Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?

"Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann" von Naoki Higashida. Der Autor hat das Autistische Spektrumsyndrom und kommuniziert über unterstützte Kommunikation.

Was heisst das?

Wenn er etwas sagen will, tippt er es in einen PC oder ein Tablet, und eine Person sitzt daneben und hilft ihm zum Bespiel durch eine leichte Berührung an der Schulter, wieder zu dem, was er schreiben wollte, zurückzufinden, wenn er abschweift oder sich nicht fokussieren kann. Diese Form der Unterstützung funktioniert für viele non-verbale Autisten gut.

Higashida nimmt mich mit auf eine spezielle innere Reise, indem er beschreibt, wie er als Autist Dinge wahrnimmt, versteht und interpretiert, und das nimmt mich an einen völlig anderen Ort mit. 

Wieso interessierst du dich gerade für den Autismus?

Mein Bruder Jaime ist ein nonverbaler Autist.

Wie kommunizierst du mit ihm?

Auch er tippt seine Botschaften in ein Tablet, wenn er mir etwas mitteilen will. Ansonsten gestaltet sich unsere Kommunikation in langsamen Rhythmen. Es läuft viel über das Entziffern seiner Mimik, Gestik, Körpersprache, über den Ausdruck von Emotionen und Gefühlen oder Wünschen. Ich vergleiche es manchmal mit einer Reise in ein Land, in dem ich die Sprache nicht verstehe und merke, dass es auch ohne geht, einfach mit Händen und Füssen und durch Beobachten. Die Verständigung ist nicht immer klar und eindeutig, es gibt auch Missverständnisse, aber man lernt mit der Zeit damit umzugehen – sofern man die Bereitschaft dazu hat. 

Was ist es, das dich bei Autisten befremdet oder überrascht?

Ich nehme Details weniger wahr als das Gesamte. Für einen Autisten sind Details oft wichtiger als das Ganze. Ein Autist würde sich in diesem Moment vielleicht eher auf die Kugelschreiber hier auf dem Tisch konzentrieren, und das würde ihn ablenken. Oder ihn überkommt plötzlich ein Gefühl, das er nicht erklären kann, das aber völlig normal für ihn ist. Das zeigt mir, dass es eben nicht nur eine Wahrheit gibt. Wir müssen unsere Werte, unsere Lebenseinstellungen und unseren Lebensstil immer wieder hinterfragen. Das entspricht auch der ethnologischen Sichtweise. Wer Gesellschaften studiert, weiss, dass unsere Art zu leben nicht die einzige ist, es gibt andere Möglichkeiten und Formen, die Gesellschaft zu gestalten

Deinen Jobs nach zu schliessen suchst du nach solchen Möglichkeiten. Was hat dich politisiert?

Vermutlich die Migrationsgeschichte und Herkunft meiner Eltern. Sie wuchsen während der Franco-Diktatur auf, das hat sie sehr geprägt. Galicien im Nordwesten Spaniens, wo sie herkommen, ist eine Randregion, in der man die eigene Sprache nicht sprechen durfte und die von der Franco-Regierung benachteiligt wurde. Für sie ist Faschismus etwas Grundböses, Grundschlechtes, Ungerechtes und Ausschliessendes. Sie wanderten in die Schweiz aus und lernten sich hier kennen. Es war die Zeit nach den Schwarzenbach-Initiativen, als die Italiener und Spanier noch die Bösen waren, Tschinggen und so. Später waren es die Kosovaren und jetzt sind es vielleicht die Eritreer oder die Syrer, aber die Mechanismen sind immer die gleichen. Die Ungerechtigkeit, die sie erlebt haben, bekamen wir als Kinder auch mit. Ich hatte schon damals das Gefühl: ‹Gegen Ungerechtigkeit und Ausschluss muss man sich wehren, man muss etwas dagegen tun.›

Was hast du getan?

Es ging recht lange, bis ich was getan habe. Erst einmal habe ich Ethnologie studiert. Ich gehöre zur ersten Generation in unserer Familie, die studiert hat, deshalb war dieses Studium ein Erfolg für mich. Dann war für mich klar, dass ich etwas Sinn stiftendes machen will, bei dem ich die Welt etwas verändern kann – dafür hat mich die Ethnologie stark politisiert, denn sie hat mir aufgezeigt, dass unser Wohlstand teilweise auf Kosten anderer entstanden ist. Und sie hat mir auch viel Wissen und viele Instrumente an die Hand gegeben.

