Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?

Ich hatte diesen Sommer viel Zeit, um einen 900-seitigen Schmöker zu lesen, der schon seit Langem auf meinem Büchergestell steht: "Pasolini Requiem" von Barth David Schwartz. Es ist eine sehr komplette Biografie, und sie ist so faszinierend! Pasolini war nicht einfach ein rauer Zeitgenosse, wie es einige seiner Filme vermuten lassen. Er war ja auch nicht nur Filmemacher, sondern auch Dichter und politischer Kommentator. Er war getrieben von starken Werten. Das hat mich angesprochen. Zudem habe ich mehr über Italien nach dem zweiten Weltkrieg erfahren, wie es sich entwickelt hat von damals bis hin zu Berlusconi. Pasolini hatte eine klare, auf seinen Werten begründete Sicht und vertrat seine Meinung. Er war nicht nur ein Antifaschist, sondern auch ein Antikommunist und ein Antiklerikaler – obwohl er selbst tief religiös war. Und er ging keine Kompromisse ein. Wichtig waren ihm Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit: Werte, die aktuell so wichtig sind. 

Weshalb? Fehlt es der Gesellschaft an Werten?

Ich finde, wir brauchen starke Werte. Viele Menschen denken überhaupt nicht darüber nach, welche Werte ihnen wichtig sind. Aber Ethik basiert auf Werten. Werte geben uns Richtung und Vision. Das ist besonders wichtig in dieser Welt, die wir in eine neue Richtung bringen müssen.

Aber ist Kompromisslosigkeit nicht auch eine Verhärtung?

Wenn sie auf Werten wie Liebe, Gerechtigkeit, Verantwortung und Ehrlichkeit beruhen, ist es gut, keine Kompromisse einzugehen. Es sind Qualitätswerte. Pasolini selbst war schwul und vertrat, dass jeder Mensch das Recht hat, sich selbst zu sein. Wollte das jemand zerstören, würde er sich ihm entgegenstellen. Schliesslich wurde er ermordet, weil er sich gegen Mächtige stellte und für die Benachteiligten eintrat. Als politischer Kommentator stand er ein für Transparenz, auch dann, wenn es dich angreifbar macht.

Was sind deine stärksten Werte?

Mein stärkster Wert ist die Gerechtigkeit. Aber noch über allen Werten steht für mich die Liebe: Tue alles mit Liebe und es wird gerecht, und ja, mit Liebe kann ich auch eher Kompromisse eingehen, denn Liebe macht mich weniger angreifbar. Ausserdem will ich verantwortlich und ehrlich sein – das sind meine Werte. 

Weshalb macht Liebe dich weniger angreifbar?

Weil ich dann immer in Verbindung stehe mit dem Leben.

Das klingt sehr philosophisch. Wie finde ich meine Werte?

Ich habe mich während meines Studiums der Kulturwissenschaften stark mit Philosophie befasst. In der Fachhochschule der Westschweiz unterrichte ich auch Ethik. Viele sehen nicht ein, wozu eigene Werte und Ethik gut sein sollen, man spricht eher noch von Achtsamkeit und Emotionaler Intelligenz.  Emotionen und Achtsamkeit können uns tatsächlich helfen, herauszufinden, was unsere Werte sind. Es ist das, was bei uns Emotionen triggert. Erst kommen die Emotionen, und dann kommt das Denken, das sie wieder etwas herunterkühlt.

Angenommen, ich habe meine Werte gefunden: Was verändert sich dadurch?

Werte sind der Motor, mit dem wir unser Handeln antreiben und in eine gute Richtung lenken. Ethik ist das Werkzeug, um unsere Werte zu leben. Wenn wir täglich üben, nach unseren Werten zu leben, wird es ein Teil von uns. So wie Aristoteles sagt: Sei kritisch und frage dich jederzeit, was die Konsequenzen deiner Handlungen sind. Dabei geht es etwa um bedeutungsvolle Beziehungen, um unseren Umgang mit anderen Menschen, mit Tieren oder mit der Natur generell. 

Bei Aristoteles geht es ums Glücklichsein.

