
Fair unterwegs mit Dominik Siegrist, Alpenschützer und Tourismusforscher
Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?
Die erste Station meiner Lesereise beginnt mit dem thematischen Wanderführer "Surselva" von Robert Kruker und Reto Solèr aus der Wanderbuchreihe "Naturpunkt" im Rotpunktverlag. Die Idee dieser Edition ist es, Sozial- und Umweltverträglichkeit mit Naturerlebnis und Genuss zu verbinden. Kruker und Solèr führen uns in das Vorderrheintal in Graubünden. Auf jeder Etappe erfahren Sofa- und richtige Wandernde die jeweiligen politischen und geschichtlichen Hintergründe. So auf der Wanderung von der Motterasciohütte über die Greina zur Terrihütte, wo der erfolgreiche Widerstand gegen die Zerstörung der Greinaebene durch ein Pumpspeicherwerk auflebt: Bereits im Jahre 1957 hatten die Nordostschweizerischen Kraftwerke AG und die Rhätischen Werke für Elektrizität die Konzession für den Bau eines Wasserkraftwerkes erhalten. Die Umweltverbände und die Bevölkerung kämpften hartnäckig für die Bewahrung dieser einmaligen Gebirgslandschaft, eine Auseinandersetzung, aus der auch die Greina-Stiftung hervorging. 1986 schliesslich mussten die Konzessionsnehmer auf ihre Pläne verzichten. Aber auch kulturelle Themen kommen auf der Wanderung nicht zu kurz, etwa das Rätoromanische. In der Surselva wird Sursilvan gesprochen, das am meisten verbreitete der fünf rätoromanischen Sprachidiome.
Was ist die nächste Station deiner Lesereise?
Geht man die Surselva hinan, gelangt man zum Oberalppass. Auf der Urner Seite dieses Passes liegt Andermatt, und so heisst denn auch meine zweite Station. Autor des Buches "Andermatt im Umbruch- Vom Waffenplatz zum Luxusresort" ist ebenfalls Robert Kruker, zusammen mit Verena Meier. Es handelt sich um eine ausgezeichnet recherchierte, dichte Beschreibung der Vorgänge rund um das geplante Tourismusressort. Kruker und Meier schildern akribisch, wie nach der Aufgabe des Waffenplatzes durch den Bund zunächst ein Vakuum entstand, wie der Kanton Uri danach gezielt nach einem Investor suchte und diesen dank einem berühmt gewordenen Helikopterflug im Ägypter Sammih Sawiris schliesslich fand. Die Entwicklung, die daraufhin folgte, war vom Bundesrat in seiner damaligen politischen Zusammensetzung gewollt und wurde entsprechend unterstützt. Die eindrücklichen Fotos von Beat Brechbühl und Franca Pedrazetti dokumentieren den Prozess in Andermatt seit seinem Beginn. Obwohl die kritische Haltung der AutorInnen zwischen den Zeilen spürbar wird, hätte ich mir eine distanzierte Beurteilung der Vorgänge in Andermatt und um Sawiris gewünscht. Was bedeutet die angelaufene Entwicklung für die Zukunft eines Bergdorfes wie Andermatt? Wie ist die Position der UmweltschutzschützerInnen, die sich immer wieder kritisch geäussert haben – und einige Male auch Kompromisse eingehen mussten? Welche Rolle spielt Samih Sawiris? Und wie steht es um seine mediale Inszenierung als Retter einer Randregion?
Welche Alternative hätte sich denn für Andermatt geboten?
Andermatt brauchte nach der Aufgabe des Waffenplatzes eine Alternative, es gab kaum mehr wirtschaftliche Perspektiven und die Bevölkerung wanderte ab. In diesem Moment sind in strukturschwachen Bergtälern Investitionen in den Tourismus immer eine Option. Die Verantwortlichen hätten zukünftigen Investoren jedoch von Anfang an klare Schranken setzen müssen. Man muss die Möglichkeiten realistisch berücksichtigen, die ein Bergdorf hat, um ein neues Resort zu verkraften. Dies läge nach meiner Ansicht ungefähr bei 1’000 neuen Betten. Ich weiss, auch das ist eine stolze Zahl, aber so etwas könnte man vermutlich noch irgendwie integrieren. Nun wird von 5’000 neuen Betten gesprochen, wobei noch ziemlich unklar ist, woher all die Leute kommen sollen, die dereinst diese Betten füllen sollen. Es gibt übrigens auch Resorts, die tatsächlich nachhaltig sind. Zum Beispiel das neue Reka-Feriendorf in Urnäsch, das für mich eine vorbildliche Alternative zu Andermatt Swiss Alps darstellt.
