Jens Martens, seit über zwanzig Jahren verfolgen Sie die internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik. Haben sich die internationalen Aushandlungsprozesse in diesen Bereichen verändert?

Sie verlaufen viel informeller. Dem Erdgipfel in Rio 1992 gingen wochenlange offizielle Vorbereitungstreffen voraus. Bei der Rio+20-Konferenz im letzten Jahr waren es nur noch wenige Tage, alles andere passierte hinter verschlossenen Türen. Das macht es für die Zivilgesellschaft schwieriger, den Verhandlungen zu folgen und sie zu beeinflussen.

Der Einfluss der Zivilgesellschaft ist schwächer geworden?

Einerseits haben sie heute viel bessere formale Beteiligungsmöglichkeiten, sind an den offiziellen Verhandlungen vertreten, werden zu Konsultationen und Dialogen eingeladen. Aber an den eigentlichen Entscheidungsprozessen sind sie nicht beteiligt und haben wenig Einfluss. Im Vergleich zu 1992 hat sich vielmehr der Einfluss der Wirtschaftslobbys und grossen Stiftungen wie der Gates-Foundation verstärkt.

Der Einbezug der Zivilgesellschaft bleibt ein rein formaler?

So pauschal würde ich das nicht sagen. Es hängt von den einzelnen Verhandlungsprozessen ab. Nehmen wir die Diskussion um die Post-2015-Entwicklungsagenda und globale Nachhaltigkeitsziele. Hier werden zivilgesellschaftliche Gruppen auch auf der nationalen Ebene breit einbezogen. Das wirkt sich positiv auf die zivilgesellschaftliche Mobilisierung aus. Aber es bedeutet noch lange nicht, dass auch ihr politischer Einfluss auf der internationalen Ebene wächst, zumindest nicht jener der kritischen Zivilgesellschaft. Auch die Zivilgesellschaft hat sich in den letzen zwei Jahrzehnten stark ausdifferenziert. Es gibt sehr grosse, transnationale NGOs, deren Einfluss weiter wächst und die über grössere Budgets verfügen als kleine Staaten. Und es gibt eine kritische Zivilgesellschaft, die sich eher aus den offiziellen Verhandlungsprozessen zurückgezogen hat.

In den Neunziger- und den Nullerjahren fanden bei internationalen Konferenzen oft grosse Mobilisierungen statt. Haben sie den NGOs mehr Durchschlagskraft verliehen?

Sie haben ihre mediale Sichtbarkeit verstärkt und geholfen, einige wenig umstrittene Themen auf die offizielle Traktandenliste zu hieven, etwa die Bekämpfung der Armut. Wichtige Bereiche blieben aber ausgeblendet. Es gelang nicht, die wirklich brisanten Fragen auf die internationale Agenda zu setzen, wie die Frage der wirtschaftlichen Macht, des Einflusses transnationaler Konzerne oder der Verantwortung für die globale Finanz- und Wirtschaftskrise.

Der Rückgang dieser Mobilisierungen hat den Einfluss der NGOs geschwächt? Gibt es diesen Rückgang tatsächlich?

Vor gut drei Jahren gingen bei der grossen Klimakonferenz in Kopenhagen Zehntausende auf die Strasse. Letztes Jahr waren an der Rio+20-Konferenz wesentlich mehr NGOs vertreten und Menschen auf der Strasse als beim Erdgipfel 1992. Bei der Diskussion um die Post-2015-Agenda beteiligen sich überall auf der Welt sehr viele Menschen und zivilgesellschaftliche Gruppen. Da zeigt sich eine grosse Mobilisierungskraft. Das Problem ist, dass sie sich nicht in politischen Einfluss und Veränderung niederschlägt. Auch die globalen Kräfteverhältnisse haben sich verändert, bei vielen zentralen Fragen scheint heute ein Konsens schwierig. Das Feld der Regierungen ist heute viel heterogener als noch vor zwanzig Jahren. Die Länder des Südens haben sich ausdifferenziert. Schwellenländer wie China oder Brasilien haben an Einfluss gewonnen und treten bei internationalen Verhandlungen selbstbewusster auf, und das ist auch gut so. Gleichzeitig sind die Probleme gewachsen, zeigt sich die Notwendigkeit substanzieller Veränderungen immer deutlicher. Dass sich diese Veränderungen politisch schwer durchsetzen lassen, hat weniger mit dem Kräfteverhältnis zwischen Regierungen zu tun als mit dem Kräfteverhältnis innerhalb der Gesellschaften.

Das Hauptproblem sind die nationalen Kräfteverhältnisse, die auch die internationale Politik bestimmen?

Es ist schon auch so, dass an internationalen Konferenzen wichtige Fragen ausgeklammert werden, wie die Beschränkung des Einflusses von machtvollen Wirtschaftsinteressen, die Regulierung der transnationalen Konzerne oder die grundsätzliche Veränderung der Konsum- und Produktionsweisen in den Ländern des Nordens. Für jede zukünftige Entwicklungsagenda ist es unabdingbar, dass es hier Fortschritte und Durchbrüche gibt.

