Was hat dich dieser Tage auf die intensivste innere Reise mitgenommen? 

Was mich am meisten zum Weiterdenken animiert hat, war eine Serie von Webinaren, die während des Lockdowns in Indien unter anderem vom Indian Institute of Management in Ahmedabad angeboten wurden. Eines davon hiess "Labour 2020: Looking to the future: Voicing worker interests in a changing environment". In Indien führte der Lockdown zu einer Krise für die Arbeitsmigranten. Innert vier Stunden sahen sich Millionen von Frauen und Männern irgendwo fern von ihrer Heimat gestrandet, zum Teil tausend Kilometer vom Heimatdorf entfernt. Das zeigte die Situation der Arbeitsmigranten in Indien auf: Rund siebzig bis neunzig Prozent arbeiten im informellen Sektor ohne soziale Absicherung. An besagtem Webinar nahmen Gewerkschafter, Akademikerinnen und Verwaltungsmitglieder teil und hatten so die Möglichkeit die Thematik auf Augenhöhe zu diskutieren. Es zeigte sich, dass die Coronakrise die Schwächsten der Gesellschaft ungleich stärker belastet. Die Regierung versucht die Wirtschaft über die Lockerung von Arbeitsrechten wieder anzukurbeln – gegen den vehementen Widerstand der Gewerkschaften. Dies bewegt mich. In Indien wurden viele Webinare organisiert zur Arbeitsmigration aber auch zu Tourismus.  

Hast du selbst mit ArbeitsmigrantInnen zu tun? 

Nicht speziell. Aber es gibt natürlich auch in Kerala viel innerindische Migration, im Bausektor oder in der Gastronomie arbeiten öfters Personen aus nordindischen Bundesstaaten für ein paar Jahre, um Geld nach Hause zu schicken. 

Und inwiefern bewegt dich die Tatsache der weit verbreiteten informellen Arbeit? 

Informelle Arbeit ist in Indien weit verbreitet, auch im Tourismussektor. Sivaraj und ich sprechen manchmal über die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Mobilitätsbewegungen von für Arbeit Migrierender und Flüchtender wie auch von TouristInnen. Sie alle bewegen sich über weite Strecken, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen. Wir hinterfragen, wie unterschiedlich die Welt mit den verschiedenen Reisenden umgeht.  

Es geht also auch um Ungerechtigkeit? 

Die Coronakrise brachte alles zum Stillstand. In Indien war das ein massives Problem. Die Migrantinnen und Migranten standen mit nichts da. Die Regierung hat sehr unterschiedlich reagiert, in Kerala sehr vorbildlich, wohingegen es in anderen Bundesstaaten zu sehr dramatischen Situationen kam. Vielerorts sprangen zivilgesellschaftliche Organisationen ein, die unter anderem Gemeinschaftsküchen organisierten. Und es kam an die Oberfläche, unter welch miserablen Verhältnissen die MigrantInnen leben, die häufig auch zu den "unteren" Kasten gehören. Auf dem Land verdienen sie zu wenig für ein würdevolles Leben. Also gehen sie in die Städte, wo sie besser verdienen, und schicken Geld an ihre Familien im Dorf zurück. In Indien kommen jährlich 13 Millionen Menschen neu in den Arbeitsmarkt. Die Regierung unterhält zwar ein ländliches Arbeitsgarantie-Programm, das jedoch in jedem Bundesstaat anders umgesetzt wird. Es gibt auch Anspruch auf Essrationen und subventionierte Lebensmittel, aber die MigrantInnen hatten diesen Anspruch bisher am Heimatort, nicht dort, wo sie arbeiten. Das ist ein Problem, da ein grosser Teil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Diese Regelung wurde jedoch glücklicherweise nach der problematischen Situation während des Lockdowns geändert.

Aber Indien hat viele Seiten. Eine andere Seite, von der man weniger hört, sind die vielen engagierten jungen Menschen. Vor zwei Jahren half eine Gruppe von UnistudentInnen nach den Überschwemmungen in Kerala, ein System zur Verteilung der Hilfsgüter im Distrikt Wayanad auf die Beine zu stellen, mit anderen Freiwilligen verschiedener Organisationen. Es funktionierte so gut, dass es die Distriktverwaltung übernahm. Es gibt viele engagierte junge Menschen mit Drive! 

Was ist Uravu Eco Links?

