Entwicklungszusammenarbeit – Nichts als heisse Luft? Wird also viel Aufhebens um etwas gemacht, das eigentlich unbedeutend ist? Ist es nur Angeberei oder sind es nur leere Versprechen, die mit der Entwicklungszusammenarbeit gemacht werden? Der Titel "Nichts als heisse Luft" stellt das jedenfalls trotz des angefügten Fragezeichens nicht in Abrede.

Eines ist gewiss: Es wurde und wird immer mal wieder viel Aufhebens gemacht um die Entwicklungszusammenarbeit – oder populärer ausgedrückt – die Entwicklungshilfe. Die Entwicklungshilfe wurde als Schlüssel für die Überwindung der Armut gepriesen. Umgekehrt gab und gibt es viele Stimmen, die der Entwicklungszusammenarbeit nicht nur den Vorwurf der heissen Luft machen, sondern noch schlimmer: Sie geben ihr die Schuld für die Weiterexistenz der Armut.  

Es gibt noch eine dritte Richtung. Sie relativiert die Bedeutung der Entwicklungshilfe. Sie sei zwar wichtig, aber nicht so wichtig wie manche behaupten. Weder im Guten noch im Schlechten entscheide sie letztlich über Erfolg oder Misserfolg im Kampf gegen die extreme Armut.  

Ich zähle mich zu dieser dritten Richtung. Nicht weil ich glaube, dass die Wahrheit zwischen den Extremen, also irgendwo in der Mitte liegen müsse. – Aber mehr dazu später.

Die Lage der Welt

Zuerst will ich einen schnellen Blick auf die Lage der Welt bzw. der Armut in der Welt werfen. Und Armut verstanden nach dem offiziellen Sprachgebrauch der Weltbank und der UNO. Sie setzen die Schwelle für extreme Armut bei $1.90 pro Tag an – also sehr tief, manche kritisieren viel zu tief  – was es ermögliche die Entwicklungserfolge besser darzustellen als sie eigentlich seien.  

Ich halte mich jetzt trotzdem an diese Einkommensschwelle von $1.90 pro Tag. Daran gemessen hat sich die Armut seit 1990 sehr stark reduziert von 1,9 Milliarden auf rund 750 Millionen Menschen. Das ist zweifellos erfreulich. Und erfreulich ist auch, dass die Kindersterblichkeit  seither stark abgenommen hat. Täglich sterben 18’000 weniger Kinder als vor 25 Jahren. Die Müttersterblichkeit hat sich fast halbiert. Die HIV- und Malaria-Infektionen haben deutlich abgenommen.

Mit Blick auf diese Entwicklungen meint der Bestseller-Autor Steven Parker von der Harvard University, dass wir heute in der besten aller Welten seit Menschengedenken leben. Er beklagt einzig, dass es fast niemand zur Kenntnis nehmen will. Denn es gehe nach dem Motto "only bad news are good news". Wen interessieren schon positive Nachrichten!  

Klar, wir leben nicht in der bestmöglichen Welt. Die extreme Armut hat in den letzten 25 Jahren vor allem in China und anderen Ländern Ostasiens stark abgenommen. In Afrika und im Nahen Osten hat sie hingegen zugenommen. Es gibt noch fast immer "The Bottom Billion", denen der britische Erfolgsautor Paul Collier vor gut zehn Jahren ein viel beachtetes Buch gewidmet hat. Die von ihm damals gestellte Frage "warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann", ist deshalb noch immer aktuell.

Die Ressourcenfalle

Er diagnostizierte vier Armutsfallen – eine davon ist die "Ressourcenfalle". Sie ist für die Schweiz von besonderer Brisanz.  

Collier stellte fest, dass ein grosser Teil der Allerärmsten der Welt in ressourcenreichen Ländern leben. Es ist ein scheinbares Paradox von Rohstoffreichtum und gleichzeitig extremer Armut. Man bezeichnet es auch als "Rohstoff-Fluch". Stark verbreitet ist er besonders in Afrika, das reich an Kupfer, Kobalt, Gold, Diamanten, Öl, Uran, usw. ist. 

Die Herrscher der rohstoffreichen Staaten können es sich leisten, ohne die Zustimmung der Bevölkerung zu regieren. Sie sind nicht auf deren Steuern angewiesen, fühlen sich deshalb ihnen gegenüber nicht rechenschaftspflichtig. Ihre Macht gründet auf den Einnahmen aus Rohstoff-Exporten und den Abgaben, die ausländisch kontrollierte Rohstoffkonzerne entrichten. Diese schaffen steueroptimierend über die konzerninterne Preisbildung grosse Summen ausser Landes in die Tiefsteueroasen der Welt. Dazu kommen Abflüsse aus weitverbreiteter Korruption oder Geldwäscherei. Es sind sogenannte "Illicit Financial Flows", also illegitime Finanzmittel, die aus armen Ländern abfliessen und die Zuflüsse über die Entwicklungshilfe übertreffen.

Es sind politische Systeme, die auf einer Allianz von afrikanischen Herrschern und ausländischen Konzernen gründen auf Kosten der in Armut gefangenen Bevölkerungsmehrheiten. Sie haben deshalb zwei Seiten und die eine Seite sind wir", stellte dazu der Erfolgsautor Collier fest.

