Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?

Im Moment ist es das Buch von Robert Middleton und Huw Thomas "Tajikistan and the High Pamirs". Ich war schon so viel in den Bergen, aber bisher noch nicht im Himalaya. Tadschikistan war einst Teil der Seidenstrasse, die den Osten und Westen des eurasischen Kontinents über den Handel verband. Die Wege vieler Forschungsreisenden haben sich dort gekreuzt. Das Buch ist eigentlich ein Reisebegleiter, bietet aber auch viel Hintergrund. Es schildert eine Vielzahl von historischen Beziehungen zu den Russen und den Nachbarländern. Generell faszinieren mich Werke, welche die Geschichte der Menschen und die Beziehungen aufzeigen. Zum Beispiel von Cees Noteboom "Geflüster auf Seide gemalt", ein Asien-Reisebuch mit vielen politischen und historischen Reflexionen. Solche Bücher dienen mir zur Vorbereitung und geben mir einen Einblick ins politische Leben und in die Natur vor Ort. Aber auch hinterher sind sie wertvoll: Ich erweitere meinen Blick, setze das Gelesene in Beziehung zu meinen eigenen Erfahrungen. Ich fände es schade zu reisen, ohne etwas von Politik, Gesellschaft und Geschichte des Landes zu wissen. Manchmal reise ich zwar auch einfach los, aber zumindest im Nachhinein möchte ich mich informieren.

Du bist in deinem Leben durch die halbe Welt gereist. Wie kommt das?

Schon als Kind entdeckte ich meine Begeisterung für die Berge. Ich wuchs in Niedersachsen nahe dem Brocken auf, dem höchsten Berg im Harz-Gebirge. Er stand erst unter sowjetischer Besatzung und war später militärisches Sperrgebiet der DDR, für uns also unerreichbar. Unsere Ferien verbrachten wir aber öfter in den österreichischen Alpen mit Skifahren und Wanderungen.
Meine Studien der vergleichenden Literaturwissenschaften und der Soziologie führten mich von München und Freiburg im Breisgau nach Boulder (Colorado), mitten in die Rocky Mountains. Nach dem Studium reiste ich durch Südamerika. Meinen 21. Geburtstag feierte ich auf dem Machu Picchu in Peru, meine Doktorarbeit schrieb ich in Kolumbien.

Dann hast du geheiratet und bist Familienfrau geworden. Wurdest du nicht sesshaft?

1969 heiratete ich und zog mit meinem Mann, Henner, damals ein Finanzchef von BASF, erst nach Madrid und Barcelona, wo unsere beiden Töchter zur Welt kamen, und später nach São Paulo. Während meine Töchter die Steinerschule besuchten, engagierte ich mich für einen Kindergarten in den Favelas und organisierte Weiterbildungen für die Mütter, damit sie als Krippenleiterinnen arbeiten konnten. Ich nahm auch meine soziologischen Studien wieder auf und reiste dafür in abgelegene Gebiete Brasiliens, unter anderem zu den Urvölkern.
Als mein Mann 1986 der Chemiebranche den Rücken zuwandte und Vizedirektor des WWF wurde, liessen wir uns gegenüber dem Mont-Blanc nieder. Ich organisierte WWF-Kinderferienlager im Wallis und war eine Zeitlang für einen Reiseveranstalter als Natur- und Wanderführerin in verschiedenen europäischen Ländern tätig. Später arbeitete ich für die internationale Pfadfinderbewegung ein Umweltprogramm aus und reiste dafür praktisch nonstop: zum Beispiel nach Ruanda, Madagaskar, Nord- und Südamerika  sowie nach Indien und Indonesien. Danach baute ich für eine Genfer NGO zusammen mit der UNO-Menschenrechtskommission indigene Führungskräfte aus Russland, Indien, Japan, Burma und Brasilien so auf, dass sie ihre Rechte direkt bei den Vereinten Nationen vertreten konnten – so kam ich auch mit dem arbeitskreis tourismus & entwicklung in Kontakt; wir erstellten zusammen das Dossier "Tourismus – Menschenrechte – Indigene Völker". Quasi gleichzeitig begann mein Engagement für den Schutz des Mont-Blanc, weshalb ich bis heute  regelmässig zu tri-nationalen Sitzungen in Italien oder Frankreich und zu alpenweiten Konferenzen gehe.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Nicht zerstörerisch unterwegs sein. Wahrnehmen, was sich allen Sinnen bietet. Der Natur und den Menschen offen begegnen. Nicht einfach, um sich die Klischees bestätigen zu lassen, sondern mit Neugier, Respekt und Zurückhaltung. Zuhören, welche Probleme die Leute drücken und nicht in die Massentourismusfalle rutschen. Viele machen Strandferien in der Dominikanischen Republik und wissen dabei gar nicht, dass das Nachbarland auf der gleichen Insel Haiti heisst und dass der Grossteil der Angestellten im Hotel aus Haiti stammt. Ich kenne auch SikläuferInnen, die laufen seit zwanzig Jahren am gleichen Ort Ski und haben dabei die Berge noch überhaupt nicht wirklich wahrgenommen. Sie sehen sie einfach als sportliches Tummelfeld mit hübscher Szenerie. Aber es lohnt sich, die Berge zu verschiedenen Jahreszeiten zu Fuss zu erkunden und sich mit den Leuten auseinanderzusetzen, die auf den Hängen und in den Tälern wohnen. Wie auf allen Reisen möchte ich erfahren, welche Fragen und Hoffnungen sie beschäftigen, wie sie mit dem sozialen Wandel vor Ort umgehen und welche Auswirkungen die Globalisierung auf ihren Alltag hat. Und dabei ist es natürlich hilfreich, die jeweiligen Sprachen zu sprechen.

