Welches Buch entführt dich auf die schönste Reise?

Das ist schwierig, denn ich lese permanent viel. Sehr gerne lese ich zum Beispiel Bücher von Andreas Altmann, Helge Timmerberg oder Michael Obert. Alle drei sind viel unterwegs und bringen tolle Reiseliteratur nach Hause. Sie sind echte Reisende voller Sehnsucht und Neugier. Altmann zum Beispiel streift durch die Welt auf ständiger Suche nach spannenden Lebensgeschichten, die ihm von Leuten, die er unterwegs spontan trifft, erzählt werden. Er nimmt diese Geschenke mit Dankbarkeit an und vermischt sie mitreissend mit eigenen Gedanken und Erlebnissen. Andreas Altmann, der sich mehr als Reisereporter, denn als Schriftsteller sieht, schreibt kompromisslos, direkt und hinterfragend. Als Leser kommt man bei ihm nie unversehrt davon. Er bewegt mit seinen Texten, rüttelt auf, plädiert gegen Bequemlichkeit und geistige Trägheit.

Du warst letztes Jahr in Indien auf einer grossen Bahnreise. Was bedeutete dir diese Reise?

Es war schön wieder einmal in diesem Land, das mir viel bedeutet, unterwegs zu sein. Ich reiste im Zugsabteil –  mit offenen Augen und offenem Geist. Reisen berührt mich immer sehr stark, es regt an und bewegt mein Inneres. In Indien noch stärker als anderswo. Und es stellen sich viele Fragen. Neue Situationen, die einem beim Reisen begegnen, wühlen auf und machen neugierig. Was will man mehr? Neugier ist ein wichtiger Grundstoff der seelischen Nahrung. Zuhause im Alltag ist vieles unbeweglich und gleichförmig, beim Reisen betreten wir Neuland, gehen über eigene Grenzen hinaus, lernen Leute kennen, die ihr Leben ganz anders führen als wir und dies kann inspirieren.

Reisen als Lebensweg?

Ich war immer viel unterwegs – auch schon einige Male in Indien. Das Reisen gehört tatsächlich zu meinem Leben, seit 40 Jahren: Mit 15 reiste ich erstmals mit meinem älteren Bruder und dessen Kollegen im Deux Chevaux nach Paris und Amsterdam. Seither bin ich innerlich und äusserlich immer ein bisschen auf dem Sprung.

Geht das mit Familie?

Klar, wir sind auch mit den Kindern viel gereist: Südostasien, Australien, Nordamerika. Als mein Sohn 9 Monate alt war, durchquerten wir drei Monate lang Australien. Reisen mit Kindern hat eine ganz eigene Qualität, man ist sicher langsamer unterwegs, baut aber durch die permanente Nähe eine intensive Beziehung zu den Kindern auf. Heute sind meine Tochter 15 und mein Sohn 23, sie gehen zum Teil schon eigene Wege und wollen nicht mehr immer mitkommen. 

Bist du der Ansicht, dass jeder, der es sich leisten kann, das quasi gottgegebene Recht hat, überall hinzureisen?

Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht zur Mobilität. Es gehört zu den Urbedürfnissen des Menschen, unterwegs zu sein, neue Horizonte zu entdecken. Ganz früher reisten die Leute nur in der näheren Umgebung herum, später innerhalb Europas und schliesslich auch übers weite Meer. Bei den ersten Entdeckerreisen ging es ja vor allem ums Aneignen von neuen Landflächen, nachher vor allem um Handel und erst viel später entwickelten sich der Tourismus und das Freizeitreisen. Für mich ist nicht die Frage ob man reisen soll, sondern wie.

Und was sagst du zum "wie"?

Da kommen mir Wörter wie fair reisen, bewusst reisen in den Sinn. Solche Begriffe sind mir wichtig. Es ist aber auch eine Frage der Erfahrung. Wenn man jung ist, reist man anders als wenn man schon mehr gesehen und erlebt hat. Ein Zwanzigjähriger, der zum ersten Mal nach Südostasien reist, will einfach mal die Welt und andere Lebensformen entdecken und stellt sich weniger kritische Fragen. Heute ist der Stand des Bewusstseins bei den Reisenden aber sicher anders als vor dreissig Jahren. Bei meiner ersten Reise nach Lateinamerika war ich völlig aufgelöst vor lauter neuen Eindrücken. Damals reisten noch nicht so viele Leute nach Südamerika. Ich reiste ins Blaue hinaus, praktisch ohne Informationen. Die Informationsflut von heute hat Vor- und Nachteile. Man ist zwar besser informiert und aufgeklärter, hat aber schon sehr viele Bilder im Kopf, bevor die Reise überhaupt beginnt. Man weiss, wie alles aussieht, hat schon x-tausend Fotos gesehen. Bei meinen ersten grossen Reisen war mein Kopf vor der Abreise leer und die Eindrücke unterwegs dadurch viel stärker.

