Welches Buch führt dich auf die schönste Lesereise?

Eigentlich erlebe ich hier in der Schweiz im Kontakt zu Frauen und Männern, die aus anderen Ländern hierher geflohen sind, intensive Reisen. Aber natürlich lese ich auch gerne hin und wieder ein Buch. Einer meiner Lieblingsautoren ist zurzeit John le Carré. Er schreibt spannende Spionageromane mit  Protagonisten, die sich für ihre Überzeugung einsetzen. Sie stossen auf Missstände, recherchieren, lassen nicht locker und kommen so ins Visier von Geheimdiensten und Staatsschutz. Meistens enden die Geschichten schlecht für sie, bis zum Mord oder Rufmord an ihnen. Das vorletzte Buch: „Der ewige Gärtner“ beginnt damit, dass die Frau eines britischen Diplomaten in Nairobi umgebracht worden ist. Ihr Mann recherchiert minutiös, wie sie einem Pharmakonzern auf die Spur gekommen war, der tödliche Menschenversuche betreibt. Involviert sind auch staatliche Instanzen. Im Verlauf seiner Recherche erfahren wir viel über das Botschaftsmilieu, über die Angestellten und deren Frauen mit ihren Ambitionen und Narzissmen. Nach etlichen Morddrohungen wird schliesslich auch der Mann umgebracht. Johne le Carré selbst kennt den Botschaftsbetrieb, er arbeitete für das Aussenministerium und war für den britischen Geheimdienst als Secret Service Agent tätig, bevor er Schriftsteller wurde. Seine Sprache und seine Charakterbeschreibungen sind differenziert, sowohl bei der Darstellung der Protagonisten wie auch deren Widersacher. Es sind keine traurigen Bücher, auch wenn die Engagierten für ihren Einsatz zahlen müssen. Sie können aus ihrer Überzeugung heraus nicht anders.

Ist es so, dass zahlen muss, wer sich für die Gerechtigkeit engagiert?

Es ist sehr realistisch, was er beschreibt. Im Allgemeinen ist man sehr blauäugig. Die meisten glauben, dass ein rechtschaffenes und unbescholtenes Leben Garantie dafür ist, dass man nicht ins Visier des Sicherheitsstaates kommt. Deshalb ist es wichtig, dass man John le Carrés Bücher liest, wenn man sich für etwas einsetzt, das gegen die Staatsräson läuft.

Kennst du Beispiele dafür?

Ein Beispiel aus dem Solinetz: Wir schicken Leuten, die ausgeschafft wurden, Geld für den Neuanfang – so auch einem ausgeschafften Afghani. Der Mann hatte aber keine Identitätspapiere, um das Geld zu beziehen. Deshalb überwies ich das Geld seinem Freund. Es stellte sich heraus, dass dieser auf der schwarzen Liste von Terrorverdächtigen der Vereinten Nationen steht. An diese Liste müssen sich alle UNO-Mitglieder halten, in der Schweiz ist das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) für deren Einhaltung zuständig. Sobald einem der dort eingetragenen Namen Geld überwiesen wird, löst dies einen Alarm aus. In diesem Fall konnte ich den Listeneintrag nachverfolgen. Der Freund hatte einen sehr verbreiteten Namen, etwa wie bei uns Heinrich Müller. Der angebliche Terrorist hatte denselben Namen, stammte aber aus Pakistan. Alle die so heissen wie der aus Pakistan, sind jetzt also mutmassliche Terroristen. Die Liste wurde nach dem 11. September 2001 erstellt, wer dort drauf steht, hat kein Beschwerderecht, der Eintrag ist unwiderrufbar. Keine Ahnung, vielleicht stehe ich ja jetzt auch auf einer Liste von TerroristenunterstützerInnen.

John le Carré schreibt in „Die Marionette“ über eine Flüchtlingsberaterin.

Nun ich weiss nicht, ob ich so mutig wäre wie die dort beschriebene Flüchtlingsberaterin, aber wahrscheinlich etwas misstrauischer. Sie will die Abschiebung eines Tschetschenen verhindern. Sie setzt sich für ihn ein, versteckt ihn vor den Behörden. Dadurch gerät sie ins Visier der Geheimdienste. Ihr wird versprochen, dass der Mann eine Aufenthaltbewilligung  erhält, wenn sie kooperiert. So wird sie instrumentalisiert. Am Schluss wird der Flüchtling vom amerikanischen Geheimdienst überwältigt. Auf dieser Ebene gibt es keine Rechtsstaatlichkeit mehr, dafür viel Konkurrenz zwischen den verschiedenen Geheimdiensten, dem englischen, deutschen oder dem amerikanischen, wobei letzterer schliesslich gewinnt.

Hast du Angst davor, für dein Engagement zahlen zu müssen?

Ich denke, man muss sehr vorsichtig sein. Wer im Visier des Sicherheitsapparates steht, weiss das ja meist nicht. Ich bin mir insbesondere beim Kontakt mit Flüchtlingen bewusst, dass ich andere reinziehen könnte. Daher mache ich möglichst alles mündlich. Dass heisst nicht, dass ich dauernd Angst habe, nur, dass ich vorsichtig bin. Die meisten Leute sind unglaublich fahrlässig, viel zu vertrauensvoll, sie trauen der vermeintlichen Sicherheit eines anständigen Lebens. Doch in den letzten Jahren ist der Überwachungsapparat stark ausgebaut worden. Das hat nichts mehr mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, sondern mit Sicherheitspolitik und Staatsräson. Wir haben immer noch kein Einsichtsrecht in unsere Staatsschutzfichen und müssen damit rechnen, dass wir auch ohne besonderes Verdachtsmoment überwacht werden.