Ja, die "Eudaimonia", also die gelungene, an Tugenden, wie informiert sein und Mass finden, ausgerichtete Lebensführung, soll gemäss Aristoteles glücklich machen.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Fair zu sein ist ein wunderbarer Wert. Es ist eine Tugend, respektvoll gegenüber anderen und gerecht zu sein. Mir gefällt das "Fair". Aber ich möchte es nicht nur mit dem Reisen verbinden, sondern mit dem Alltag. Wenn wir nicht in unserem täglichen Leben üben fair unterwegs zu sein, wieso sollten wir das dann im Urlaub tun?

Viele wollen sich im Urlaub nicht um etwas anderes als um ihr eigenes Glück kümmern.

Das heisst nur, sie müssen noch mehr lernen und üben. Fragt sich nur, wie man Menschen dazu bringt, das zu tun. Wenn man es ihnen einfach sagt, ist es etwas von aussen, dabei muss es von innen kommen. Aber immerhin ist es ein Anfang, die Menschen zu sensibilisieren für die Folgen ihres Handelns. Diese Sensibilisierung ist ein Investment von Menschen wie euch, von fairunterwegs – eine wichtige Arbeit, die ihr leistet.

Wie hat das Pasolini gemacht?

Mich sprechen vor allem Pasolinis Gedichte an. Sie sind so rein und schön und sprechen von einfachen Dingen. Pasolini glaubte aber, dass er über die starke Bildsprache in seinen Filmen die Menschen besser erreichen könne. 

Schlagwort "Build back better": Der Tourismus soll nach Corona nicht zum "Business-as-usual"zurückkehren, sondern mit höherer Wertschöpfung in den Destinationen und mehr Respekt vor den Belastbarkeitsgrenzen nachhaltiger werden. Führt ihr diese  Diskussion auch an der Westschweizer Fachhochschule HES-SO?

Ich kann da nicht für alle sprechen, aber bei uns behandeln wir das Konzept des bewussten Reisens, mit einem regionaleren, einfacheren, genügsameren Tourismus. So wie es Pasolini propagiert: Weniger ist mehr – zurück zum Puren. Er stammt aus einem kleinen Dorf im Veneto, schreibt über so einfache Dinge wie den Genuss der Wiesen und der Beziehungen. 

Wie kommt dieses "weniger ist mehr" bei den Studierenden an?

Ich habe vor zwei Wochen die Studierenden gefragt, ob wir nicht mit weniger glücklich sein können und die meisten haben gefunden, ja, das stimmt.

Gleichzeitig hört man von privaten Partys, wo gefeiert werde, als gäbe es kein morgen.

Für Jugendliche ist die Corona-Pandemie ein Stress; dieses immer vernünftig sein müssen. Sie möchten mal Druck ablassen. Um dieses Verlangen zu überwinden, braucht es Einsicht und Weitsicht. Das gleiche gilt beim Fliegen: Wir können nicht Jahr für Jahr herumjetten. Klar möchte ich gern nach Lappland und dort die Nordlichter bestaunen. Aber wir müssen seltener reisen und die Reisen dafür erfüllender gestalten. Meinen Studierenden ist schon klar, dass sie den Tourismus neu denken müssen. 

Wie gefällt dir fairunterwegs.org?

Ich nutze das Portal sehr häufig in meinen Klassen, etwa den Teil, wie die Menschenrechte in der Tourismuswirtschaft konkret besser respektiert werden können, gerade auch in fragilen Kontexten, etwa nach Bürgerkriegen oder Umweltkatastrophen. Es gefällt mir, das fairunterwegs eben weiter geht als nur zu sagen, was man tun soll, sondern die Nutzer an die Hand nimmt und bei der Umsetzung begleitet. Schade, dass es fairunterwegs nur auf Deutsch gibt! Es bräuchte fairunterwegs.org unbedingt auch auf Französisch! 

Barth David Schwartz: Pasolini Requiem. Englisch, 2. überarbeitete Auflage. The University of Chicago Press, 2017, 656 Seiten, CHF 34.90, Euro 30.82; ISBN 978-0-226-33502-5