Sinkt die Erlebnisfähigkeit umgekehrt proportional zum Konsum?

Heute sehe ich das anders als früher. Es kommt nicht nur auf das äussere Erlebnis an, sondern auf die innere Erfahrung. Man kann etwas ganz Einfaches machen und dabei Wunderbares erleben, ohne dass äusserlich viel läuft. Aber eben: Ich kann das schon sagen, nachdem ich so viel gesehen habe. Jetzt kann ich in die Tiefe gehen.
Ich reise auch sehr gerne in der Schweiz oder im benachbarten Ausland, mache Wanderungen oder mehrtägige Velotouren.

Was würdest du einem Zwanzigjährigen sagen, der nach Brasilien zu Indigenen reisen will. Gibt es für dich Grenzen beim Reisen?

Auf jeden Fall gibt es die. Man sollte Naturvölker in Ruhe lassen und sie nicht touristisch erschliessen. Die brauchen uns nicht. Man stösst an so viele Grenzen in der Begegnung mit Leuten. Oft habe ich mich gefragt: War das jetzt gut oder nicht. Eigentlich sollten Reisen eine gegenseitige Bereicherung sein. Das ist der Massstab für das eigene Verhalten. Ich versuche im Kontakt mit Einheimischen zurückhaltend, fair, nicht aufdringlich zu sein. Das fängt damit an, wie man jemanden anschaut. Ein bescheidenes Auftreten, eher einen Schritt zurück zu machen als vorzupreschen: Das merken die Einheimischen in südlichen Ländern. Das führt zu anderen Kontakten.

Pflegst du die Kontakte, die du auf deinen Reisen geknüpft hast?

Ja. Ein guter Freund aus Indien ist auch schon in die Schweiz gekommen. Wenn ich fotografiere, schicke ich manchmal auch Bilder, und ich pflege Mailkontakte mit Bekanntschaften im Ausland. Aber man sollte sich da keine Illusionen machen, solche Kontakte verflüchtigen sich oft wieder.

Knüpfst du auch Kontakte mit Reisenden, die in die Schweiz kommen?

Ich hatte vor allem im studentischen Bereich Kontakte. Meine Tochter überlegt sich, ein Austauschjahr in Australien zu machen. Dann hätten wir eine Austauschschülerin aus Australien hier bei uns.

Wie schätzest du das Engagement von fairunterwegs.org ein?

Es ist sehr wichtig. Ich bin in der Fachgruppe für Umwelt und Soziales des Schweizerischen Reisebüroverbands. Dieser hat vor zweieinhalb Jahren die Leitsätze «Tourismus mit Zukunft»  für einen nachhaltigeren Tourismus formuliert. Es geht darum, bei den KonsumentInnen ein neues Tourismus-Bewusstsein zu schaffen, den Respekt vor der Bevölkerung und den Ressourcen zu fördern. Deshalb unterstütze ich fairunterwegs.org mit Hinweisen im Globetrotter-Magazin. Wir bringen auch regelmässig kritische und kontroverse Tourismus-Beiträge und Berichte über erweiterte Formen des Reisens sind immer wieder in der Zeitschrift, z.B. über Volunteering. In der nächsten Ausgabe berichten wir über eine junge Frau, die in einem Frauenkloster in Ladakh Englisch unterrichtete. Das Globetrotter-Magazin will das Bewusstsein für andere Formen des Reisens stärken, bei denen Begegnungen und Kontakte im Vordergrund stehen. Reisen sollen immer auch eine Inspiration fürs Leben daheim sein. Da passt eure andere Reiseseite. Es ist gut, dass fairunterwegs.org auch Schattenseiten beim Reisen aufzeigt. Ich schätze auch die Länderinfos, die über die normalen Infos hinausgehen.

Bücher:

  • Helge Timmerberg: Shiva Moon. Eine Reise durch Indien, rowohlt, Berlin 2006, 203 Seiten, ISBN (13): 978-3-87134-541-8
  • Andreas Altmann: Sucht nach Leben. Geschichten von unterwegs; DuMont Verlag 2009, 208 Seiten, ISBN: 978-3-8321-9500-7
  • Michael Obert: Die Ränder der Welt. Patagonien, Timbuktu, Bhutan & Co.; Malik Verlag, 2008; 288 Seiten, ISBN 978-3-89029-353-0