Warum unterstützt du den palästinensischen Aufruf zum kulturellen Boykott Israels?

Ich finde den palästinensischen Aufruf  ausgesprochen klar und präzis. Er greift sowohl die Schwierigkeiten als auch die Widersprüche auf, die im Rahmen des akademischen und kulturellen Boykotts bestehen. Zudem ist es in der aktuellen Situation dringend nötig, Druck auf die privilegiertesten Schichten der israelischen Gesellschaft, AkademikerInnen und Kulturschaffende, auszuüben. Dieser Druck ist aufgrund ihres Verhältnisses zum Staat nötig.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Frage der Gleichheit im Hinblick auf die Lebensbedingungen der PalästinenserInnen. Es geht nicht an, Kunstausstellungen, wissenschaftliche Tagungen und Aufführungen zu organisieren, wenn die PalästinenserInnen aus den besetzten Gebieten – die zum Teil nur wenige Kilometer entfernt leben – daran nicht teilnehmen können. Eine Antwort darauf ist eben, Gleichheit durchzusetzen.

Ist der kulturelle Boykott nicht kontraproduktiv, da er Kulturschaffende und Intellektuelle trifft, die zu den schärfsten KritikerInnen der israelischen Politik zählen?

Der Boykott richtet sich per Definition nicht gegen Personen, sondern ganz klar gegen Institutionen. Kunstwerke oder Personen, die sich nicht dafür hergeben, als BotschafterInnen des Staates Israel aufzutreten, werden nicht boykottiert. Umgekehrt können Kulturschaffende, so fortschrittlich sie auch sein mögen, boykottiert werden, wenn sie sich für eine solche Strategie einspannen lassen. Bei Politikern fordert man Taten statt Worte. Hier gilt dasselbe: Es reicht nicht, zu sagen, man ist gegen die israelische Politik, man muss auch entsprechend handeln, Stellung beziehen und damit Partei ergreifen, das heisst, gewisse Dinge verweigern. Ich weigere mich, einen Staat und eine Politik zu vertreten, die ich als verbrecherisch betrachte.

Was kann der Boykott bewirken? Kann er wirklich zu einem grundlegenden Wandel der israelischen Politik gegenüber den PalästinenserInnen beitragen?

Welchen Einfluss der Boykott haben wird, wissen wir noch nicht. Was wir wissen ist, dass er der israelischen Regierung ziemlich Sorge bereitet und sie unterdessen enorme Mittel einsetzt, um den Boykott zu bekämpfen. Die israelischen Behörden fürchten eine Kampagne, der es gelingt, den israelischen Staat zu delegitimieren. Was gut ist, denn sie haben sich daran gewöhnt, gar nichts mehr zu fürchten. Ich denke, der Boykott hat einerseits eine psychologische Wirkung und er erlaubt andererseits, auf internationaler Ebene den Finger und den Akzent auf den verbrecherischen Charakter der heutigen israelischen Politik zu legen.
Dass der Boykott selbst einen grundlegenden Wandel herbeiführen kann, glaube ich nicht. Er muss Teil einer Reihe von Massnahmen im Rahmen des palästinensischen und internationalen Kampfes sein, wobei das Völkerrecht als unabdingbare Grundlage dient, aber auch die Frage der Diskriminierung und der Besatzung dazugehören. In dieser Hinsicht kann der Boykott tatsächlich Wirkung zeigen.

Wie kann man zum Boykott Israels aufrufen, wenn man weiss, dass die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen, um dann zum Völkermord an Juden/Jüdinnen überzugehen?

Der Nazi-Aufruf zum Boykott jüdischer Produkte war ein nicht zu rechtfertigender Einsatz des Boykott-Instruments. Der Israel-Boykott gilt aber nicht jüdischen Personen, man boykottiert keine Ethnie, sondern eine Politik. Darin liegt der ganze Unterschied. Im vorliegenden Fall geht es nicht um einen Boykott gegen eine spezifische Eigenschaft einer bestimmten Personengruppe, sondern es geht darum, welche Politik unterstützt und mitgetragen wird. Das ist etwas völlig anderes. Die Botschaft heisst: Wenn ihr die israelische Politik nicht unterstützt, unterliegt ihr dem Boykott nicht. Es genügt, die politischen Ansichten zu ändern, dann wird der Boykott eingestellt – das ist ein stichhaltiges Argument.
Die Gegner setzen das Argument der Nazis ein, um einzuschüchtern. Juden/Jüdinnen in der zionistischen Bewegung haben problemlos zu diesem Mittel gegriffen, um jahrelang die arabische Bewegung zu boykottieren, selbst in den 30er-Jahren, als die Nazis in Deutschland die Juden boykottierten. Der Israel-Boykott wird zudem nicht von einem Staat durchgesetzt. Die Nazis setzten ihren Boykott ja staatlich durch  und erliessen dafür eigene diskriminierende Gesetze. BDS ist ein Appell der Zivilgesellschaft, der von den PalästinenserInnen ausgeht und in Solidarität mit ihnen unterstützt wird.

