Fair unterwegs mit Caroline Morel, Entwicklungsexpertin
Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?
Es ist nicht nur eines. Unter anderem fasziniert mich "Die bewohnte Frau" von Gioconda Belli. Über die lebendig erzählte Geschichte einer Frau erlebt man die Revolution. Nicaragua ist ja eines der wenigen Länder, in der eine Diktatur erfolgreich gestürzt wurde. Das Werk vermittelt einen Einblick in historische Ereignisse ab den sechziger und siebziger Jahren. Lavinia, die Hauptperson, schliesst sich der Widerstandsbewegung an, auch um gegen ihre Rolle als Bürgerliche und als Frau zu rebellieren. Auf ihre Weise unterstützt sie die Revolution. Das Buch lässt die damals in diesem Land spürbare Begeisterung und Kraft wieder aufleben, aber auch den Glauben der jungen Frau an die Zukunft.
Doch die Revolution fand irgendwann ein Ende.
Das Buch von Gioconda Belli hört auf, bevor die Revolution endet. Es kam die von den Vereinigten Staaten finanzierte Contra-Bewegung auf, was zum Bürgerkrieg führte. Die sandinistische Regierung machte Fehler. Spätere Werke von Belli waren auch kritisch, sie schrieb über ihre Enttäuschungen. Heute, nach dreissig Jahren, ist man ernüchtert; viele der damaligen Ideen wurden nicht realisiert.
Und das zweite Buch?
Rohinton Mistry: Das Gleichgewicht der Welt. Auch dieses Buch führt uns in die siebziger Jahre zurück und zeichnet anhand der Geschichten verschiedener Persönlichkeiten ein Sozialporträt von Indien. In der Dekade von 1975 bis 1984 verhängte Premierministerin Indira Gandhi einen nationalen Ausnahmezustand wegen verschiedener ethnischer und religiöser Konflikte, die 1984 schliesslich zu ihrer Ermordung führten. Die historischen Realitäten werden aus der Perspektive von Angehörigen verschiedener Kasten beleuchtet. Da ist Dina Shroff, die Tochter eines Arztes, die zur Witwe wird und mit einer Schneiderei ihren Lebensunterhalt verdienen will. Und da sind Ishvar und Omprakash aus einer hinduistischen Gerber- und Abdeckerfamilie, die beim muslimischen Schneider Ashraf Chacha eine Schneiderlehre machen. Diese Hauptpersonen versuchen immer aufs Neue, aus ihrem Leben etwas zu machen, doch der gesellschaftliche Druck, die Probleme mit der Polizei und eine ungerechte Politik werfen sie immer wieder zurück. Das Buch zeigt auch die korrupten Verhältnisse in der indischen Gesellschaft und ihren Behörden.
Dieses Auf- und Ausbrechen und Zurückgeworfenwerden zieht sich durch beide Bücher: Ist das auch für dich persönlich ein Thema?
Es ist eines der wichtigsten Themen: Wie lässt sich die Gesellschaft verändern? Wie kann man die Situation verbessern? Es braucht nicht gleich eine Revolution zu sein. Aber wie kann man die Entwicklung positiv weiter gestalten? Es braucht durchaus individuelle Strategien, damit Einzelne ihr Leben verändern, aber es braucht ebenso die gesellschaftlichen Veränderungen. Das ist auch unsere Arbeit.
Etwa in Nicaragua: Hat Swissaid dort die Revolution unterstützt?
Genau darum ging es. Swissaid war immer sehr politisch. In Nicaragua war die Revolution klar der Ursprung unseres Engagements. Ebenso in Tansania oder in Guinea-Bissau oder in Myanmar, wo wir unsere Tätigkeiten nach den damaligen Studentenunruhen aufnahmen. Anders in Niger und Tschad, wo uns die Hungerkatastrophen zu einem Engagement veranlassten. Wir machen nie Parteipolitik, auch wenn wir thematisch Partei ergreifen: für die Ärmeren, Marginalisierten, Indigenen, Frauen, Kleinbauern. Sobald eine zivilgesellschaftliche Organisation Parteipolitik macht, gerät sie in Verruf. Sie vertritt dann allzuoft eigene Interessen, und nicht mehr die der Basis der Zivilgesellschaft.
Ist es die Empörung über das Unrecht, das dich antreibt?
Es geht tiefer. Es ist die Frage, warum ich so reich bin und andere so arm. In der Entwicklungszusammenarbeit unterstützen wir die Menschen auf ihrem eigenen Weg. Kleinbauern helfen wir, ihre Organisationen so zu stärken, dass sie auf die Politik in ihrem Land Einfluss nehmen und ihre Bedürfnisse einfordern können. Das fehlt in den meisten Entwicklungsländern. Erst recht für Frauen. Wir unterstützen eine Entwicklung von unten. Da geht es vom rechtlichen Gehör bis zu Gesetzesänderungen. Zum Beispiel um nationale Gesetze zum Schutz der Saatgutvielfalt und der Biodiversität.
Wo ist die Arbeit von Swissaid erfolgreich?
Die schnellsten Fortschritte sind auf der lokalen Ebene bei den Entwicklungsplänen zu verzeichnen. Auf nationaler Ebene kommt es sehr auf die Regierung an, ob die Stimme der ländlichen Bevölkerung gehört wird oder nicht. Aber in den letzten Jahren ist die Zivilgesellschaft stärker geworden und kann ihre Interessen besser vertreten. In Indien gab es zum Beispiel eine breite Kampagne von Bauern und Konsumentinnen gegen die Zulassung von sogenannten BT-Auberginen, also die von Monsanto mit indischen Forschungsinstituten gemeinsam entwickelte genmanipulierte Aubergine. Aufgrund des massiven Widerstands in zehn Gliedstaaten verhängte die Bundesregierung 2010 ein Moratorium.