Er meint mit "wir" die reichen Länder und ihre mächtigen Akteure. Bei diesem "wir" spielt die Schweiz eine äusserst prominente Rolle. Denn sie ist im Rohstoffgeschäft zu einer Weltmacht aufgestiegen. Die Branche erzielt heute sechszehnmal höhere Einnahmen als 2002. Beim Handel mit Öl, mit Metallen und mit den Agrarprodukten Kaffee, Getreide und Zucker ist die Schweiz Weltspitze. Schweizer Unternehmen sind in manchen der allerärmsten Länder gross im Geschäft. Der Rohstoff-Riese Glencore im Tschad, in der Demokratischen Republik Congo oder in Sambia. Auch die Rohstoffhändler Vitol, Trafigura, Gunvor, Cargill, usw. sind in verschiedenen armen Ländern gut positioniert.

Auch beim Gold ist die Schweiz Weltspitze. Sie raffiniert rund die Hälfte des Goldes. Für die goldproduzierenden Länder Burkina Faso und Ghana ist die Schweiz nicht nur ein bedeutender Goldeinkäufer, sondern sogar der wichtigste Exportmarkt. Für Mali, Tansania und Peru ist sie  wegen den Goldgeschäften der drittwichtigste Exportmarkt.

Die Gouvernanz-Falle

Hier kommt mit der sogenannten Gouvernanz-Falle eine zweite von Paul Collier erwähnte Armutsfalle ins Spiel. Arme Länder fallen durch schlechte Regierungsführung, fehlende Rechenschaftspflicht, intransparente Haushaltsführung und fehlenden Einfluss der Zivilgesellschaft auf. In einem internationalen Ranking wird die Gouvernanz der meisten rohstoffreichen Entwicklungsländer als "schwach", "schlecht" oder noch schlechter bewertet. 

Als Rohstoffhandels- und Goldraffinerie-Grossmacht pflegt die Schweiz also engste und profitable Beziehungen zu den rohstoffreichen und trotzdem armen Ländern. Die Schweiz ist deshalb Teil des Problems Rohstoff-Fluch.

Das ist keine komfortable Situation. Selbst der Bundesrat räumt ein, dass damit Reputationsrisiken verbunden sind. Unter dem Druck von NGO-Kampagnen und zahlreichen parlamentarischen Vorstössen hat er sich in Berichten von zusammen mehreren hundert Seiten mit Rohstoff-Fragen beschäftigt. Doch viel geändert hat sich nicht. Ein klein wenig Transparenz wurde verordnet oder Projekte nachhaltiger Goldproduktion wurden gestartet. Was die USA und die EU tun, dazu ist die Schweiz aber nicht bereit. Es gibt keine Pflicht zu umfassender Transparenz in der Lieferkette.      

Man mag sich fragen, was das mit Entwicklungszusammenarbeit zu tun hat.

Sehr viel! Denn das Risiko ist gross, dass in den Ländern der "Gouvernanz-Falle" Hilfsgelder nicht die Menschen erreichen, für die sie bestimmt wären. 

Entwicklungszusammenarbeit erschöpft sich aber nicht in der Finanzierung von Projekten. Es geht auch um politische Kohärenz. Auch die Handels-, Steuer-, Investitions- oder Migrationspolitik sollten entwicklungsfördernd gestaltet werden. Die OECD fordert die Schweiz seit langem dazu auf.

Wenn es um die Antwort auf die Frage "nur heisse Luft" geht, zähle ich mich deshalb zur Gruppe drei, weil es davon abhängt, in welchem Umfeld Entwicklungszusammenarbeit betrieben wird. Haben – erstens – die Armutsbekämpfung und die Stärkung  zivilgesellschaftlicher Organisationen und Strukturen Priorität? Sind – zweitens – Projekte eingebettet in die vielfältigen Beziehungen zwischen uns und den armen Ländern; ergänzen sie sich oder kommen sie sich in die Quere, ganz besonders in rohstoffreichen Ländern? Und drittens: Werden Beiträge zu einer nachhaltigen Entwicklung geleistet, zu der sich auch die Schweiz im Rahmen der UNO verpflichtet hat?

Können diese drei Fragen positiv beantwortet werden, ist Entwicklungszusammenarbeit definitiv mehr als "heisse Luft".  

Doch der Weg dahin ist für die Schweiz noch weit. Laut einer soeben publizierten Studie der Bertelsmann-Stiftung lebt die Schweiz pro Kopf der Bevölkerung stärker als jedes andere Land auf Kosten anderer Länder – vor Singapur, Luxemburg und den Vereinigten Arabischen Emiraten.     

Youth Summit 2019

"Ist Entwicklungszusammenarbeit nichts als heisse Luft, Angeberei oder gebrochene Versprechen?" Rund 80 junge Erwachsene diskutierten diese Frage und die neue Strategie des Bundes, welche unter anderem Entwicklungszusammenarbeit mit Migrationspolitik verknüpft. Dabei war auch Botschafter Manuel Sager, Vorsteher der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Fair unterwegs – arbeitskreis tourismus & entwicklung war mit einem Workshop zu Voluntourismus vertreten. 

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