Fair unterwegs mit Albert Rieger, Brückenbauer
Welches Buch entführt dich auf die schönste Reise?
Für mich war das Buch von "Ali Qleibo: Wenn die Berge verschwinden. Die Palästinenser im Schatten der israelischen Besatzung" eine Art Initialfunken. Ali Qleibo ist eine spannende Figur: Anthropologe, Autor, Schriftsteller, Künstler, lehrt in der arabischen Al-Quds Universität in Jerusalem. Eine lange Familiengeschichte verbindet ihn mit seiner Heimat. Schon seit 1300 Jahren lebt seine Familie in Jerusalem. Ali Qleibo selbst emigrierte in die Vereinigten Staaten, kehrte aber Ende der 90er Jahre zurück. Das Buch ist zugleich eine Familiengeschichte, ein Reisebericht aus der eigenen Heimat, und es ist voll von mitreissender Poesie. Ich habe Ali Qleibo schon auf Stadtführungen erlebt. Er öffnet die Augen für die kleinen Bijoux, zeigt auf Details an Fassaden, deren Geschichte und Hintergründe er kennt. So bringt er die Steine zum Reden. Der Ort selbst hat ja seine eigene Faszination. Da ist auf drei Quadratkilometern alles auf engstem Raum vereint. Die Tradition der drei monotheistischen Religionen spiegelt sich darin, praktisch alle Völker sind durchmarschiert. Es sind ja nicht nur archäologische Spuren, es gibt auch andere Spuren, auch ganz losgelöst von der Politik betrachtet kann man sich dem kaum entziehen.
Auch Qleibo kann natürlich die Geschichte der Stadt nicht von der Gegenwart abstrahieren. Was der Untertitel sagt: "Die Palästinenser im Schatten der israelischen Besatzung", ist alles bestimmend. Auch in den 50er Jahren war Jerusalem schon eine geteilte Stadt, gab es annektierte Gebiete, Siedlungen. Aber heute gibt es einen ganzen Siedlungsring, mit Hunderten von Checkpoints und der Apartheidmauer. Das ist wie eine grosse Klammer, über die man nicht hinwegsehen kann, wenn man die heilige Stadt besucht.
Wie gehst du mit dem Gegensatz zwischen dem Heiligen und der Trennung um?
Es kommt mir vor wie eine offene Wunde. Wenn ich die heilige Stadt besuche, will ich nicht nur die toten Steine sehen, sondern Menschen begegnen, den "lebendigen Steinen". Man kommt nicht umhin, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Es ist fast nicht möglich, an der Mauer vorbeizuschauen, auch wenn das beim Massentourismus immer noch versucht wird. Mein Leitmotto bei den Reisen ist daher "Menschen begegnen". Für die Palästinenser ändert das zwar nichts an ihrer Lebenssituation, aber es gibt ihnen das Gefühl, dass sie nicht total isoliert sind. Und die Besucher wissen dann auch besser Bescheid, sie hören auch die Stimme der Palästinenser. Das spiegelt sich im Bewusstsein hier, die Leute, denen wir begegnen, vergessen wir nicht. In Ali Qleibos Buch begegnen wir auch Menschen. Er bringt uns die besondere Stimmung der orientalischen Kultur rüber. Er lässt uns nicht nur an die Fassaden blicken, sondern öffnet uns die Hinterhöfe, wo sich das Leben abspielt, lässt uns an den Gesprächen dort teilhaben.
Wie reisest du selbst gerne?
Ich bin ein passionierter Fussgänger. Vor zwei Jahren unternahm ich eine vierwöchige Fussreise durch Ostdeutschland, der ehemaligen DDR. Ich wollte mal nicht den Pilgerweg wandern, wie das heute en vogue ist, sondern in eine "normale" Landschaft. Und auch nicht den touristischen Städten wie Weimar entlang, sondern durch die Industriebrachen. Eigentlich hässlich, aber dort leben die Leute. Ich kam da gut in Kontakt mit den Leuten, denn sie waren neugierig auf den fremden Wanderer. Ich konnte sie fragen, wie es ihnen ergeht, wie sie die Zeit nach der Wende erlebt haben.
Wo bist du ihnen begegnet?
Zum Beispiel in den Kneipen oder Gasthäusern, wo ich Halt gemacht habe. Die Leute wollten wissen, was der Mensch mit dem Rucksack da macht. Die Ostdeutschen haben von der Schweiz das Bild des heilen Landes. Es waren faszinierende Ferien. Ich glaube, so etwas ist nur zu Fuss erlebbar. Oder wie ein Reiseschriftsteller schon im 18. Jahrhundert formuliert hat: Vieles ginge besser, wenn wir mehr gingen. Aber nach Palästina ist es etwas weit zu Fuss. Vielleicht liesse es sich einmal mit dem Velo erfahren. Eventuell mache ich auch mal eine Reise per Schiff nach Haifa.
Fair unterwegs sein: Was heisst das für Dich?
