Fair unterwegs mit Beat Dietschy, Theologe und Entwicklungsexperte
Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?
Es sind verschiedene Autoren, die mir viel bedeuten: Ich wurde sehr beeinflusst durch den Philosophen Ernst Bloch. Er schickt einen auf die Reise. "Ab zu Schiff" lautet zum Beispiel der Titel eines Kapitels aus seinem Buch "Das Prinzip Hoffnung". Das Reisemotiv ist bei ihm ausgeprägt, wie auch beim Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder noch stärker bei Johann Wolfgang von Goethe. Doch auf Fahrt sein und entdecken hat nicht nur mit purer Lust zu tun, sondern damit, dass ich weg muss von wo ich bin und wie ich bin. Dass ich ausbrechen muss aus der kleinbürgerlichen Enge. Dieses Motiv geht querbeet durch seine Philosophie und Literatur. Schon als Kind war er – und ich auch – gefesselt von Karl May, von Sindbad dem Seefahrer aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht, oder auch den Erzählungen und Märchen des Romantikers Wilhelm Hauff.
Ernst Bloch hat auch eigentliche Reiseerzählungen geschrieben. Einige, die er in den späten Zwanziger- und frühen Dreissigerjahren schrieb, wurden 2008 neu im Sammelband "Der unbemerkte Augenblick" herausgegeben. Ich lese sie immer wieder gerne. Es geht ihm just nicht darum, dass man wegreisen muss, um etwas über das Leben herauszufinden. Im Erzählband "Spuren" gibt es die Geschichte der zwei Freunde Bernhard und Simon, die sich in einem Berliner Kaffee zum Schachspiel treffen. Da alle Tische besetzt sind, setzen sie sich zu zwei Schachspielern. Diese lassen sich nicht stören. Da wettet Bernhard, der sich langweilt, fünf Reichsmark auf den einen Schachspieler, und Simon fünf Mark auf den Gegner. Nach einer Weile gesellen sich die anderen Anwesenden dazu und beteiligen sich an den Wetten. Die Rufe der Zustimmung und Kritik zu den einzelnen Zügen werden lauter. Irgendwann können sich die beiden Schachspieler dem nicht mehr entziehen. Sie werden zu Rennpferden, zu Lohnarbeitern im kapitalistischen Dienst für die Freunde und die Wettenden, und fühlen sich auch so. Die Geschichte endet mit dem Satz: "Auch die Widerwilligsten nimmt das Kapital auf seine Flügel. Einigen scheint dies in der Tat eine Erhebung." Das ist eine Anspielung auf das Bildnis des Ende des 15. Jahrhunderts von Martin Schongauer gemalten Bildes vom "Heiligen Antonius", der von Dämonen in die Lüfte entführt wird. Das passt zu dem, was heute auf den Finanzmärkten abgeht.
Welches ist die zweite Station auf deiner Lesereise?
Es sind die Bücher zur Geschichte Lateinamerikas von Eduardo Galeano, zum Beispiel "Die offenen Adern Lateinamerikas", oder "Die Erinnerung an das Feuer". Man kann sie lesen wie eine Zeitung. Was wir zu den Bergwerken in Potosí lesen, lässt verstehen, was heute abläuft. Ohne Verständnis für die Geschichte, besonders auch die Geschichte von unten, ist ein adäquates Verstehen des heutigen Lateinamerika nicht möglich. Neben Galeano lese ich auch gern AutorInnen wie José Maria Arguedas, Gioconda Belli oder B. Traven, dessen Roman "Die weisse Rose" von der Ausbeutung von Indigenen in Chiapas durch Ölunternehmen erzählt – eine Geschichte von grosser Aktualität.