Das sind auch die zentralen Knackpunkte einer künftigen Post-2015-Agenda?

Aus meiner Sicht ist der wichtigste Knackpunkt, dass sie nicht wie die Millenniumsziele eine Agenda des Nordens für den Süden, für die sogenannten Entwicklungsländer, wird. Sie muss sich auf alle Länder beziehen. Angesichts der globalen Probleme und Herausforderungen sind alle Länder Entwicklungsländer, alle müssen sich weiterentwickeln.

Welche inhaltlichen Schwerpunkte sollte die Post-2015-Agenda setzen?

Sie darf sich nicht auf die Armutsbekämpfung im engeren Sinne beschränken. Sie sollte zentral die Wahrung und den Schutz der Menschenrechte, Gleichheit und Gerechtigkeit, den Respekt vor der Natur und den ökologischen Grenzen beinhalten. Sie muss aber auch, und das ist in der bisherigen Diskussion vernachlässigt worden, ein solidarisches und faires Finanzsystem sowie Frieden und Abrüstung anstreben. Ohne Frieden und Abrüstung kann es keine dauerhaft tragfähige Entwicklung weltweit geben.

Gibt es Hoffnung, dass diese Probleme tatsächlich angepackt werden?

Sie sind teilweise bereits auf der internationalen Agenda und werden diskutiert. Aber die Chancen, dass es bis 2015 zu einem Durchbruch und einer Konsenslösung in unserem Sinne kommt, sind gering. Deshalb wäre es sinnvoll, nicht nur einen Konsens aller 193 Uno-Länder anzustreben, also den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen. Es könnten sich, unter dem Dach der Uno, auch Koalitionen von Gleichgesinnten bilden, die bereit sind, darüber hinauszugehen. In der EU gab es das bei der Finanztransaktionssteuer: Sie war in der ganzen EU nicht durchsetzbar, aber elf Länder haben sie dennoch beschlossen. Das zeigt, wie jenseits des Minimalkonsenses Fortschritte erzielt werden können. Das erhoffe ich mir auch bei der Debatte um die Post-2015-Agenda: dass einzelne Regierungen den Mut haben, angesichts der Brisanz der Probleme sich zu bewegen und weiterzugehen.

Bei der Erarbeitung der Millenniumsziele war die Zivilgesellschaft nicht einbezogen. Sieht es bei der Post-2015-Agenda tatsächlich besser aus?

Die Uno und die Regierungen haben aus den Fehlern bei den Millenniumszielen gelernt und in über hundert Ländern nationale Konsultationen lanciert. Hinzu kommen weltweite thematische Konsultationen, in Form von Tagungen und im Internet. Das hilft, die zivilgesellschaftlichen Gruppen auf der nationalen Ebene zu informieren und zu mobilisieren. Aber es gibt auch die Gefahr einer Überdosis an Konsultation: Man könnte derzeit den ganzen Tag am Bildschirm sitzen und irgendwelche Online-Fragebogen ausfüllen.

Ein Beschäftigungsprogramm für NGOs mit wenig Wirkung?

Die Konsultationen sind nicht falsch, und die NGOs sollten sich daran beteiligen. Aber man sollte nicht alle Energien in solche Prozesse stecken und damit letztlich vergeuden. Denn der Einfluss zivilgesellschaftlicher Gruppen auf den offiziellen Entscheidungsprozess ist meines Erachtens gering. Die NGOs sollten sich vor allem darauf konzentrieren, ihre eigenen Positionen zu formulieren, und dabei nicht einfach nur pragmatisch das derzeit politisch Machbare verfolgen. Sie sollten die Chance wahrnehmen, national und international grundsätzliche gesellschaftliche Debatten zu lancieren: Wie sollen sich unsere Gesellschaften angesichts der ökologischen und sozialen Probleme künftig organisieren? Was bedeuten Wohlstand und gesellschaftlicher Fortschritt tatsächlich? Wie sieht eine solidarische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts aus? Das sind die entscheidenden Fragen, die heute debattiert und beantwortet werden müssen.
Jens Martens ist seit 2004 Leiter des Europa-Büros des Global Policy Forum. Der Think Tank verfolgt und analysiert die Politik der Uno und ihrer Mitgliedsstaaten. 2011/12 koordinierte Martens zudem die Civil Society Reflection Group on Global Development Perspectives. Daneben engagiert er sich im Beirat der Stiftung Entwicklung und Frieden und bei Social Watch, einem weltweiten Netzwerk von über 700 Gruppen und NGOs (darunter Alliance Sud). 2003 bis 2009 sass er im Koordinierungsausschuss, 2006 bis 2009 als Co-Vorsitzender. Martens ist Autor zahlreicher Publikationen.