Ich reise seit zwanzig Jahren jährlich oder jedes zweite Jahr nach Palästina. Von der OeME Bern-Jura-Solothurn aus haben wir auch immer wieder Studien- und Begegnungsreisen durchgeführt. Bei diesen Reisen gingen wir bewusst von einem Ort aus, meist blieben wir in Bethlehem bei der lokalen Kirche, mit der wir eine Partnerschaft pflegen. Von dort aus unternahmen wir Ausflüge. So hat man schneller mehr Kontakt. Die Leute kennen uns, was nie möglich wäre, wenn wir von Ort zu Ort hetzen würden. Mir ist es auch wichtig, nach solchen Ausflügen wieder an den gleichen Ort zurückzukehren, zur Ruhe zu kommen und die Erfahrungen auszutauschen. Das hilft, sich der ganzen Realität zu stellen. Der überwiegende Teil der TouristInnen reist nach "Israel" – und Palästina ist mitgemeint. Bei der klassischen Busfahrt, die der israelische Reiseanbieter organisiert, fährt man mit dem Bus rein zur Geburtskirche in Bethlehem. Besucht sie und steigt sofort wieder in den Bus. Das ist dann für diese Besucher Palästina. Sie fahren so an der Realität vorbei. Dabei können beide Seiten voneinander lernen, einander wahrnehmen in der Begegnung. Die Schönheit des Landes schliesst die Schönheit der Leute und ihrer Gastfreundschaft mit ein. Die Geschichte des Landes schliesst die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse heute mit ein.
Wie müsste denn der faire Tourismus nach Palästina aussehen?
Ich kann einige Stichworte geben, vieles ist ja auf dem Reiseportal zu lesen: Die Übernutzung der heiligen Stadt hat ökologische Folgen. Zentral ist das Thema Wasserverbrauch: Das Wasser ist ungleich verteilt, und das wird durch den Tourismus in seiner geläufigen Form verstärkt. Um wirklich beide Seiten zu kennen, sollen sich die Leute die Stadt von lokalen palästinensischen Reiseführern zeigen lassen. Lange war das schwierig, weil die PalästinenserInnen keine Lizenz erhielten. Aber seit den 90er-Jahren werden wieder palästinensische Reiseleiter ausgebildet. Dann auch die lokale Wirtschaft unterstützen, die lokalen Verkehrsmittel nutzen, die Spezialitäten des Ortes geniessen. Und nach der Reise: Weiter machen! Oft ist das, was in den Katalogen steht, fehlerhaft. Wer es dank seiner Reise besser weiss, soll Vorurteile korrigieren. Das haben wir auch schon konkret durchgespielt: Wir verlangten zum Beispiel vom Veranstalter Kultour-Service, dass auch palästinensische Angebote ins Programm genommen werden. Wir haben dazu eine Tagung organisiert und das Israel-Reiseprogramm diskutiert. Heute hat Kultour-Service auch palästinensische Angebote im Programm. Vielleicht nicht gleichgewichtig, aber doch mit einem grösseren Gewicht.
Wieso arbeitet die OeME Bern-Jura-Solothurn für die Palästina-Kampagne mit dem arbeitskreis tourismus & entwicklung zusammen?
Der arbeitskreis tourismus & entwicklung bringt das Know-how ein zum bewussten Reisen, kritisch Konsumieren, umwelt- und sozialverträglicher Reisen. Er hat Kriterien entwickelt, anhand derer Reisende ein Produkt prüfen können. Über das Portal fairunterwegs.org erreichen wir mit unserem Anliegen einer anderen Form von Pilgerreisen nach Israel/Palästina ein breites interessiertes Publikum. Und können so auch den Kodex für Reisen ins Heilige Land, den Regierungsstellen, NGOs und Anbieter aus Palästina gemeinsam entwickelt haben, besser bekannt machen.
Fachstelle OeME Bern
Albert Rieger, selbst während vieler Jahre Präsident des arbeitskreises tourismus & entwicklung, ist Leiter der Fachstelle für Ökumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit (OeME) der Reformierten Kirchen Bern, Jura und Solothurn. Schwerpunkte dieser Fachstelle sind nicht Projekte, sondern exemplarische Beziehungen zu einzelnen Regionen: Israel/Palästina, Guatemala, Sri Lanka – alles Konfliktregionen. Die Arbeit zu Palästina geht 30 Jahre zurück und basiert auf Kontakten zu Kirchen, NGOs, auch zu israelischen Menschenrechtsorganisationen. Viele Kontakte wurden gemeinsam mit dem Christlichen Friedensdienst cfd aufgebaut. Mit verschiedenen Begegnungsreisen hat die OeME viele kirchliche Mitarbeitende nach Palästina/Israel gebracht. In der Schweiz macht die OeME vor allem Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist stolz auf das Jubiläum der Mahnwachen: Jeden 2. Freitag im Monat stehen rund dreissig bis vierzig Leute für einen gerechten Frieden in Palästina vor der Offenen Heiliggeistkirche in Bern – seit zehn Jahren!
Ali H. Qleibo: Wenn die Berge verschwinden. Die Palästinenser im Schatten der israelischen Besatzung. Palmyra-Verlag, Heidelberg 1993