Und bevor du weiterfragst, nenne ich gleich noch die dritte Station der Lesereise: Es sind Werke, die noch weiter in die Vergangenheit zurückblicken, bis ins "Frührot der Menschheit", so hiess eins der Bücher, die ich als Kind verschlang. Ich erinnere mich noch an Bücher wie "Kannibalen der Eiszeit" oder "Auf der Fährte des Höhlenlöwen". Den Autor, Franz Heinrich Achermann, der Pfarrer in Kriens und Basel und auch Höhlenforscher war, hat man "Missionar der innersten Wildernis" genannt. Oder die Jugendbuch-Trilogie "Die Höhlenkinder". Die Geschichte beginnt 1683 im Stodertal nördlich des "Toten Gebirges" im heutigen Österreich. Eine Grossmutter, die der Hexerei bezichtigt wird, fliegt mit ihrer Enkeltochter zu deren Bruder. Auf dem Weg befreunden sie sich mit einem weiteren Waisenkind. Als die Grossmutter stirbt, leben die Kinder völlig auf sich allein gestellt in einer Höhle – praktisch wie Steinzeitmenschen. Anhand der Lebensgeschichte der drei Kinder lässt Autor Sonnleitner die Entwicklungsgeschichte der Menschheit von der Steinzeit über die Bronzezeit bis zur Eisenzeit vorüberziehen. Sie perfektionieren ihr Leben mit immer mehr Werkzeugen. Es ist ein altes Werk, zwischen 1918 und 1920 geschrieben, aber es fasziniert mich noch immer. Natürlich lese ich heute andere Autoren, die frühe Etappen der Menschheitsgeschichte verarbeiten. Sehr lieb sind mir beispielsweise Nagib Machfus› "Die Kinder unseres Viertels" oder "Kain" von José Saramago. Beide erzählen Geschichten, die uns aus der Bibel vertraut sind, aber sie tun das mit anderem Blick: Machfus schreibt aus der arabischen Perspektive, Saramago aus der eines atheistischen europäischen Kommunisten. Das bringt einen zu einem interkulturellen Nachdenken.
Findest du, wir leben in einer geschichtslosen Welt?
Das ist sicher so. Ich finde nicht, dass wir in die Vergangenheit oder in die Zukunft ausweichen sollten, aber ohne Blick zurück haben wir nicht die Kraft, die Gegenwart zu gestalten.
Warum fehlt vielen dieser Blick zurück?
Wir brauchen alle Aufmerksamkeit für ein Jetzt oder so viele Jetzt, die ständig auf uns niederprasseln wie ein Platzregen. Nichts kommt so mehr wirklich in den Blick. Es ist eine paradoxe Situation.
Welchen Freiraum braucht es, um sich diesem Platzregen zu entziehen?
Bücher sind für mich Möglichkeiten, Distanz zu mir zu schaffen. Der Blick des Autors kann helfen, den Kopf zu schütteln über Dinge, die man sonst gar nicht bemerken würde.
Eine andere Möglichkeit sind Reisen. Wenn ich woanders hingehe und das intensiv erlebe – also nicht einfach im Ausland dasselbe tue wie im Alltag – und dann zurückkehre in die alte Umgebung, gibt es eine Nahtstelle: An dieser Stelle merke und spüre ich plötzlich, wie Gewohntes gar nicht selbstverständlich ist. Vor allem, wenn ich mir für das Hin- und Zurückreisen genug Zeit nehme. Es muss nicht sein, dass das immer geschieht. Man muss fasziniert von etwas Neuem sein und dadurch gezwungen, das Gewohnte loszulassen. Nur dann können wir merken, dass Alltägliches nicht sein muss, wie es ist.
Was heisst für dich fair unterwegs sein?
Es heisst für mich, so als Reisender die Menschen und deren Lebenswelt anderswo zu begegnen, wie ich es von BesucherInnen meiner Heimat mir wünsche. Es ist klar, Reisen sind mit Problemen behaftet: Sie strapazieren die Umwelt, das Klima, oft kommen Menschen zu Schaden und meist können die Menschen am wenigsten reisen, die am ehesten Anspruch darauf hätten. Wir können aber die negativen Folgen unserer Reisen minimieren. Dafür gibt es ja viele Ansätze, etwa die Homestays – von denen zwar meist auch nicht die Ärmsten profitieren. Am wichtigsten ist mir aber, was ich mit dem Bewusstsein tue: Setze ich mich mit Achtsamkeit dem Fremden aus? Lasse ich zu, dass es mich verändert? Das kommt ja nicht von alleine. Als ich nach vielen Jahren wieder einmal nach Bolivien und Peru reiste, merkte ich, dass ich vieles schon interpretativ fixiert hatte. Da muss man mal das Kaleidoskop der Bilder im Kopf schütteln. Ich schätze es, wenn ich auf Reisen Gelegenheit habe, mich auseinanderzusetzen.
Anlass meiner letzten Reise war eine Tagung in La Paz mit Personen aus Bolivien und ganz Lateinamerika. Es ging ums "Vivir bien", einen Begriff, der in jeder indigenen Sprache eine etwas andere Bedeutung hat. Statt vieler Reden tauschten wir uns mit der Methode des "World Cafés" aus: Wir setzten uns mit TeilnehmerInnen an einen Tisch und kamen ins Gespräch, und nach einer halben Stunde wechselten wir an einen anderen Tisch, um mit anderen TeilnehmerInnen zu sprechen. So mussten sich alle mit allen auseinandersetzen: Leute aus Ministerien mit Minenarbeiterinnen, Akademiker mit Frauen aus Dorfgemeinschaften des Hoch- oder Tieflands. Einer erzählte, für ihn sei "Vivir bien", wenn man nach ein paar Stunden Feldarbeit Pause mache und miteinander das Mitgebrachte teile. So habe es immer genug für alle. Diese Art des narrativen Austauschs ist hilfreicher, um herauszufinden, in welche Richtung man gehen möchte, als ein abstrakter Entwicklungsbegriff.