Besonders umweltbelastend beim Reisen ist das Fliegen.

Meine Umweltbilanz ist da nicht sehr gut. Aber ich fliege heute viel weniger als früher, und habe dabei nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Ich reise heute mehr an Orte, die über Land erreichbar sind. Das deckt etwa ein Gebiet von hier bis Slowenien ab. Dafür gibt es wunderbare Nachtzüge. So versuche ich mein Umweltbewusstsein konsequenter umzusetzen. Das ist in der Schweiz natürlich leichter als überall sonst auf der Welt. Bei den Treffen mit Vertretern anderer Alpenkonventionsstaaten sind diese immer beeindruckt vom öffentlichen Verkehrsangebot der Schweiz.

Seit vielen Jahren setztest du dich für den Schutz des Mont-Blancs ein. Weshalb braucht er diesen Schutz?

Meinen indigenen Freundinnen und Bekannten sage ich immer: "Auch wir haben einen heiligen Berg, nämlich den Mont-Blanc." Er ist das Scharnier und der höchste Gipfel der Alpen, mit einer ungeheuren Vielfalt an Gletschern und Gesteinsformationen. Er ist ein Klimapuffer, ein Hotspot der Artenvielfalt und ein Wasserreservoir und natürlich ein „Kapital“ für den Tourismus. Das Problem ist, die richtige Balance zwischen Schützen und Nutzen zu finden und dieses „Kapital“ auch für die Zukunft zu erhalten. Millionen von TouristInnen besuchen heute den Mont-Blanc. Dafür wurden Seilbahnen, Zugverbindungen und die ganze touristische Infrastruktur inklusive Zweitwohnungen gebaut. Schutzgebiete lassen sich in boomenden touristischen Gebieten heute schwieriger verwirklichen als in in ärmeren peripheren Gebieten mit wenigen Menschen und ohne wirtschaftliche Alternativen. Am Mont-Blanc hat zum Beispiel die Compagnie du Mont-Blanc, der Seilbahn-Betreiber, die beherrschende ökonomische Machtposition, an der auch die Politiker nicht vorbei regieren können.

Die Ansässigen könnten sich, so sie wollten, gegen diese Entwicklung wehren, es gibt schliesslich Mitbestimmungsrechte.

Da kann die Bevölkerung ihren Volkswillen noch so ausdrücken, die Compagnie du Mont-Blanc, die in Frankreich und Italien operiert, macht letztlich doch, was sie will. Der Bürgermeister von Chamonix war eine Zeitlang im Vorstand. Offiziell, um zu verhindern, was nicht nachhaltig ist. Aber es stellte sich heraus, dass er einen reinen Alibiposten besetzte und nichts zu sagen hatte. Die Compagnie setzt sich zwar nicht direkt über Gesetze hinweg, aber sie biegt deren Grenzen. Entweder werden die Grenzen des Naturschutzgebiets verändert oder die Compagnie baut so nahe heran, dass das ökologische Gleichgewicht ohnehin zerstört wird.
Und dann gibt es immer diese künstlichen Sachzwänge: Wir haben jetzt einen Lift, also müssen wir die Hänge beschneien. Wir haben jetzt einen Beschneiungsapparat, also brauchen wir künstliche Wasserbecken. Dann brauchen wir mehr Ferienwohnungen, um Leute anzuziehen, dann braucht es bei den Liften eine Kapazitätserhöhung. Es ist ein Teufelskreis von Profit und Auslastung.

Im Dachverband ProMONT-BLANC vertrittst Du Mountain Wilderness Schweiz, wo du seit 15 Jahren Vorstandsmitglied bist. Arbeiten Mountain Wilderness und ProMONT-BLANC auch mit Unternehmen zusammen?