Dieses Jahr bist du Präsidentin von AllianceSud: Was hast du dir als Ziel vorgenommen?
Das grosse Ziel für dieses Jahr ist es, die Botschaft über die internationale Zusammenarbeit der Schweiz durch den Ständerat zu bringen. Es sieht eigentlich gut aus: Im Nationalrat erhielt diese Botschaft eine gute Zustimmung, und auch die vorberatende Kommission des Ständerates begrüsst sie. Es geht dabei unter anderem um die Erhöhung der Entwicklungsgelder auf 0,5 Prozent. Das war mit ein Erfolg der Kampagne von 2007 "0,7 Prozent – gemeinsam gegen die Armut" verschiedener entwicklungspolitischer Organisationen der Schweiz, darunter auch AllianceSud, Swissaid und der arbeitskreis tourismus & entwicklung.*
Was heisst für dich fair unterwegs sein?
Der soziale Aspekt steht für mich im Vordergrund, Stichwort "faire Preise zahlen". Ich wünschte mir, die im Tourismus Beschäftigten könnten unter fairen Bedingungen arbeiten und mit dem Lohn für ihre Arbeit in Würde leben. Das heisst für Reisende, die fair unterwegs sein wollen, dass das Hotel halt etwas kostet und dass man Trinkgeld gibt. Schliesslich geht es aber um das ganze Dreieck der Nachhaltigkeit, also auch um Wirtschaftlichkeit und Ökologie. Und um die Energieeffizienz, indem zum Beispiel die Frotteetücher weniger oft gewaschen werden. Für die Lokalbevölkerung braucht es Arbeitsplätze und Möglichkeiten, ihre Waren zu verkaufen. Sie sollen von einem Tourismus profitieren können, der ihre Umwelt nicht schädigt.
Wie fair bist du selbst unterwegs?
Ich bin sehr oft in den Bergen mit dem Zelt unterwegs. Nicht in bewohnten Gebieten, aber doch in Kontakt mit der lokalen Bevölkerung. Zwischendurch übernachte ich in einem Dorf im Hotel, möglichst einem, das ökologisch wirtschaftet. Aber man weiss halt nicht immer, wie gut es das Hotel hält mit den Arbeitsbedingungen und dem Umweltschutz.
Wichtig ist für mich der Respekt. Wer reist, soll sich vorher über das Land informieren. Wie wird die Kultur konkret gelebt? Wenn ich nach Pakistan reise, sollte ich wissen, dass ich langärmlige T-Shirts tragen und die Knie bedecken sollte. Das Land muss sich nicht am mich als Touristin anpassen, sondern ich mich an die Kultur des Landes.
Welche Chancen siehst du für mehr Nachhaltigkeit im Tourismus?
Kürzlich war ich als Mitglied einer beratenden Kommission für internationale Zusammenarbeit in Tunesien. Das Gros der Touristinnen und Touristen macht dort in geschlossenen Wertschöpfungssystemen Urlaub. Also in einer Ferienanlage, wo praktisch alles, was die Feriengäste zahlen, an die internationale Hotelkette und den Reiseveranstalter geht. Dabei hat Tunesien ein grosses Potenzial für einen Ökotourismus, von dem das Land und die Bevölkerung stärker profitieren. Da braucht es entsprechende Programme und Ansätze.
Leistet fairunterwegs.org deiner Meinung nach dazu einen Beitrag?
Wichtig ist die Sensibilisierung und Information der Ferienreisenden, die sich auf fairunterwegs.org aktuell über politische Prozesse und Diskussionen auf dem Laufenden halten können. Für die Reisevorbereitung sind die Länderinfos, aber auch die Literaturhinweise sehr gut. Nützlich sind auch die Übersicht über die Gütesiegel und die Vorstellung von besonders guten und besonders schlechten Geschäftspraktiken im Tourismus. Das spricht auch die Branche an, die sich auf fairunterwegs.org mit guten Initiativen profilieren kann – oder aber riskiert, auch mal Kritik einstecken zu müssen.
Du verreist am Wochenende: Wohin führt die Reise?
Nach Nicaragua. Dort werde ich Partner und Projekte besuchen.
*Gestern hat der Ständerat den Rahmenkredit für die Entwicklungszusammenarbeit 2013-2016 bewilligt. Das politische Seilziehen zwischen der breiten Allianz aus 70 Hilfswerken, Frauen, Jugend und Umweltverbänden, die mit 200’000 Unterschriften im Rahmen der Kampagne "0,7 Prozent – gemeinsam gegen die Armut" eine Erhöhung der Entwicklungshilfe fordert, und dem Wirtschaftsdachveband economiesuisse, der in letzter Sekunde versucht hatte, die Räte mit fiskalpolitischen Argumenten zu Kürzungen zu bewegen, findet damit ein Ende./ Quelle: www.alliancesud.ch
Von Caroline Morel empfohlene Bücher:
Gioconda Belli: Bewohnte Frau, dtv, München 2011, 445 Seiten, CHF 15.90, EUR 10.00, ISBN 978-423-19516-4
Rohinton Mistry: Das Gleichgewicht der Welt, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2011 (Neuauflage auf Ende September 2012 geplant), 862 Seiten, CHF 18.60, EUR 9.95, ISBN 978-596-14583-6