Und die hast du gleich in der Gewerkschaft eingesetzt. War das ein Zufall?

Letztlich schon, aber ich suchte etwas in dem Bereich, und die Unia fand ich ein gute Organisation. Mein Vater nahm im Jahr 2000 am Streik gegen die Basler Zentralwäscherei Zeba teil, die den Lohn nach der Privatisierung um 600 Franken kürzen wollte. Das war bei uns zu Hause sehr präsent, wir erlebten mit, wie sich die Arbeitsbedingungen der Angestellten verschlechterten. Und nach der Privatisierung beschlossen die Angestellten zu streiken – und hatten Erfolg. So lernte ich: Wenn man nicht kämpft und nichts tut, ist die Sache ohnehin verloren, aber wenn man sich wehrt, kann man als Gruppe gemeinsam etwas bewirken. Deshalb ging ich gerne zur Unia, und glücklicherweise wurde ich für die Stelle auch genommen.

Am 14. Juni ist ja der 2. Frauenstreik. Bis du dabei?

Ich bin zwar nicht aktiv in einem Komitee, aber ich werde streiken. In der Schweiz gibt es bis zur Gleichberechtigung der Geschlechter noch viel zu tun. Es muss sich viel bei den Rollenbildern und -verteilungen verändern. Eine Frau wird immer noch zunächst als Mutter und Hausfrau wahrgenommen. Männer dürfen quasi alles, aber Frauen werden schnell kritisiert, wenn sie nicht dem Idealbild entsprechen. Nach wie vor haben Frauen und auch Männer kaum die Möglichkeit, sich sowohl als Eltern wie auch im Beruf zu erfüllen. Dazu kommt die Benachteiligung der Frauen bei Lohn und Sozialversicherungen. Meine Mutter leistete die ganze Care-Arbeit für die Betreuung des Bruders, die Kindererziehung, den Haushalt, während der Vater arbeitete. Nebenbei war sie als Putzfrau tätig. Während mein Vater heute in den Genuss einer relativ guten Pensionskassenrente kommt, ist sie gesundheitlich nicht mehr so fit und hat mit der Kleinstrente kaum genug zum Leben. Und damit ist sie kein Einzelfall. Und dann die ganzen Diskussionen um die Erhöhung des Rentenalters! Das alles macht mich wütend. In einem angeblich fortschrittlichen Land wie der Schweiz hängt die ganze Care-Arbeit an den Frauen und wird nicht als Arbeit anerkannt. Wir müssen etwas machen, und zwar radikal!

Ja, und zwar fair unterwegs sein. Was ist für dich der Kern davon?

Beim Reisen habe ich mich immer gefragt, wie man den Tourismus ausgestalten müsste, dass auch die dort Wohnenden davon profitieren – man sagt immer die Einheimischen, aber es sind ja nicht nur Einheimische, sondern auch viele Zugezogene, die ArbeitsmigrantInnen. Tourismus soll nicht nur den Hotelbesitzern und Aktionären zugutekommen. Dabei würde ich bei den Einstellungen ansetzen, bei der Idee, dass wir alles haben und überall immer möglichst zu Tiefstpreisen hinreisen können. Es ist das gute Recht eines Jeden, etwas Zeit für sich zu haben, sich schöne Ferien zu gönnen und auch mal an den Strand zu gehen. Aber ich würde es begrüssen, wenn Reisende mehr über die Konsequenzen ihres Konsumverhaltens auf andere und die Umwelt nachdenken würden. Es heizt das Klima an, wenn man viermal pro Jahr das Flugzeug nimmt. Kreuzfahrten belasten die Umwelt auf vielfältige Weise. Für den Bau des Hotelresorts in Bali wurden vielleicht Ansässige vertrieben, der Betrieb entzieht den Kleinbauern und Kleingewerblern der Umgebung möglicherweise Wasser, sodass sie schliesslich ihr Land aufgeben müssen, auf dem sie seit Generationen gelebt haben. Und überhaupt die Umwidmung von öffentlichem Land zu privatem… Zum Teil stecken dunkle Geschichten hinter dem Tourismus! Ich würde mir wünschen, dass sich Reisende etwas mehr damit auseinandersetzen, was die Sorgen der Menschen im Land sind und welche Folgen unser Reisen haben kann. Man muss nicht immer detailliert über alles Bescheid wissen, alle Bräuche von Bali kennen, wissen dass es Zulu und Xhosa gibt und so weiter. Aber für mich beinhaltet fair unterwegs sein auch die Offenheit und Bereitschaft, im Neuen nicht etwas Negatives oder das romantisierte Exotische zu sehen, sondern einfach als eine andere Art, gleichberechtigte Art, die Gesellschaft zu gestalten und zu leben.

