Empört Euch!
"Mischt Euch ein, empört Euch!" ruft Stéphane Hessel seinen MitbürgerInnen zu. "Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden. Ich wünsche Euch allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung. Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der grosse Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen – zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des Fuchses im Hühnerstall."
Aus seiner eigenen Geschichte heraus − als Jude deutscher Abstammung in Frankreich aufgewachsen und als Widerstandskämpfer der französischen Résistance gegen die Nazi gefangen genommen und knapp dem Tod im Konzentrationslager entronnen − ruft Stéphane Hessel heute in Erinnerung, wie wichtig die Empörung, die Auflehnung gegen Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen sind. Er hat in der unmittelbaren Nachkriegszeit an der Entstehung der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 mitgearbeitet und beruft sich auf die Einhaltung ihrer Prinzipien: "Die in der ‹Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte› – zutreffender noch ‹Universellen Erklärung der Menschenrechte› – von 1948 niedergelegten Rechte sind universell. Wann immer sie jemandem vorenthalten werden, und ihr merkt es: Nehmt Anteil, helft ihm, in den Schutz dieser Rechte zu gelangen."
Heute sieht Stéphane Hessel die Errungenschaften für die Zivilgesellschaft seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und der Erklärung der universellen Menschenrechte akut bedroht. Es gibt Grund, sich zu empören: Über den Abbau der sozialen Rechte und Absicherungen in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts, über die sich weltweit öffnende Schere zwischen arm und reich, über den diskriminierenden Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen, über den Raubbau an den natürlichen Ressourcen des Planeten und am Klima. Ganz besonders prangert Stéphane Hessel auch die Ungerechtigkeit im Konflikt zwischen Israel und Palästina an, nachdem er sich 2009 nach dem Gaza-Krieg erneut ein Bild der Realitäten verschafft hat.
Stéphane Hessels Ausführungen haben auf einem guten Dutzend Seiten Platz – einfach zu lesen, fadengrad, eingängig und glaubwürdig aufgrund seines eigenen Engagements, ohne die mühseligen Schnörkel, zu denen andere "Intellektuelle" oft ausholen. Dafür schätze ich ihn schon seit vielen Jahren – Stéphane Hessel war unter vielen anderen Tätigkeiten auch Präsident der tourismuskritischen Organisation Transverses in Frankreich, bei der ich aktiv mitgewirkt habe. Wenn er sich jetzt auf die Weltgeschichte bezieht und seine eigene Geschichte damit verknüpft, ist nichts verknöchert und nostalgisch verbrämt. Im Gegenteil: Er entlarvt so die aktuellen politischen Rechtsrutsch-Tendenzen und macht gleichzeitig Mut, sich gezielt dagegen aufzulehnen: Empört Euch!
Stephane Hessel: Empört Euch! Ullstein 2011, 30 Seiten, CHF 6.90, Euro 3.99, ISBN 978-3-550-08883-4