die Fassung verlieren, wenn es sich dabei um ein französisches Wohnmobil handelt, das sich durch die Arganienwälder wälzt. Hier sehen die knorrigen Gewächse aus wie grosse Kugeln, die breit verstreut in Richtung der Küste die kargen Hügel hinunterkullern. Im den fruchtbaren Tälern des Hinterlandes stehen sie grün und dicht an dicht. Nirgends sonst auf der Welt wachsen Arganien (siehe Kastentext) und auch hier ist ihr Bestand wegen der mehrfachen Übernutzung gefährdet. Das lokale Bevölkerungswachstum bedeutet weniger Land für immer mehr Vieh und die neuen Hotelanlagen samt Golfplätzen für Touristen kappen das ohnehin knappe Wasser aus dem Atlasgebirge. Ein Teil der sogenannten "Arganerie" wurde deshalb von der Unesco 1998 zum internationalen Biosphärenreservat erklärt.
Die Verarbeitung der Arganfrüchte ist seit jeher reine Frauensache. Und äusserst aufwendig: Erst wird mit einem Stein das Fruchtfleisch abgeschlagen. Dabei entstehen wertvolle Nebenprodukte: Die Schalen werden als Brennmaterial verwendet, das Fruchtfleisch wird zu kleinen Laiben geformt, Tazgamoutes, und als Viehfutter verkauft. In einem zweiten Arbeitsschritt werden die Kerne mit einem Stein geknackt und die ein bis drei Samen entnommen. Diese werden nun über dem Feuer geröstet, gemahlen und unter Zugabe von Wasser so lange geknetet, bis das Öl austritt. Das ist alles andere als ökonomisch: Für einen Liter arbeitet eine Frau mindestens zehn Stunden. Doch dabei entsteht ein hochwertiges Produkt, das nicht nur in der Küche verwendet wird, sondern auch in der Haar- und Hautpflege.
Frauen als Bewahrerinnen der Traditionenls "al Amal" 1996 gegründet wurde, war es schlecht bestellt um die Wettbewerbsfähigkeit des Arganöls und die Produktion war entsprechend stark zurückgegangen. Das hatte Zoubida Charrouf, Chemieprofessorin an der Universität Rabat, intensiv beschäftigt. Sie hatte in den Jahren zuvor die heilenden Wirkstoffe des Arganöls identifiziert. Der Gedanke, dass das alte Wissen ihrer berberischen Vorfahren verschwinden könnte – und damit das Aussterben der Baumart beschleunigt würde –, war ihr unerträglich. Sie gelangte zur Überzeugung, dass es möglich sein musste, auf Traditionen zu bauen und den Umfang der kommerziellen Produktion von Arganöl zu steigern. Da die Frauen die Bewahrerinnen der Traditionen sind, wandte sie sich mit der Idee einer Kooperative an sie. Bestechend einfach und offensichtlich erfolgreich.
Das Arganöl erlebt derzeit einen kleinen Boom und inzwischen exportiert "al Amal" bereits einen kleinen Teil ihrer Produktion und erweitert ihrerseits das eigene Angebot mit Jojobaöl aus Frauenkooperativen in Indien.Rund um "al Amal" ist inzwischen das Netzwerk "Targerine", bestehend aus sechs Hauptkooperativen und einer Vielzahl von kleineren Dorfkooperativen, gewachsen. Es verbindet insgesamt rund 2000 Frauen, die über das Netzwerk ihr traditionelles Handwerk professionalisieren, eigenes Geld verdienen und sich fortbilden. Zugleich verpflichten sich die Mitglieder, jedes Jahr mindestens zehn Arganbäume zu pflanzen. Zehn Prozent ihres Gewinnes legen die Kooperativen für gemeinsame Projekte zusammen, wie Moussa erklärt, für Alphabetisierungskurse und Kampagnen zum Schutz der Arganwälder, und in Kürze eröffnet die "Targerine" ihre erste Produktionsstätte mit Kinderkrippe. In Vorbereitung ist auch ein Fonds für zinslose Darlehen für Frauen, für Notsituationen oder Anschaffungen. "Was uns besonders stolz macht, ist, dass sich inzwischen auch wieder junge Frauen für diese Arbeit entscheiden und bei einer Kooperative eintreten", freut sich Meryem Moussa.
"Petit Commerce" statt "Big Business"
"Amal" ist das arabische Wort für "Hoffnung". Es ist mehr als nur ein Name. Für viele der Frauen war der Beitritt zu "al Amal" gleichbedeutend mit einem neuen Leben jenseits der Armut. Mit der Kooperative kam das Einkommen – mit den monatlich 100 Franken das Selbstbewusstsein, das Frau Moussa perfekt verkörpert. Niemand zweifelt mehr an der Idee. Mit ihrem gemeinschaftlichen Geschäftssinn haben diese Marokkanerinnen gesellschaftliche und ökonomische Regeln ausser Kraft gesetzt. Die Frauen haben mit ihrer Klarheit und ihrer Aufgeschlossenheit selbst Anlass zur Hoffnung. Darauf, dass ihr Beispiel weltweit einen wegweisenden Unternehmensstil begründet, der den vielschichtigen aktuellen Herausforderungen entspricht. "Get organized!", steht an einem besetzten Haus in Zürich geschrieben, ganz im Geiste der "Occupy"-Bewegung, die derzeit weltweit eine gerechtere Verteilung des Reichtums fordert. Die marokkanischen Arganbäuerinnen sind es längst. "Es ist einfach", konstatiert Moussa. "Würden wir die Produktion rationalisieren, wären viele der Frauen wieder erwerbslos." Weniger ist manchmal eben doch mehr.
Der Arganbaum (Argania spinosa)
![Ziegen auf dem Argan-Baum. Bild: Marco Arcangeli/wikimedia commons](fileadmin/_migrated/RTE/RTEmagicC_Goats_on_a_tree__capre_sull__albero.jpg.jpg)
Dieser Beitrag ist dem Surprise Strassenmagazin Nr. 278/12 entnommen.
Surprise ist das führende Strassenmagazin der Schweiz. Dahinter steht der Verein Surprise, die auch die Schweizer Strassenfussball-Liga und den Surprise Strassenchor betreibt. Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere, überwinden mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Sie helfen sich selber: Das verdient Respekt und Unterstützung. Wiedergabe von Text und Bildern mit freundlicher Genehmigung.