Apropos Zulu und Xhosa: Südafrika feiert das 25. Jubiläum der Demokratisierung. Wie fair sind die Verhältnisse seither geworden?

Der SOLIFONDS bspw. unterstützt die Land- und Obdachlosenorganisation Abahlali. Sie kämpft für die Umverteilung von Land und um Wohnraum in den Städten deren Umgebung. AktivistInnen von Abahlali besetzen immer wieder ungenutztes Land. Dafür werden sie massiv kriminalisiert, bedroht und in einigen Fällen auch umgebracht. Das ist schrecklich und zeigt, dass es am Willen fehlt, die Probleme anzugehen. Die Regierung pflegt die gleichen Geschäftsbeziehungen und Netzwerke, von der schon die Apartheidregierung profitiert hat. Der abgesetzte Zuma und seine Familie haben einiges an Geld dabei eingesackt. Ob die jetzige Regierung Ramaphosa daran etwas ändert ist fraglich. Wir in der Schweiz haben übrigens ebenfalls unsere Verantwortung, was diese korrupten und diskriminierenden Strukturen betrifft. Wir haben unsere Vergangenheit mit Apartheid-Südafrika bei weitem nicht zu Ende aufgearbeitet. Die KEESA weist immer wieder auf dieses unfinished business hin, und wird dies auch am 25. Jahrestag wieder tun. Neuere südafrikanische Arbeiten haben die Rolle der Schweiz und andere Staaten untersucht. Ich kann insbesondere Hennie van Vuurens Buch "Apartheid, Guns and Money – a tale of profit" empfehlen. Es beschreibt, wie viele Länder gute Geschäfte mit dem Apartheidregime gemacht haben, und wie die internationalen Sanktionen umgangen worden sind. Und wie diese Geschäftsnetzwerke eben bis heute existieren, da nie eine Aufarbeitungsarbeit, weder in der Schweiz noch in Südafrika, stattgefunden hat. Vor allem die Rolle internationaler Unternehmen im Apartheid-Südafrika wurde nie gründlich untersucht. Und somit konnte das demokratische Südafrika von Politiker wie Zuma quasi ausgeplündert werden.

Verständlicherweise ist die Wut im Land gross. Die Jungen wehren sich gegen die schlechte wirtschaftliche Lage, die Perspektivenlosigkeit, die Diskriminierung, die sie immer noch täglich erleben. Das weckt Ängste, weil es explodieren könnte. Aber die Wut könnte auch Motor einer sozialen Bewegung werden, in der sich nicht wie früher alle gegenseitig zerfleischen, und das ist unsere Hoffnung.

Du kennst fairunterwegs.org von früher, schliesslich warst du ja vor vielen Jahren hier Praktikantin. Wie gefällt dir das Reiseportal heute?

Ich finde es super, wie akte immer wieder gewusst hat, fair unterwegs modern, praktisch und engagiert darzustellen. Bereits das alte Reiseportal war technisch wie inhaltlich vielen voraus, was das Übermitteln von nachhaltigem und fairem Reisen anbelangt, und das "neue" Reiseportal schafft es wieder. Mir haben schon immer die Faustregeln gefallen: mit Humor und verständlich dargestellt, kurz und knackig! Ich empfehle das Reiseportal immer wieder, denn es ist eine gute Einleitung mit kleinen konkreten Schritten, Veränderungen zu erreichen. Und man muss immer beim Kleinen beginnen, um Grosses zu verändern! 

Bücherempfehlungen:

Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann. Ein autistischer Junge erklärt seine Welt. Übersetzung aus dem Original "The Reason I Jump" von Christel Dormagen. Rowohlt, Reinbek 2014, 160 Seiten, CHF 21.90, EUR 12.99, ISBN 978-3-499-62873-3

Hennie van Vuuren: Apartheid, Guns and Money: a Tale of Profit. C Hurst & Co Publishers Ltd, 2018, 640 Seiten, ISBN 978-1787380974