Welches Buch führt Sie auf die intensivste innere Reise?

Es fällt mir gar nicht so einfach, mich festzulegen. Im Sommer habe ich von John Irving "Letzte Nacht in Twisted River" gelesen. Es ist die Lebensgeschichte eines Kochs in einer Holzfällersiedlung und seines Sohns, die über fünf Jahrzehnte spannt. Wegen eines Unfalls werden sie gesucht und fliehen vom Norden in den Süden von New Hampshire, dann nach Vermont und schliesslich nach Kanada. Irving schafft es dank grandioser Erzählkunst und Sprache, die Lebensumstände derart greifbar darzustellen, dass die Handlungen der Beteiligten verständlich werden. Ich kann nachvollziehen, wie sie fühlen und was sie antreibt. Das ist nur möglich dank Irvings grosser Liebe zu den Charakteren.

Bücher des Deutschen Autors und Musikers (Element of Crime) Sven Regener, zum Beispiel "Neue Vahr Süd", faszinieren mich aus dem gleichen Grund. Sie bringen mir Menschen aus ganz unterschiedlichen, zum Teil auch schrägen Berliner Milieus näher.

Nützt Ihnen das Verstehen von Menschen unterschiedlichster Milieus in der Politik?

Ohne das wäre ich verloren in Bern. Ich bin ein urbaner Mensch. Der Durchschnitt der PolitikerInnen in Bern ist aber ländlich geprägt. Viele vertreten Alpenkantone. Es ist gut, ihr Handeln vor ihrem Hintergrund zu verstehen, etwa bei Diskussionen über das Jagd- oder Landwirtschaftsgesetz. Diese Menschen treiben ganz andere Themen um als mich. Etwa wenn es um die Initiative des Mieterverbands geht. Ein hoher Anteil der National- und Ständeräte sind Hausbesitzer, viele wohnen in ländlichen Gegenden mit hohem Wohnungsleerstand und haben nicht im Blick, wie schwierig die Lage für MieterInnen in den Städten ist.

Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist städtisch, sagt das Bundesamt für Statistik. Nur der Mythos Schweiz sei ländlich, die Realität aber städtisch, mahnt der Verein Metropole Schweiz. Ist die städtische Schweiz in der Bundesversammlung unterrepräsentiert?

Ja, das ist sie. Der Bauernverband hat deutlich mehr Einfluss als der Städteverband. Wenn Markus Ritter, der Bauernverbandspräsident, etwas sagt, nimmt er die ganze CVP mit, und die SVP buhlt auch um die Stimmen der Landwirtschaft. Das reicht, um Geschäfte durchzubringen. Demgegenüber fehlt der urbanen Bevölkerung eine einflussreiche Lobby.

Was heisst für Sie fair unterwegs sein – im Alltag und auf Reisen?

Die SP hat gerade ein Positionspapier verabschiedet. Die Bündner Sektion hatte schon länger eines, aber für die SP Schweiz ist es meines Wissens das erste. Die Tourismusbranche in der Schweiz ist auf dem Irrweg. Sie macht noch zu sehr auf Masse, auf Winter-Ski-Tourismus und auf Grossevent-Tourismus. Schon heute ist klar, dass der herkömmliche Wintertourismus vielerorts keine Zukunft hat. Trotzdem wird er krankhaft mit Schneekanonen und Bahninvestitionen forciert. Der Tourismus muss nachhaltiger werden. Im Positionspapier gibt es einige Verbesserungsvorschläge. Darunter natürlich auch die Flugticketabgabe und der Ausbau der Nachtzüge. 

Aber was heisst fair unterwegs sein in Ihrem persönlichen Alltag und Urlaub?

Velo fahren. Zug fahren. Ich besitze kein Auto – Autos sind umweltschädlich, ineffizient und stehen dem Erkenntnisgewinn im Weg, weil man unterwegs nichts erlebt. Dabei reise ich total gern, weil man dabei viel lernen kann unter anderem über sich selbst. Interessante, weise Menschen werden als erfahren und bewandert bezeichnet. Das ist auch der Grund warum mich der Begriff "Mobility Pricing" nervt. Mobilität ist etwas Gutes und Wichtiges, wenn sie zu Erkenntnisgewinn, "geistiger Mobilität" führt. Deshalb müssen wir die negativen Auswirkungen (CO2, Bodenverbrauch) bepreisen, nicht die Mobilität.

Ich fliege auch. Meine Partnerin stammt aus den Vereinigten Staaten. Und vor 30 Jahren arbeitete ich für Helvetas in Paraguay und Haiti. Für mich war das die schönste Art, in neue Welten einzutauchen, weil ich Menschen begegnete, die mir die Türen zu ihrem Alltag öffneten. Das waren Erlebnisse, die mich persönlich weiterbrachten.

Das heisst, ich muss auch innerlich auf andere Lebenswelten zugehen? Wie geht das?

Ein Beispiel. Ich sass mit Mitarbeitern in Paraguay immer wieder nach der Arbeit am Lagerfeuer. Nach einiger Zeit öffnete sich einer und erzählte mir, dass er unter der Stroessner-Diktatur gefoltert worden sei. Doch er liebe sein Land. Das hat mich fasziniert. Während die Schweiz mir als Arbeiterkind eine unbeschwerte Jugend und eine ausgezeichnete Ausbildung ermöglichte, musste er in seiner Heimat grosse Entbehrungen erleben. Trotzdem war er und nicht ich der feurige Patriot. Ich denke, dieser Kollege in Paraguay hat dazu beigetragen, dass ich später in die Politik ging.

