Basel, 07.09.2010, akte/ Fabrizio Gatti hat Glück, und er weiss es. Der Italiener ist im richtigen Land geboren und besitzt den richtigen Pass. Aber er weiss auch: andere haben schlechtere Karten als er. Sie sind korrupten Beamten ausgeliefert, verdienen zu wenig, um ihre Familie zu ernähren, können sich das Studium nicht mehr leisten, müssen hungern oder in Bürgerkriegen um ihr Leben bangen. Wer aus Afrika fort will, hat wenig Aussicht auf ein Visum, das die legale Einreise nach Europa gestattet. Darum setzen tausende Afrikanerinnen und Afrikaner ihr Leben aufs Spiel, um durch die Wüste zu reisen, von Nordafrika aus das Mittelmeer zu überqueren und auf Lampedusa zu stranden. Am Ende steht für die meisten entweder die Abschiebung oder das Leben als Schwarzarbeiter in der italienischen Wirtschaft.

Für den italienischen Journalisten Fabrizio Gatti, der sich schon seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, sind diese Flüchtlinge die letzten modernen Helden. Von Senegal aus begibt er sich auf die Sklavenpiste, die mitten durch die Wüste führt. Ist es bei seinem Reisestart noch das Gedudel vom Kassettenspieler, das stört, wird die Expedition schon bald weitaus unangenehmer. Gatti reist auf einem übervoll besetzten LKW durch den Niger und muss mit ansehen, wie die Afrikaner von jeder Polizeikontrolle ausgenommen werden. Er erlebt sadistische Fahrer, die sich einen Spass daraus machen, ihre erschöpften Passagiere hinter dem Wagen her rennen zu lassen, begegnet Gestrandeten, die von der Polizei schikaniert und von den Fahrern betrogen keine Chance haben, ihrem Ziel näher zu kommen. Für viele endet die vermeintliche Reise ins Glück tödlich.

Gattis Buch könnte ein Abenteuerroman sein, wäre er nur nicht so wahr. Nicht nur die Gefahren der Wüste und die Sklavenhändler in den tunesischen Häfen erschrecken. Gatti legt auch dar, was der Menschenhandel den Beteiligten einbringt. Am Gewinn ist auch Libyen beteiligt, das trotz grober Menschenrechtsverletzungen vom EU-Handelsembargo befreit ist – Öl sei Dank. Durch die italienisch-libysche Freundschaft können Flüchtlinge daher vom Lager auf Lampedusa direkt zurück nach Libyen geschickt werden, wo sich die EU nicht mehr darum kümmert, welchen Verfolgungen sie ausgesetzt sind und wie viele von der libyschen Polizei in die Wüste gejagt werden.

Doch auch auf demokratischem Boden sind die Menschenrechte nicht sicher, wie Gatti beweisen konnte. Als illegaler Einwanderer Bilal liess er sich vor der italienischen Küste aufgreifen und ins Auffanglager stecken. Dort wurde er Zeuge, wie hunderte von Menschen unter kritischen hygienischen Bedingungen von inkompetenten Staatsangestellten gedemütigt und misshandelt wurden. Die Erfahrungen aus der nigerianischen Wüste scheinen sich auf italienischem Boden zu wiederholen.

Gatti gelang eine eindringliche Reportage, die die Strapazen der Flüchtlinge ebenso glaubhaft darstellt wie die Hintergründe des hochprofitablen Menschenhandels. Besonders hoch ist es ihm anzurechnen, dass er trotz all der Erfahrungen nicht zum Zyniker wird. Nach der Lektüre drängt sich umso mehr die Frage auf, warum es illegal ist, sich den Wunsch nach einem besseren Leben zu erfüllen. Dass sich an dieser Haltung noch nichts geändert hat, beweist die Tatsache, dass erwischte illegale Schwarzarbeiter in Italien mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen müssen. Ihre Arbeitgeber kommen mit einer Geldstrafe davon.

Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, Verlag Antje Kunstmann, 2010, ISBN 978-3-88897-587-5, CHF 30,05, Euro 24,90 (unverbindliche Preisangabe)