«Europa im Erdölrausch – Die Folgen einer gefährlichen Abhängigkeit» von Daniele Ganser
Dieses Buch liest sich spannend wie ein Krimi. Bloss können wir uns am Schluss nicht beruhigt zurücklehnen, weil alles nur Fiktion ist. Unsere Abhängigkeit vom Erdöl ist real und gefährlich für uns alle. Es geht um unsere nächste Zukunft und die hat schon begonnen mit Krieg, Umweltzerstörung, Krisen und Terror. Der Basler Historiker Daniele Ganser zeichnet die Geschichte unserer Sucht – täglich verbrauchen wir weltweit 88 Millionen Fass Erdöl – ihre Entstehung, Entwicklung, die Auseinandersetzungen und den Rausch detailliert nach.
Die Geschichte beginnt mit dem Kohleabbau anfangs des 18. Jahrhunderts, der das fossile Zeitalter einläutete und die Industrialisierung ermöglichte. Steigender Wohlstand und eine immer rascher wachsende Weltbevölkerung waren die Folge. Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt das Zeitalter der modernen Erdölindustrie in den USA, das im 20. Jahrhundert den Siegeszug des Automobils ermöglichte, des wohl eindrücklichsten Merkmals unserer Sucht. 1870 gründete Rockefeller die Standard Oil Company, die heutige ExxonMobil, immer noch eine der Hauptakteurinnen im Erdölgeschäft. In Europa wurde nun ebenfalls eifrig gebohrt, fündig wurde man etwa in Holland und Deutschland. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die Briten das erste Erdöl im Nahen Osten. Während der beiden Weltkriege spielte das Erdöl eine entscheidende Rolle und führte auch in den Jahren danach immer wieder zu Krieg. 1953 stürzten die USA und die Briten die iranische Regierung, nachdem der Iran sein Erdöl nationalisiert hatte. Von der Suezkrise 1956 bis zu den Golfkriegen der Gegenwart ging es in den Konflikten immer wieder um diesen Rohstoff.
Sucht führt zu Gewalt. Das ist beim Erdöl nicht anders als beim Heroin. Nur gibt es keine freie Erdölabgabe als Lösung. Die Droge Erdöl geht unaufhaltsam zur Neige. In Europa haben Norwegen und England ihren Peak, das Fördermaximum, bereits vor einigen Jahren überschritten. England ist von einem Exporteur zu einem Importeur geworden und dies zu einem Zeitpunkt, da sich die wirtschaftliche Lage des Inselstaates alles andere als rosig präsentiert und die Erdölpreise wesentlich höher liegen, als sie es zu Exportzeiten gewesen sind. Gemäss Ganser wurde das Fördermaximum beim konventionellen Erdöl weltweit 2006 erreicht. Die USA und Kanada versuchen, der drohenden Knappheit und der Abhängigkeit von den Golfstaaten zu entkommen, indem sie auf sogenannt unkonventionelles Erdöl setzen, das zum Beispiel aus Teersand gewonnen wird. Bis vor kurzem war die Ausbeutung solcher Reserven zu teuer, aber bei steigenden Ölpreisen beginnt sie sich zu lohnen. Allerdings hat sie einen zusätzlichen und höchst wahrscheinlich weit höheren Preis: Diese Form der Energiegewinnung ist nicht nur sehr aufwändig, sondern auch extrem umweltschädigend. Kanada, das über grosse Teersandvorkommen verfügt, hat sich deshalb aus dem Klimaprotokoll verabschiedet.
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, das Erdöl – konventionelles und unkonventionelles – geht zur Neige. Werden wir nun die letzten Reste zusammenkratzen wie ein verzweifelter Raucher seine Zigarettenstummel, um das Ende noch ein bisschen hinauszuschieben? Oder gelingt es uns, die Energiewende herbeizuführen? Ganser empfiehlt, das Erdöl zu verlassen, bevor es uns verlässt, und zeigt die Möglichkeiten auf: Wasser, Sonne, Wind, Erdwärme und Biomasse. Auch die sind real. Wenn wir wollen.
Der Autor zeichnet die verschiedenen Aspekte unseres Erdölrausches sowie die Möglichkeiten zu seiner Überwindung umfassend und kenntnisreich nach. Das Buch, ergänzt mit Infografiken und einer Chronologie, ist weit mehr als eine spannende Lektüre. Ganser liefert ein Handbuch, das helfen kann, die Wende zu erneuerbaren Energien herbeizuführen. Die Zeit drängt.
Daniele Ganser: Europa im Erdölrausch. Die Folgen einer gefährlichen Abhängigkeit. Orell Füssli Verlag, Zürich 2013, 414 Seiten, CHF 37.90, Euro 24.95, ISBN: 978-3-280-05474-1