Er hat mir die Augen für einen gesunden Patriotismus geöffnet. Seine Heimat zu lieben und sie verändern zu wollen ist kein Widerspruch, im Gegenteil. Es gehören zusammen. Vieles an der Schweizer Politik und ihrer Geschichte gefällt mir nicht. Die Schweiz ist zu sehr auf sich selbst bezogen. Aber ich liebe beispielsweise die Demokratie, den sozialen Ausgleich, das starke Gemeinwesen – alles linke Errungenschaften. Im Oktober erscheint das Buch "Unsere Schweiz. Ein Heimatbuch für Weltoffene", herausgegeben von Matthias Zehnder, Guy Krneta und mir. Wir haben Persönlichkeiten der Schweiz wie Franz Hohler, Ruth Schweikert oder Knackeboul um Textbeiträge zur Schweiz gebeten. So wollen wir den Heimatbegriff von der nationalkonservativen Besetzung zurückerobern. Für die Entwicklung meiner Heimatliebe waren meine Reisen wichtig.

Du stellst dich wieder zur Wahl in den Nationalrat. Wie hilfst du der Schweizer Wohnbevölkerung fair unterwegs zu sein im Alltag und auf Reisen?

Natürlich sind mir als Umweltwissenschaftler der Klima- und Umweltschutz ein vordringliches Anliegen. Das geht über strengere Regeln zum Schutz der natürlichen Ressourcen aber auch über Investitionen für mehr Lebensqualität im Land. Je wohler es den Menschen Zuhause ist und je mehr schöne Erfahrungen sie in ihrem Umfeld machen, desto weniger flüchten sie in die Ferne. Es braucht Grün-, Begegnungszonen und lebendige Kulturangebote. In Basel gibt es etwa das Gundeldinger Feld, eine umgenutzte Fabrikanlage, in der man sich einfach wohlfühlt, weil sie mit Pergolas, Fassadenkletterpflanzen, Blumenkisten und Topfbäumen begrünt wurde und mit Handwerks- und Kunst-Ateliers, kulturellen, gastronomischen und weiteren Angeboten viel Attraktives fürs Quartier bietet.

Gerhard Curdes, emeritierter Professor für Umweltplanung und Regionalentwicklung, beschreibt die Struktur der alten Städte. Im Mittelalter war der Weg immer ein Teil des Ziels. Städte boten auf ihren öffentlichen Plätzen etwas für die Reisenden, wie Brunnen, Bänke, Schatten, kulturelle Angebote. Doch in den 70er- und 80er-Jahre wurde dies völlig vernachlässigt und alles aufs Auto ausgerichtet, eine Planung quasi von Garage zur Garage, unattraktiv für Fussgänger oder Velofahrerinnen. Das müssen wir wieder korrigieren. Wichtige Routen müssen so gestaltet werden, dass man am liebsten dort geht oder radelt und gerne aufs Auto verzichtet. 

Im Sommer gefällt es mir am besten in Basel. Die Belebung des Rheinufers war eine wichtige Errungenschaft und ebenso das Gewässerschutzgesetz, für das wir im Ausland beneidet werden, auch wenn es noch Raum für Nachbesserung gibt. Aber letztlich ist die Wasserqualität in unseren Gewässern, nicht zuletzt dank Volksentscheiden, jetzt so, dass man überall baden kann und als Basler in der Freizeit nicht das Weite sucht.

Wie gefällt dir das fairunterwegs-Reiseportal?

Es gefällt mir sehr. Ich freue mich, dass es Menschen gibt, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und Reisenden die Möglichkeit geben sich zu orientieren. Es ist gut gemacht. Von 2010 bis 2014 war ich Geschäftsführer des Schweizer Forums für nachhaltige Entwicklung eco.ch. Heute bin ich noch Präsident von dessen Trägerverein. In diesem Zusammenhang hatte ich ab und zu auch Kontakt zu eurer Geschäftsleiterin, Christine Plüss. Ich bin froh, hat fair unterwegs – arbeitskreis tourismus & entwicklung so viel Know-how und hilft der Reisekundschaft, hinter die Glanzwelt der Reisewerbung zu blicken.  

Empfohlene Literatur

John Irving: Letzte Nacht in Twisted River. Roman, aus dem Englischen übersetzt von Hans M. Herzog, Diogenes, Zürich 2012, 732 Seiten, CHF 21.90, EUR 13.90, ISBN 978-3-257-24099-3   

Sven Regener: Wiener Strasse. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 304 Seiten, CHF 17.90, EUR 12,  ISBN 978-3-462-05286-2  

Zehnder, Matthias / Jans, Beat (Hrsg.) / Krneta, Guy (Hrsg.): Unsere Schweiz. Ein Heimatbuch für Weltoffene. Zytglogge, Basel Oktober 2019, 200 Seiten, CHF 33.00, ISBN 978-3-7296-5029-9 

Gerhard Curdes: Urban morphology and climate change. Which morphology can survive? 17th Conference International Seminar on Urban Form- ISUF -“Formation and Persistence of Townscape” Hamburg and Lübeck, Germany, ISUF, 2010-08-20 – 2010-08-23

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