Eine Reihe von politischen und kriegerischen Ereignissen hat die Gesellschaft in den besetzten Gebieten über die letzten Jahre verändert. Mit dem Bau der Mauer und der Ausweitung der Siedlungstätigkeit erlebten die Menschen Zerstörung, Tod, Trauer und Angst. Geografisch ist das Land getrennt, die Arbeitslosigkeit beläuft sich auf 60-80 Prozent. Durch die Mauer sind die PalästinenserInnen eingesperrt, kollektiv bestraft, benachteiligt und ohne Chance, ein geregeltes Leben zu führen.

Gewaltverherrlichung als Reaktion auf konstante Demütigung

Die Auswirkungen auf das soziale Gefüge, die Familienstrukturen und das Individuum sind verheerend. Die Gewalt ist ebenso präsent wie deren Verherrlichung und eine konstante Kriegsrhetorik. So wachsen Kinder in einem gewaltgeprägten, von Feindbildern übersättigten Umfeld auf, die traumatischen Erfahrungen führen zu psychischen Erschöpfungszuständen und Lernschwierigkeiten. Es ist nicht die Armut, welche die Frauen mutlos werden lässt, es ist die konstante Demütigung der Unterlegenen und die Angst vor Gewalt und deren Folgen, die sie beseelen. Das männliche Kämpfen um einen Funken Machtgefühl zur eigenen Bestätigung zerreisst Familien und Ehen. Der Ort, wo Gewalt täglich ausbricht, ist die Familie. Frauen und Kinder leiden unter zunehmender häuslicher Gewalt.

Im gleichen Mass wie die häusliche Gewalt im Steigen begriffen ist, erhalten die Ehrenmorde wieder Auftrieb. Dabei wird eine Frau vom Vater, Onkel oder Bruder dafür bestraft, dass sie nach deren Verständnis die Familienehre nicht hochgehalten hat. Wenn eine unverheiratete Frau schwanger wird, muss sie ihre Schwangerschaft verbergen, das Kind abtreiben oder vor der Familie fliehen. Solche an sich völlig unmöglichen Entscheidungen zu treffen, stürzt die betroffenen Frauen in höchste psychische Not, haben sie doch praktisch keine Möglichkeit, sich vor ihrer Familie zu verstecken oder Schutz zu finden. Die soziale Kontrolle ist ein präzise funktionierendes Instrument.

Rückgriff auf Religion und Tradition
Durch die Jahre der Besatzung ist es zu einer Verschiebung der Aufgabenteilung in der Familie gekommen: Frauen sind zu Ernährerinnen und Alleinerziehenden geworden, sie treten in Verhandlung mit Behörden und Soldaten, denn die Abwesenheit oder der Tod von Vätern und Söhnen lässt ihnen keine andere Wahl. Was für den Mann als ehrenhaft galt, nämlich für die Frau zu sprechen, haben nun die Frauen selber übernommen. Dass ihnen dies in den Augen der Öffentlichkeit nicht zu Ehren gereicht, erklärt sich aus dem Rückgriff auf ein traditionelles Verständnis von sozialer Ordnung.
Die end- und erfolglosen Friedensverhandlungen und die immer mehr zutage tretende Korruption interpretieren die PalästinenserInnen als Fehlen von verantwortungsvollen PolitikerInnen und Vorbildern. In Zeiten der Unsicherheit und fehlender starker Figuren steigt die Tendenz, sich auf als stabil verstandene Traditionen zu besinnen. Religiöse Vorstellungen werden mit gewalttätigem Widerstand verbunden. Sie versprechen Sieg oder ein Gefühl von Macht. Traditionen vermitteln vermeintliche Sicherheit. Religiöse Vorstellungen werden gerne mit Traditionen vermischt. Diese Rückgriffe lassen ein explosives Gemisch von Überzeugungen und Regelungen entstehen, welches sich unvermittelt gegen die Frauen und ihre neu entstandene Stellung in der Gesellschaft kehrt. So erfahren sie den Druck der Gemeinschaft, die sie vorzugsweise in ihrer traditionellen Rolle sehen möchte.