Die Firma "Andermatt Swiss Alps", die Sawiris Orascom gehört, wird zum alles bestimmenden Investor in der ganzen Region. Führt das nicht zu einer gewissen Eigendynamik?
Genau das halte ich für gefährlich, denn eine so grosse Firma wird in Zukunft alles kontrollieren, was in Andermatt und wahrscheinlich zum Teil auch im Kanton Uri passiert. Insbesondere wenn etwas gegen die Interessen des eigenen Geschäfts laufen könnte. So gesehen kann das Projekt in Andermatt in der sozialen Dimension nicht als nachhaltig bezeichnet werden. Derzeit wird ja über den Ausbau des Skigebietes verhandelt, Andermatt soll via Oberalppass mit Sedrun verbunden werden. Dabei würden grosse, bisher unberührte Naturgebiete stark beeinträchtigt. Die Umweltschutzorganisationen machen Opposition dagegen. Doch die Promotoren sitzen am längeren Hebel, weil sie das neue Skigebiet für das im Bau befindliche Ressort benötigen. Vielleicht kommt es noch zu einem Kompromiss, der die Verbindung zwar ermöglicht, aber die bisher nicht erschlossenen Gebiete einigermassen schont. Meine nächste Station führt uns nun aber weg aus Andermatt und den Schweizer Bergen.
Da bin ich gespannt.
Die Reise führt zum Buch "Wohlstand ohne Wachstum" vom renommierten britischen Ökonomen Tim Jackson. Jackson zeigt uns einen pragmatischen Weg zu einem Wirtschaftssystem, das die Marktwirtschaft mit Wachstumsbeschränkung verbindet. Jackson ist der erste unter den etablierten bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftlern, der sich öffentlich für diesen Weg stark macht. Ein völlig neuer Kurs für die Wirtschaft bedeutet für Jackson eine grundsätzlich veränderte gesellschaftliche Logik: Die Erhaltung der Ressourcen nicht nur als technische und ökonomische, sondern vor allem auch als eine kulturelle Herausforderung für die Menschheit. Und damit komme ich zur letzten Lesereisestation: "Ausgepowert. Das Ende des Ölzeitalters als Chance" von Marcel Hänggi.
Was interessiert dich an diesem Buch besonders?
Marcel Hänggi bringt mit "Ausgepowert" auf den Punkt, wo die globalen Probleme liegen und wie diese vielleicht gelöst werden können. Mich fasziniert die Idee, Wohlfahrt und Glück statt Wirtschaftswachstum ins Zentrum der Entwicklung zu stellen. Gemäss Hänggi benötigen wir grundsätzliche Abmachungen auf globaler Ebene. So brauchen wir klare Klimaziele und brauchbare Werkzeuge, damit wir diese erreichen können. Aber nicht nur das Klima, sondern auch andere Ressourcen wie die Biodiversität oder die globalen Wasserressourcen sind massiv bedroht. In einer globalisierten Welt müssen diese Probleme auf einer internationalen Ebene angegangen werden. Erst damit werden wir auch national und lokal ernsthaft handlungsfähig. Die Rio+20-Konferenz hätte die dringend notwendigen übergeordneten Leitlinien bringen sollen. Aber der gigantische Anlass mit Zehntausenden von Offiziellen aus aller Herren Länder wurde – nicht ganz unerwartet – zu einer grossen Enttäuschung. Zwar hat diese Riesenkonferenz kaum etwas gebracht, aber Millionen von engagierten Menschen auf der ganzen Welt haben sich Gedanken darüber gemacht, wie es weiter gehen könnte. Das ist der Paradigmenwechsel, der heute in der globalen Umweltbewegung stattfindet: Die UmweltschützerInnen des Südens sind erstarkt und setzen sich in der Diskussion durch, zum Beispiel mit der Einsicht, dass Umweltschutz letztlich nur erfolgreich sein kann, wenn auch die soziale Frage angegangen wird. Auch in den Alpen versuchen wir, Alternativen aufzuzeigen. So setzt sich die CIPRA dafür ein, dass die Alpen vemehrt zu einer Modellregion werden, im Klimabereich und im Naturschutz, im nachhaltigen Tourismus und im Verkehr.