Mountain Wilderness arbeitet punktuell mit Anbietern von Wander- und Kletterreisen oder anderen Freizeitunternehmen zusammen. Aber auch mit verschiedenen Klein- und Kleinstanbietern, die für interessierte Wanderer einen Langsamtourismus im Schweizer Mont-Blanc-Gebiet ermöglichen. Auf Französisch nennen wir das "Butiner", was die Biene beschreibt, die von Blüte zu Blüte fliegt, um den Nektar zu sammeln. Wir bieten Karten mit Wanderungen zum Älpler, der Käse macht, zum Kuhglockengiesser, zum Accompagnateur de moyen Montagne, dem Naturführer in den Alpen. All diese Angebote, die aus den Hochglanzprospekten herausfallen, haben wir in kommentierte Karten reingepackt. Das ist ein Versuch, die Besucherinnen und Besucher mit der Lokalbevölkerung und der Landschaft in Kontakt zu bringen. Es ist immer noch eine Minderheit von Feriengästen, die auf dieses Angebot anspricht, aber es ist ein Anfang. ProMONT-BLANC und Mountain Wilderness diskutieren auch mit verschiedenen Sportartikelherstellern. Das ist immer eine Gratwanderung: Einerseits brauchen wir Geld, um uns für die nachhaltige Nutzung und den Schutz der Berge zu engagieren, andererseits regen Sportartikelunternehmen die Leute zum Teil auch an, Berge als blosse Sportarena zu benutzen. Es gibt aber einzelne Sportartikelunternehmen, die mit eigenen Stiftungen in die Nachhaltigkeit des Bergsports investieren.

Braucht es eine Begrenzung des Tourismus?

Es braucht einen Baustopp für neue Bahnen. Schlimm ist allerdings, dass sie dann einfach woanders gebaut werden, zum Beispiel im Kaukasus, sogar in den dortigen Nationalparks. Aber es muss Grenzen des Tourismus geben, der Tourismus muss nachhaltiger werden! Immerhin wächst das Bewusstsein, dass solche Grenzen bestehen. Vorher dachte man, es ist ja genug Platz da.

Was wären die Meilensteine für eine nachhaltige Tourismusentwicklung?

Da gäbe es viel zu sagen. Zum Beispiel: wieder mehr in die Tiefe gehen statt in kurzer Zeit ein Riesenbesuchsprogramm zu absolvieren. Die Hoteliers wollen doch auch lieber langfristige und möglichst wiederkehrende BesucherInnen. Die Feriengäste sollten nicht nur im Hotelareal bleiben. Oft kreieren die Investoren eigene Ferienlandschaften – mit Süsswasserpools direkt am Meer! Aber die lokale Kultur und Sozialstruktur sollte nicht zerstört, sondern respektiert und ohne Verfälschung in das Angebot mit einbezogen werden. Es sollte das Unverwechselbare gepflegt, nicht ein Resort wie jedes andere gebaut werden.

Wie siehst du die Rolle von fairunterwegs.org bei der Erreichung dieser Ziele?

Es braucht diese Sensibilisierung: bei den Anbietern, in den Nachhaltigkeitsabteilungen der Reiseveranstalter, überall in den Prospekten, damit die Kunden und Kundinnen erinnert werden, dass es auch in den Ferien nicht nur darum geht, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Leute, die auf fairunterwegs.org kommen, haben vermutlich schon ein Bewusstsein dafür. Wichtig ist, dass sie das auch weitergeben. Ich schicke zum Beispiel bestimmte fairunterwegs-Meldungen oder gleich den ganzen Newsletter unter anderem auch an Leute, von denen ich weiss, dass sie überhaupt nicht auf diesem Trip sind. Es ist gut, dass ihr vernetzt arbeitet, auch mit anderen tourismuskritischen Organisationen und mit Anbietern, die sich wirklich für Nachhaltigkeit engagieren. Die "Augen auf beim Ferienkauf"-Kampagne finde ich wichtig: Die Kundschaft kann und soll viel mehr die Auswahl an Angeboten beeinflussen.

Wirst du nach Tadschikistan ins Pamir-Gebiet reisen?

Ich weiss nicht, ob ich das jemals schaffen werde. Im Moment jedenfalls geht es nicht. Alle finden es erstaunlich, dass ich noch nicht dort war. Tadschikistan ist sicher faszinierend, ist aber noch nicht richtig entdeckt, und es bräuchte durchaus nachhaltigen Tourismus. Denn das Land hat nach dem Zerfall der UDSSR sehr gelitten. Es steckt voller landschaftlicher und kultureller Reize. Tadschikistan zu durchwandern wäre schon ein Traum.


Von Barbara Ehringhaus empfohlene Bücher:
Robert Middleton, Huw Thomas (Autoren), Monica Whitlock (Künstlerin): Tajikistan and the High Pamirs: A Companion and Guide (Odyssey Tajikistan & the High Pamirs) Odyssey Pubn Ltd; Auflage: 0002 (17. September 2011). 719 Seiten, EUR 26.60, CHF 44.90, ISBN 978-962217-818-2

Cees Nooteboom: Geflüster auf Seide gemalt. Suhrkamp Verlag, 2012, 286 Seiten CHF 17.90, EUR 9.99 ISBN 978-3-518-45997-3
Flüeler, E./Diemer, M./Volken M. (Hrsg.). Wildnis. Ein Wegbegleiter durchs Gebirge. Mit Beiträgen namhafter AutorInnen, unter anderem Barbara Ehrinhaus. 1. Aufl. 05.2004. 272 S., 25 farb. Abb. – 20,4 x 13,5 cm. ISBN 3-85869-276-X. CHF 42,00  EUR 24.00. Erhältlich bei Mountain Wilderness