Zu diesem Druck gehört die zunehmende Frühheirat von Mädchen. Offiziell gilt in den besetzten Gebieten ein Heiratsalter von 16-18 Jahren, oft wird es aber unterschritten. Diese Heirat mit meist älteren Männern verspricht den Eltern wirtschaftliche Erleichterung. Die Mädchen sind in der Schwiegerfamilie ‚versorgt’ und nehmen den Platz ein, der ihnen von alters her zugedacht war.

Die Rolle und Bedeutung von Frauenorganisationen
Die palästinensischen Frauenorganisationen haben in den 90er Jahren Frauenanliegen auf ihre Agenda gesetzt und sie dem Kampf gegen die Besatzung gleichstellt. Dies trug ihnen den Vorwurf der Entpolitisierung ein. Wie können NGOs sich für Anliegen der Frauen engagieren, wenn sich die Gesellschaft ihrer grundlegendsten Rechte beraubt sieht und sich unter der Besatzung in einer humanitären und politischen Krise befindet? Es ist für die NGOs eine permanente Herausforderung, auf politischer Ebene Frauenanliegen zu vertreten, sich in zivilen Aktionen für ein kritisches Denken, für Frauen- und Menschenrechte und die Einbindung von Frauen in die Politik zu engagieren.

Viele Palästinenserinnen haben (nicht erst) in den letzten Jahren verstanden, dass sie als Frauen aktiv an gemeinde- und friedenspolitischen Prozessen teilnehmen sollen. Weg vom politischen Zank um Macht und Gewalt, hin zu konstruktiven Veränderungen durch differenziertes Nachdenken und Handeln. Eine von Gewalt zerrissene Gesellschaft kann sich erst auf friedenspolitische Debatten einlassen, wenn sich ihr Inneres, das heisst die Beziehung zwischen Frauen und Männern, verändert. Dann erst stellt sie sich gegen die Besatzer und zerreibt sich nicht vor deren Augen in internen Kämpfen.

Die Teilnahme von Frauen an solchen Prozessen beinhaltet zunächst, dass sie ihr eigenes Selbstbewusstsein entdecken und stärken, im Fachjargon: Empowerment erfahren. Viele Frauen-NGOs sehen darin die wichtigste Chance für Frauen, aus dem Hintergrund hervorzutreten, sich für ein gewaltfreies Leben für ihre Kinder stark zu machen und öffentlich Verantwortung zu übernehmen. Dabei werden Realitäten mit Hoffnungen auf eine gute Zukunft verbunden. Frauen erfahren in Gesprächen psychosoziale Begleitung und werden, mit gestärktem Selbstbewusstsein, in ihren Familien der Gewalt Einhalt gebieten und ihre Kinder zu gewaltlosem Reagieren erziehen können. Frauen lernen lesen und schreiben, erlernen einen Beruf und schaffen sich ein eigenes Einkommen. Frauen sprechen vor laufender Kamera und arbeiten in Fernsehanstalten. Frauen bauen Selbsthilfegruppen und Gemeindezentren auf und klinken sich in Netzwerke ein. Frauen werden aktive Mitglieder in Frauenorganisationen und sprechen in der Öffentlichkeit. Frauen lassen sich als Volksvertreterinnen wählen.

Und mehr und mehr Männer verstehen, dass von diesen Frauen keine Bedrohung ausgeht, aber dass der schwierige Alltag mit ihnen zusammen etwas einfacher zu bewältigen ist und sich auf diese Weise Perspektiven für eine gute Zukunft eröffnen.
Esther Stebler ist Programmverantwortliche Palästina/Israel beim Christlichen Friedensdienst cfd, der feministischen Friedensorganisation.
Der cfd unterstützt in Palästina Organisationen, welche sich die Stärkung der Stellung der Frauen in Gesellschaft, Recht und Politik, sowie die Verbesserung des Zugangs von Frauen zu Ressourcen wie Bildung und Einkommen zum Ziel gesetzt haben. Die cfd-Partnerorganisationen setzen sich für zivile Formen der Konfliktbearbeitung ein und fordern eine breite Beteiligung der Bevölkerung an politischen Verhandlungsprozessen. Der cfd
gehört zu den Trägerorganisationen des arbeitskreises tourismus & entwicklung. Mehr dazu auf www.cfd-ch.org