Trotz der beängstigenden globalen Entwicklung bleibt Hänggi optimistisch. Er empfiehlt uns, vermehrt auch auf die Lehren der Geschichte zu schauen, um dem Gefühl des Unausweichlichen zu entkommen. So schien es bis Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel keinen Weg aus der Sklavenhaltergesellschaft im Nordamerika zu geben. Und dennoch wurde die Sklaverei eines Tages abgeschafft. Dieses Beispiel zeigt, dass der Mensch vielleicht doch fähig ist, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Das mag uns hoffnungsvoll stimmen.
Mit unserem fairunterwegs-Reiseportal möchten wir etwas zur Veränderung beitragen. Was meinst du dazu?
Auch im Ferntourismus dreht sich eigentlich alles um die Wachstums- und Wohlstandsfrage. Es kann nicht der richtige Weg sein, dass der Tourismus immer weiter wächst, weder auf globaler Ebene noch in den Alpen. Aber wie lässt sich diese Entwicklung bremsen? Ich erlebe heute viele Branchenvertreter als über Nachhaltigkeit gut informiert. Sie sind mit Fachleuten, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen oft gut vernetzt. Aber das übergeordnete Ziel eines Reiseveranstalters liegt leider nicht in der Nachhaltigkeit, sondern im Gewinnstreben, was den dauernden Wachstumsdruck nach sich zieht. Wenn es darauf ankommt und die Nachhaltigkeit den kurzfristigen Geschäftserfolg des Unternehmens gefährdet, steht auch der aufgeklärteste CEO auf verlorenem Posten. Aber wir können nicht einfach gegen den Tourismus sein, das ist keine sinnvolle Lösung. Vielmehr müssen wir gemeinsam mit engagierten Menschen in den Reiseländern nach Wegen suchen, wie ein nachhaltiger Tourismus konkret aussehen kann soll. Ein Tourismus, der global nicht noch mehr wächst und irreparable Schäden anrichtet. Eine wichtige Rolle spielen dabei TouristInnen selber, von denen immer noch zwei Drittel unterwegs sind, ohne sich Gedanken zur Nachhaltigkeit zu machen. Da gibt es also an Aufklärungsarbeit noch viel tun, im globalen Tourismus und in den Alpen.
Von Dominik Siegrist empfohlene Bücher:
Robert Kruker, Reto Solèr: Surselva: Täler und Übergänge am Vorderrhein. Wandern im Westen Graubündens. Reihe Naturpunkt. Rotpunktverlag, Zürich 2011, 280 Seiten, ISBN 978-3-85869-448-5
Robert Kruker, Verena Meier: Andermatt im Umbruch. Vom Waffenplatz zum Luxusresort. Mit Fotos von Beat Brechbühl und Franca Pedrazetti. Rotpunkt Verlag, Zürich 2012, 205 Seiten, CHF 44.00, EUR 34.00 ISBN 978-3-85869-477-5
Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Deutsch beim Oekom Verlag, München 2011, 239 Seiten, CHF, EUR 19.95, ISBN 978-3-86581-245-2
Marcel Hänggi: Ausgepowert. Rotpunktverlag, Zürich 2011, 364 Seiten, CHF 39.90, EUR 28.00, ISBN 978-3-85869-446-1
Bundesamt für Raumentwicklung ARE (2012): Tourismus und Nachhaltige Entwicklung. Gute Beispiele und Aktionsmöglichkeiten. Bern.