Uravu Eco Links (UEL) ist eine Firma, die von der sozialen Stiftung Uravu Indigenous Science & Technology Study Center (Uravu) gegründet wurde.  Uravu ist seit 1996 im Dorf Thrikkaipetta im Distrikt Wayanad im südindischen Bundesstaat Kerala aktiv. Es war die Zeit, in der die Selbstmorde von Bauern aufgrund der landwirtschaftlichen Krisen sich häuften. Auf der Basis von 50 Bambussorten wurden nachhaltige Einkommensmöglichkeiten für das Dorf und die Region geschaffen, etwa mit Selbsthilfegruppen von Frauen, die Kunsthandwerk aus Bambus produzieren, oder neuen Arbeitsplätzen in den Bambus-Baumschulen und Bepflanzungsprogrammen oder mit Weiterbildungen in verschiedenen Bereichen. UEL ist eine vom Vorstand von Uravu Indigenous Science & Technology Study Center gegründete Aktiengesellschaft zur Entwicklung der Bambus-Bauprojekte sowie des Bambushandels und des nachhaltigen Tourismus. UEL führt das Uravu Bamboo Grove Resort: Ein gemeindebasiertes Ökotourismusprojekt, das auf innovativen Designkonzepten für Gebäudestrukturen, gebaut und möbliert von lokalen (Kunst)handwerkerInnen unter Verwendung von vor Ort gewonnenen, natürlichen Materialien wie Bambus basiert. Im Rahmen dieses Projekts werden auch Modelle im Bereich nachhaltiges Bauen  oder für das Abfallmanagement entwickelt, die von der Gemeinde übernommen werden können. Bei diesem Ökotourismusprojekt ist das Dorf stark involviert. Es stellt die Kochteams, Guides, Taxi- und Rikshafahrer und so weiter. Die Kochteams repräsentieren die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, etwa die Adivasi, und führen zu einem Reichtum an Rezepten, der von den Gästen geschätzt wird. Die Zusammenarbeit ist intensiv und immer wieder neu. UEL arbeitet auch eng mit der Gruppe der sechs lokalen Homestays zusammen. Und im Bereich Abfallmanagement haben wir auch schon einen Wettbewerb mit Schülerinnen und Schülern organisiert. Sie mussten in kurzer Zeit so viele weggeworfene Bonbonpapierchen wie möglich sammeln und konnten ein Velo gewinnen. Ein Prozentsatz des Gewinns aus dem Tourismusprojekt geht an den Gemeindefond. UEL pflegt eine intensive Zusammenarbeit mit Universitäten, sei es für die Architektur oder den Tourismus oder neu auch mit dem Kerala Forest Research Institute zur Weiterentwicklung der Materialqualitäten. 

Was bedeutet für dich "fair unterwegs" zu sein? 

Ich denke dabei zuerst an viele kleine Initiativen, die sich bemühen, nachhaltig, innovativ und lokal ausgerichtet zu sein. Bei der Planung einer Reise würde ich das auch suchen und kleinere Player stärken. Wayanad hat Frauengruppen, die in Kudumbashree sehr aktiv sind (vom Bundesstaat Kerala geförderte Frauen-Selbsthilfegruppen zwecks Armutbekämpfung und Empowerment), die teils auch Restaurants und Homestays betreiben. In der Nähe von Calicut gibt es eine Organisation in einem Dorf, in dem die BewohnerInnen ein System zur Abfalltrennung entwickelt haben. Inzwischen beraten sie ganze Städte und Distrikte. Eine aktive Zivilgesellschaft kann Dinge aufbauen, die die Verwaltung aufnehmen kann. Deshalb ist es wichtig, solche kleinen Projekte wahrzunehmen und zu fördern. Klar sind sie zu klein, um grosse Veränderungen zu bewirken, klar braucht es die Politik und neue Gesetze und Regulierungen. Aber ich denke, Veränderung beginnt oft mit diesen kleinen Projekten der Zivilgesellschaft. 

Du lebst ja teils in Indien und teils in der Schweiz. Wie hast du die Unterschiede in der Coronakrise wahrgenommen?

Ich war während des Lockdowns in Indien. Alles war während dreier Wochen völlig abgeschottet. Die Schulen sind seit März 2020 zu, der Unterricht erfolgt nur noch online. Familien ohne Smartphone oder Fernsehern haben das Nachsehen, die Schere zwischen denen, die online gehen können, und den anderen öffnet sich weiter. Obwohl viele engagierte Lehrkräfte auch versuchen, dies mit Unterricht in Kleingruppen etwas zu lindern. In der Schweiz hat sich schon viel mehr wieder normalisiert als in Indien. Der Lockdown in Kerala brachte wirklich fast die ganze Wirtschaft zum Erliegen, mit viel weniger Unterstützung seitens der Regierung als hier in der Schweiz. Und jetzt geht das Leben weiter mit Corona, mit vielen Ansteckungen, aber vielleicht, aufgrund des jungen Durchschnittsalters, nicht so vielen Toten.

