Europas erste Klimaflüchtlinge stehen fest
In spätestens 26 Jahren wird das walisische Dorf Fairbourne untergehen – oder "abgewickelt", wie man es nennen würde, wenn es eine Bank wäre. Bis dahin wird der Meeresspiegel so weit gestiegen sein, dass der Ort am Atlantik nicht mehr sicher ist. Einen anderen Ausweg für die derzeit etwa 900 Bewohner gibt es nicht, befand die Bezirksregierung bereits 2013.
Damit wird Fairbourne das erste Dorf in Grossbritannien sein, das wegen des Klimawandels komplett aufgegeben wird. Andere könnten folgen. Was mit den Bewohnern geschehen wird, ist unklar. Nach derzeitigen Plänen wird es keine finanzielle Kompensation geben. Einige Bewohner könnten alles verlieren.
Der steigende Meeresspiegel frisst die Küsten weg
Menschen, die wegen des fortschreitenden Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen, würde man auf Kiribati vermuten, auf den Philippinen oder in der Sahararegion. Vergessen geht dabei, dass auch die Küsten Europas betroffen sind.
Der Meeresspiegel um Grossbritannien ist seit 1900 um 15,4 Zentimeter gestiegen. Bis 2100, schätzen Experten des nationalen britischen Wetterdienstes, wird er bis um 1,12 Meter gestiegen sein. Die Sicherung grösserer Städte oder Industriestandorte an der Küste wird viel Geld verschlingen. Für kleinere Ansiedlungen ist der Aufwand zu gross. Viele Orte an der britischen Küste verlagern sich schon seit einiger Zeit allmählich weiter inlands. Einzelne Häuser werden aufgegeben, Bewohner ziehen allmählich weg.
In Fairbourne ist das nicht möglich. Das Dorf liegt in einem Salzsumpf, kaum über dem Meeresspiegel, vor sich die Irische See, hinter sich einen Berg, zur Seite einen Fluss. Der Mawddach, der sich aus dem angrenzenden Snowdonia-Nationalpark speist, erhöht die Hochwasserbedrohung zusätzlich.
Durch ein System von Mauern und Gräben wird das Dorf jetzt vor Hochwasser geschützt. Die wichtigste Schutzmassnahme ist eine Betonmauer auf einem natürlichen Damm. Bisher hält sie das Wasser ab, wenn es einmal stürmt. Auf dem Damm kann man spazieren gehen und den Strand betrachten. Die ersten Häuser Fairbournes stehen direkt dahinter.
Bricht die Mauer, könnte es Menschenleben kosten. Die Instandhaltung oder gar Verbesserung des Hochwasserschutzes seien auf längere Sicht nicht machbar, entschied der Bezirk, der gerade mehrere Millionen Pfund in den Hochwasserschutz investiert hatte.
Wenn der Damm bricht, könnte es sehr viel schneller gehen
"Der Gedanke, dass das alles hier verschwinden wird, ist traurig", sagt die Stadträtin Lisa Goodier. Goodier ist seit 2014 mit der Ausserbetriebnahme von Fairbourne beauftragt. Die Stilllegung eines Ortes ist Neuland für alle Beteiligten. In Grossbritannien gab es noch nie ein ähnliches Projekt, auch weltweit nicht. Nach intensiver Suche ist Goodier auf einen Ort in Alaska gestossen, dessen Bewohner 2016 freiwillig umgesiedelt sind. "Was wir nicht wollen", sagt sie, "ist eine Menge Klimaflüchtlinge". Dazu könnte es jedoch kommen.
Nach Goodiers derzeitigen Plänen wird der Bezirk 2045 beginnen, alle Spuren menschlicher Existenz zu tilgen. Fairbournes Strassen, Stromleitungen und alle anderen Infrastrukturen werden dann entfernt. Die Pläne seien flexibel, sagt sie. Wenn der Damm schon in den nächsten Jahren breche und Land überschwemmt werde, müsse alles sehr schnell gehen.
Fairbournes Bewohner geraten dadurch teilweise in eine prekäre Lage. Ein guter Teil ist aus anderen Teilen Grossbritanniens nach Fairbourne gezogen, um dort den Lebensabend zu verbringen. Das Haus, stellten sich die Zugezogenen vor, sollte einmal die Pflegekosten sichern. Andere, wie die 32-jährige Julia Walker, die der "Guardian" befragt hat, können es sich schlicht nicht leisten. Walker hat drei Kinder und ist schwanger mit dem vierten. "Wir haben keine Wahl", sagt sie.
Um sich anderswo eine Existenz aufzubauen, müsste die Familie ihr Eigentum verkaufen. Fairbournes Häuser aber will niemand mehr haben. Und wenn doch, dann nur noch zu Schleuderpreisen. Seit Fairbournes Schicksal 2014 durch eine BBC-Reportage bekannt wurde, sind die Preise um 40 Prozent gefallen.
Kredite gibt es nicht mehr. Die einzigen Interessenten sind "Cash Buyer", die hoffen, über die Mieteinnahmen noch einen kleinen Profit zu machen, und ein paar Unentwegte, die darauf spekulieren, bis zum Abbruch noch einige Jahre in Fairbourne leben zu können.
Ob ein Ort in der Umgebung die derzeit etwa 900 Fairbourne-Einwohner aufnehmen kann und will, ist völlig offen. Abgesehen von ihrer Zahl sei das auch kulturell eine schwierige Sache, erklärt Goodier, die versucht, für alle eine Lösung zu finden. Wie es der Zufall will, sei Fairbourne eine englischsprachige Insel im "walisischsten Teil von Wales", sagt sie. Die Flüchtlinge hätten womöglich Schwierigkeiten, sich zu integrieren.
Eine Entschädigung gibt es nicht
Eine gesetzliche Verpflichtung zur Entschädigung der Einwohner gebe es nicht, sagte die zuständige walisische Ministerin Lesley Griffiths. "Ich weiss, es klingt hart, aber wir wollen keine Erwartungen wecken", sagt sie. Sie gibt zu, dass Fairbournes Schicksal auch anderen Orten an der Küste bevorstehen könnte.
Vielen Bewohnern Fairbournes, die sich den Umzug nicht leisten können, bleibt daher nichts anderes, als die Situation auszusitzen. Ein paar haben eine Bürgerinitiative gegründet, um das Unabwendbare doch noch abzuwenden. Die Daten, die das Ende der Stadt bestimmen, seien nicht exakt genug, um ein Datum festzulegen, kritisieren sie unter anderem. Die Stimmung im Ort sei schlecht, beschreiben mehrere Medien. Die "Daily Mail" nannte Fairbourne sogar die "Stadt der Verdammten".
Andere Orte werden folgen
Was in Fairbourne schon feststeht, droht auch anderen Küstenorten. Ein Bericht des Regierungskomitees für Klimawandel (CCC) von 2018 zählte fast 530‘000 gefährdete Immobilien an der englischen Küste. Bis in die 2080er-Jahre seien bis zu 1,5 Millionen Haushalte von Überschwemmungen bedroht, stellt er fest. Sie alle zu schützen, sei unrealistisch, sagt Jim Hall, der Hauptautor des CCC-Berichts. Die Bewohner würden darüber teilweise im Unklaren gelassen. "Die Situation an der Küste ist eine Zeitbombe", sagt er.
Der im Juni publizierte strategische Entwurf des britischen Umweltministeriums zum Hochwassermanagement räumt ein, dass die britischen Ingenieure den Kampf gegen das Wasser nicht gewinnen können. Einige Küstenorte würden umgesiedelt werden müssen, stellt er nüchtern fest.