Der Tourismus soll nicht nur auf den grenzenlosen Personenverkehr reduziert wer­den, sondern mit seiner Vielschichtigkeit in die europäische Politik in Brüssel ein­gehen. Dies will die EU‑Kommission mit ihrem vor zwei Monaten verabschiedeten Grünbuch «Die Rolle der Union im Bereich des Fremdenverkehrs» erreichen. Im Maastrichter Vertrag wurde erstmals der Tourismus als gemeinsame Aufgabe er­wähnt und ein Aktionsplan für den Zeitraum von 1993 bis 1995 verabschiedet. Da auf der Regierungskonferenz 1996 entschieden werden soll, ob die EU‑ Tourismus­politik als vollwertige Gemeinschaftsaufgabe mit entsprechenden Vorgaben im Vertrag festgeschrieben wird, dient das Grünbuch zur Auslotung des Spielraums für eine gemeinsame Tourismuspolitik. Derzeit scheint eine gemeinsame EU‑ Tourismuspolitik nicht machbar zu sein, da es grosse Interessengegensätze zwischen den Besucherländern (hauptsächlich den nördlichen EU‑Mitgliedstaaten) und den besuchten Ländern (vor allem südeuro­päischen Ländern) gibt. Die Besucherländer legen vor allem Wert auf Umweltpro­bleme im Tourismus und wollen den Schutz des natürlichen und kulturellen Erbes sowie Massnahmen zur Qualitätssteigerung. Die besuchten Länder hingegen wün­schen sich in erster Linie den mengenmässigen Ausbau der privaten Fremdenver­kehrsangebote, auch wenn dies zum Nachteil der Natur‑ und Kulturgüter wäre. Die EU‑Kommission erwartet einen Anstieg der Touristenankünfte in Europa, trotz aufsteigenden Zielgebieten in Südostasien und im pazifischen Raum. Ausserdem ziele der im Trend liegende Wochenend‑ und Lokaltourismus konkurrenzlos auf Gebiete innerhalb der Gemeinschaft. Nur der Fremdenverkehr in Deutschland und Portugal hätten von diesen Trends nicht profitieren können. Andere EU‑Staaten verzeichneten teilweise zweistellige Zuwachsraten. Die günstigen Beschäftigungs­aussichten werten den Fremdenverkehr zusätzlich auf und machen ihn als einen aus Brüssel gesteuerten Wirtschaftsbereich interessant. Derzeit verdanken 9 Millio­nen Menschen in der EU (etwa 6 Prozent der Gesamtbeschäftigten) ihren Arbeits­platz dem Tourismus. Da der Tourismus sich von der rein quantitativen Ausrich­tung (Preis, Verfügbarkeit des Angebotes) hin zu qualitativen Elementen (Umwelt, persönlichere Ausgestaltung) verlagere, würden Wettbewerbsvorteile nicht unbe­dingt durch Arbeitsplatzeinsparungen erzielt werden. Bessere Vermarktung und Konkurrenzfähigkeit wird durch Einführung neuer Technologien oder Zugang zu Kapital erhofft. Damit habe es bisher gehapert, weil das Beherbergungs‑ und Gaststättengewerbe zu 96 Prozent von Klein‑ und Kleinst­unternehmen dominiert werde. Notwendige Innovationen sollten durch EU­Massnahmen eingeleitet werden. Die Qualifizierung von Beschäftigten im Touris­mussektor soll stärker berücksichtigt werden. Zum einen könne die weitere geringe fachliche Schulung das Image negativ beeinflussen, zum anderen fordere die. Saisonstruktur des Tourismus geradezu die Erprobung neuer Arbeits‑ und Bezah­lungsmodelle. Der Fremdenverkehr solle so gefördert werden, dass er dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Union und der Herausbildung einer europäischen Identität diene. Als Ziel einer gemeinsamen Tourismuspolitik wird genannt: Das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der Tourismusindustrie stärker fördern unter Berücksichtigung einer nachhaltigen Entwicklung, die Position der Touristen stärken, das heisst unter anderem Verbraucherschutz, den Schutz und die allgemes­sene Nutzung der Natur‑ lind Kulturgüter und die Angleichung von tourismuspoliti­schen Vorschriften (unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips). Die im Inhaltsverzeichnis versprochenen Entwicklungsperspektiven der EU sind konturlos und klammern verschiedene Bereiche des Tourismus aus. Bedenkens­werte negative Auswirkungen des Tourismus sieht die Kommission nicht. Die Men­schen in Zielgebieten werden bloss als Arbeitssuchende relevant. So werden zum Beispiel «Interessensunterschiede» nur zwischen der Tourismusindustrie lind den Touristen aufgeführt, Konflikte zwischen den Einheimischen lind den Touristen oder der Tourismusindustrie sind der EU‑Kommission kein Wort wert. Wie die an­gestrebte Aussöhnung der Interessenskonflikte im Tourismus aussehen könnte, wird nicht skizziert. Im Gegensatz zu Verordnungen in anderen Wirtschaftszweigen (Stahlindustrie, Landwirtschaft, etc.) fehlen hier Ausführungen überpolitische Zielvorgaben und Steuerungsinstrumente (Quoten, Lenkungsabgaben, etc.). Aus­serdem gibt es keine Vorschläge über Abgaben für die Nutzung von natürlichen Ressourcen im Tourismus oder den Erhalt der kulturellen Identität und Güter. Eine Einmischung in die Diskussion um Ausgestaltung der EU‑Tourismuspolitik tut wahrlich not. Ob solche Fragen diskutiert werden, hängt auch davon ab, wie intensiv und kritisch sich die aufgeforderten Verbände einbringen. Stellungnahmen von allen Beteiligten im privaten und öffentlichen Sektor sind von der EU‑Kom­mission jedenfalls ausdrücklich erwünscht.
Mechtild Maurer, freie Journalistin, Freiburg i. Br.
Das «Grünbuch der EU‑Kommission» ist zu beziehen bei: Europäische Kommission, Generaldirektion XXIII, Abt. Tourismus, Rue de la. Loi 200, B‑1049 Brüssel, Fax 32 2 2961377