Haben jetzt nach dem Lockdown wieder andere Themen wie etwa die Klimakrise Platz?

Umweltthemen haben es schwer. Der Wirtschaft ging es schon vor der Pandemie nicht gut. Und obwohl die Umweltbelastung in Indien massiv ist mit der Luftverschmutzung und dem Abfall, ist das gefühlt eher nicht ein Hauptthema in der Politik. Es herrscht teils die Wahrnehmung, dass Umweltschutz bloss die Wirtschaftsentwicklung behindere. Minenunternehmen möchten am liebsten alle Umweltgesetze lockern. Aber es gibt auch grosse Firmen, die sich stark sozial engagieren.

Während des Lockdowns ging es ja denen besser, die Zugang zu Land und somit zur Selbstversorgung hatten. Wie steht es generell mit dem Zugang zu Land in Indien?

Auch das ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Kerala gab es eine Landreform, also haben die meisten Menschen Land. In Nordindien hingegen sind die Systeme oft immer noch sehr feudal. Die Unterschiede sind gross.

Vor dem Lockdown war viel von religiösen Unruhen zu hören. Wie sieht es jetzt aus?

Im Moment ist es ruhig. Aber wenn in Ayodia der Ram Tempel auf dem Grundstück der von Hindu-Nationalisten zerstörten Moschee Babri Masjid gebaut wird, könnte das die religiösen Unruhen wieder anheizen. Anders als die Congress Party, die für ein laizistisches Land eintrat, in dem Menschen unterschiedlicher Religionen gleichberechtigt Platz haben, will die jetzt regierende Bharatjya Janata Partei (BJP) unter Narendra Modi einen hindunationalistischen Staat vorantreiben. Im kommunistischen Kerala mit seinen rund 55 Prozent Hindus, 20 Prozent Christen und 25 Prozent Muslimen ist das noch nicht so ein Thema, aber viele Minderheiten haben Angst.

Was empfiehlst du Indienreisenden?

Ich würde empfehlen, auch kleinere Communities zu besuchen. Homestays sind verbreitet, wo Familien ein oder zwei Zimmer vermieten. So ist der Kontakt zur Lokalbevölkerung garantiert. Auch wenn man auf Luxus nicht verzichten möchte, gibt es mittlerweile sehr schöne nachhaltige Hotels. Und ich würde auf jeden Fall empfehlen, sich auf fairunterwegs.org zu informieren.   

Du lebst ja teils in Indien und teils in der Schweiz. Wie hast du die Unterschiede in der Coronakrise wahrgenommen? 

Ich war während des Lockdowns in Indien. Alles war während dreier Wochen völlig abgeschottet. Die Schulen sind seit März 2020 zu, der Unterricht erfolgt nur noch online. Familien ohne Smartphone oder Fernsehern haben das Nachsehen, die Schere zwischen denen, die online gehen können, und den anderen öffnet sich weiter. Obwohl viele engagierte Lehrkräfte auch versuchen, dies mit Unterricht in Kleingruppen etwas zu lindern. In der Schweiz hat sich schon viel mehr wieder normalisiert als in Indien. Der Lockdown in Kerala brachte wirklich fast die ganze Wirtschaft zum Erliegen, mit viel weniger Unterstützung seitens der Regierung als hier in der Schweiz. Und jetzt geht das Leben weiter mit Corona, mit vielen Ansteckungen, aber vielleicht, aufgrund des jungen Durchschnittsalters, nicht so vielen Toten.

Haben jetzt nach dem Lockdown wieder andere Themen wie etwa die Klimakrise Platz?

Umweltthemen haben es schwer. Der Wirtschaft ging es schon vor der Pandemie nicht gut. Und obwohl die Umweltbelastung in Indien massiv ist mit der Luftverschmutzung und dem Abfall, ist das gefühlt eher nicht ein Hauptthema in der Politik. Es herrscht teils die Wahrnehmung, dass Umweltschutz bloss die Wirtschaftsentwicklung behindere. Minenunternehmen möchten am liebsten alle Umweltgesetze lockern. Aber es gibt auch grosse Firmen, die sich stark sozial engagieren.