Ist es nicht ein Widerspruch, den akademischen und kulturellen Boykott zu unterstützen, während du selbst an einer israelischen Uni unterrichtest? Wie kannst du deine politischen Überzeugungen mit deiner beruflichen Existenz vereinbaren?

Genau, ich sage immer: Ich kann mich  nicht selbst boykottieren. Ich bin ein Israeli, ich unterrichte an einer israelischen Universität und rufe gleichzeitig zum Boykott auf. Weil es ein Boykott ist, der vom Ausland ausgeht, von einer internationalen Bewegung, der ein Zeichen an Israel sendet. Wenn mich morgen meine eigene Uni bitten würde, sie im Ausland zu vertreten, würde ich das ablehnen. Ich vertrete Eyal Sivan, vor meinen Studenten, das ist alles. Da gibt es keinen Widerspruch.

Ist es gefährlich, in Israel für den Boykott einzutreten?

Es ist ein neues Gesetz in Beratung, das Geld- und Gefängnisstrafen für Personen vorsieht, die zum Boykott aufrufen. Das verstärkt die Bedeutung des Appells. Ja, es wird gefährlich werden, und die internationale Boykottbewegung wird dem Rechnung tragen müssen. Es wird einen Zeitpunkt geben, an dem wir faktisch zu politischen Dissidenten werden, und zum Teil wird es auch Aufrufe zur Unterstützung politischer Flüchtlinge und Ähnliches geben. So weit ist es noch nicht: Israel behauptet ja, eine Demokratie zu sein. Aber demnächst könnte das der Fall sein.

Ist es nicht ein Fehler, wenn durch den Boykott verhindert wird, dass kritische israelische Stimmen zu Wort kommen?

Ich denke, es besteht ein Unterschied zwischen wohlmeinender Kritik und konkretem Engagement. Wir haben es mit einem problematischen Paradox zu tun: Wenn wir als kritische Israelis auftreten, heisst es oft: „Zum Glück gibt es Leute wie Sie in Israel.“ Andererseits tragen wir dazu bei, ein positives Image von Israel zu verbreiten, was wir ja eigentlich nicht wollen.
Deshalb muss klar unterschieden werden zwischen einer kritischen und einer oppositionellen Haltung. Es ist ein Unterschied, ob man nur von Menschenrechten redet oder real etwas erreichen will und sich klar für den politischen Kampf ausspricht. Es ist ein Unterschied, ob man zionistisch ist oder nicht, ob man prozionistisch oder antizionistisch ist. Zudem ist es insbesondere für die internationale Solidaritätsszene wichtig, hier genau hinzusehen und nicht immer für bare Münze zu nehmen, wenn Leute für den Frieden oder gegen die Besatzung eintreten; das ist noch kein regimekritischer Diskurs. Wenn man Leuten wie Amos Oz, wie Peace Now etc. zuhört, die im Grunde eine ethnische, rassistische, extrem zionistische Haltung vertreten und den bestehenden Staat verteidigen, wäre es wichtig, klarer zu differenzieren, sich nicht von Worten blenden zu lassen, sondern darauf zu achten und nachzufragen, wofür sie sich real einsetzen.
Eyal Sivan, geboren in Israel, Fotodokumentationen, zahlreiche Dokumentarfilme zu politischen Themen, unterrichtet in Paris, London und Israel.
Im Rahmen der Israeli Apartheid Week 2011 wurde der neuste Film „Jaffa –The Orange’s Clockwork“ in Zürich, Basel, Bern, Neuchâtel, La Chaux-de-Fonds, Lausanne und Genf gezeigt. In mehreren Städten fand anschliessend ein Gespräch mit dem Regisseur statt. Der Film kann bei Palästina-Solidarität zum Preis von Fr. 30.- bestellt werden.  info@palaestina-info.ch;