Brot für alle ist ja eine Entwicklungsorganisation. Wurde der Begriff "Entwicklung" an der "Vivir bien"-Tagung kritisiert?
Klar. Der Begriff ist mit einer Art Fortsetzung des Kolonialismus mit andern Mitteln verbunden und dem Gedanken, dass maximale Ausbeutung der Natur und der Menschen Reichtum erzeuge. So haben es die meisten in La Paz gesehen. Entwicklung ist in der Tat eng mit der Vorstellung verknüpft, die seit US-Präsident Harry S. Trumans Rede von 1949 im Grunde lautet "Werdet endlich, was wir schon sind". Es ist eine normative Fremdbestimmung. Und diese Vorstellung ist leider heute noch weit verbreitet.
Brot für alle hat schon seit den Anfängen die hiesigen Denkmuster hinterfragt, die andere zu dem machen, was sie – in unsern Augen – zu sein haben: Arme, Hilfsbedürftige oder Demokratieschüler. In der Ökumenischen Kampagne hat man Zeit, sich vertieft Gedanken zu machen. Die beliebten, oft aber auch aneckenden Bilder und Sprüche der "Agenda" sollen anregen zum "Sehen und Handeln". Das ist nötig, nur so können wir ungerechte Machtverhältnisse ändern, mit denen wir oft unwissentlich verbunden sind. Beispiel Fleischkonsum: Wir essen den Bauern im Süden ihr Land weg. "Euer Vieh frisst unser Saatgut", hat ein Indio gesagt. Übrigens um 1565 – die Geschichte wiederholt sich.
Und wie sollen wir handeln?
Das muss jede und jeder selber wissen. Mann oder Frau kann uns (Brot für alle) zum Beispiel helfen, die menschenrechtlich fragwürdigen Praktiken von Schweizer Firmen in Ländern des Südens öffentlich zu machen und Druck aufsetzen, damit sie zu Dialog und Änderungen bereit werden. Oder es kann heissen, weniger Fleisch zu essen. Denn das Soja, mit dem die Tiere gefüttert werden, verschlingt riesige Land- und Wasserressourcen in Ländern wie Haiti oder Paraguay.
Auch das fairunterwegs-Reiseportal möchte die Reisenden zu Verhaltensänderungen ermutigen. Wie gefällt es dir?
Es ist genial, wie ihr auch mal vagabundiert, weg von den Trampelpfaden der simplen Reisebürokritik hin zu menschenrechtlichen Prinzipien oder eben zu einer Lesereise. So holt ihr Leute aus verschiedenen Ecken ab und seid nicht so instrumental. Es geht eben auch hier ums "Vivir bien", das gute Zusammenleben und was es beinhalten könnte. Da muss man quer denken, und eher Fragen stellen als Antworten geben. Von daher hat fairunterwegs einen hohen Anspruch, den es aber auch einlöst.
Empfohlene Bücher:
Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer E. Zimmermann (Hrsg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2012, 500 Seiten, CHF 202.40; EUR 149.95; ISBN 978-3-11-02057-25
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 1985. 1654 Seiten, CHF 46.50, EUR 28.00, ISBN 978-3-518-28154-3
Ernst Bloch: Spuren. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2009. 219, CH 1340, EUR 9.00; ISBN 978-3-518-28150-5
Eduardo Galeano: Die offenen Adern Lateinamerikas. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2009, 409 Seiten, CHF 29.50; EUR 16.90; ISBN 978-3-7795-0271-5
A. Th. Sonnleitner: Die Höhlenkinder – Im heimlichen Grund. Omnium Verlag, München 2012, 146 Seiten, CHF 18.90, EUR 12.90; ISBN 978-3-942378-48-2
Nagib Machfus: Die Kinder unseres Viertels. Unionsverlag, Zürich 2011, 571 Seiten, CHF 23.90, EUR 12.90; ISBN 978-3-293-20378-5
José Saramago: Kain. Btb Taschenbuch, München 2012, 174 Seiten, CHF 14.90, EUR 9.99; ISBN 978-3-442-74286-8