Deine Reisen mit MigrantInnen: Wo finden die statt?

Zum Beispiel beim Deutschunterricht, den ich im Moment im Kirchgemeindehaus in Pratteln erteile. Da erlebe ich nicht nur Perspektivlosigkeit; eine Sprache zu lernen ist auch mit Erfolgserlebnissen verbunden. So lerne ich die Leute auf eine andere Art kennen. Oder bei meinen Besuchen im Ausschaffungsgefängnis. In den letzten Jahren ist die Situation ausländerrrechtlich nur schlimmer geworden. Einige Flüchtlinge sind sehr lange im Ausschaffungsgefängnis, einer war 22 Monate dort. Wir besuchen sie wöchentlich. Da entsteht eine Vertrautheit, und wir sprechen über alles Mögliche. Auf diese Weise bin ich schon durch die ganze Welt gereist.

Und physisch?

In den 70er Jahren reiste ich viel nach Afrika. Im 2003 reiste ich drei Monate nach Ägypten und Jordanien. Ich reise sehr gern, aber es ist immer eine Herausforderung, denn ich will Leute kennen lernen. Viele kämpfen ums Überleben und möchten etwas von dir. So fühlst du dich wie eine Voyeuristin.

Wie gehst du damit um?

Ich habe kein Rezept. Du reisest in den Südländern immer als reiche Europäerin, möchtest aber als Person wahrgenommen werden. Das geht praktisch nicht. Ich versuche ein wenig von der Sprache zu lernen, um die Distanz zu überwinden. Oder besuche Bekannte. Aber selbst dann: Du bleibst in der distanzierten Rolle der Privilegierten. Aus dem Dilemma kommst du nicht raus.
Wenn du nicht reisest, weichst du dem Widerspruch aus. Beim Reisen lernst du viel über das andere Land, aber noch mehr über dich selbst. Man erkennt dich im anderen Land nicht in deiner Persönlichkeit. Manchmal fühlst du dich dadurch verletzt. So versuchen zum Beispiel in Ägypten viele Männer Europäerinnen zu heiraten, um der Armut zu entrinnen. Ich musste mich fragen, warum dies mich so verletzt, so anödet. Sich zu hinterfragen ist anstrengend. Aber wenn du schon so weit reisest, willst du ja auch etwas erfahren, mehr als nur Landschaften und Kultur sehen. Zum Entspannen reicht es, wenn ich hier irgendwo in die Berge fahre oder in den Schwarzwald.

Wie fair bist du unterwegs?

Fair gereist bin ich noch nie. Ich reise immer auf eigene Faust. Projekte, die selbst verwaltet sind und der Lokalbevölkerung direkt zugute kommen, statt dass der Konzern alles absahnt, sind sicher eine gute Sache. Aber sie lösen den Grundwiderspruch nicht. Es ist etwa vergleichbar damit, dass man ein paar Ausgeschaffte beim Aufbau von Projekten unterstützt. Projekte der Entwicklungshilfe sind nur ein kleines Paradieslein in einer Umgebung, die ungerecht ist. So gut die Projekte des Fairen Handels im Tourismus sind, sie befriedigen vor allem auch unser Harmoniebedürfnis. Es ist für uns unerträglich zu wissen, dass es für die Mehrheit der Menschen keine Perspektive gibt. Faire Projekte sind schön und gut, aber man muss sich auch politisch gegen ungerechte Strukturen einsetzten.
Ich würde kaum noch einfach so reisen. Wenn, dann um jemanden zu besuchen, den ich im Gefängnis kennen gelernt habe. Oder mit dem 1000 Frauen Buch: Ich würde diese Friedenfrauen besuchen.

Welchen Wunsch hast du an die Reisenden?

Ich wünschte mir, dass mehr Leute hier die Chance nutzen, auf ImmigrantInnen aus fernen Ländern,  die in der Regel sehr offen sind, zuzugehen.

*Anni Lanz ist eine Schweizer Menschenrechts-Aktivistin mit Fokus auf die Flüchtlingspolitik der Schweiz. Heute ist sie aktiv im Solidaritätsnetz Region Basel und im Vorstand von Solidarité sans frontières. Ihr Engagement wurde unlängst gewürdigt, als sie beim Projekt 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005 als eine von fünf Schweizer Frauen nominiert wurde. 2007 wurde sie mit dem Nanny und Erich Fischhof-Preis für vorbildliches und mutiges Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung geehrt, 2004 erhielt sie den Ehrendoktortitel der Universität Basel. Zur Begründung steht unter anderem: „Anni Lanz hat sich als Soziologin und Baslerin über Jahrzehnte hinweg in verschiedenen schweizerischen Nichtregierungsorganisationen für Menschenrechte eingesetzt. Ihr Wirkungskreis umfasst vor allem das Asyl- und Migrationsrecht sowie die Frauenrechte, wobei sie die Schnittstellen dieser Problembereiche frühzeitig erkannt und in ihrer Arbeit Brücken geschlagen hat. Anni Lanz hat massgeblich die Ausrichtung der schweizerischen Frauenbewegung auf die internationalen Menschenrechte und die globale Vernetzung der Bewegung angestossen. Ihre berufliche und ehrenamtliche Tätigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass Frau Lanz das Recht konsequent in den Dienst an realen Menschen stellt und neben ihrer Lobby- und Kampagnentätigkeit jederzeit auch konkrete Hilfe leistet.“