Welches Buch führt Sie auf die schönste Reise?

Ich lese viele Bücher aus verschiedenen Zusammenhängen. Aber eines ist mir die letzten Jahre über geblieben. Es ist der Roman "Bis ans Ende der Meere" des Schweizer Autors Lukas Hartmann. Darin geht es um einen Maler schweizerischer Abstammung, der an der dritten bedeutendsten und abenteuerlichsten je unternommenen Forschungsreise von Captain Cook teilnimmt. Der Maler, John Webber (1751-1793) wurde in London als Sohn eines ausgewanderten Schweizer Bildhauers und einer Engländerin geboren. Weil die Familie verarmte, wurde John mit sechs Jahren zu seiner Tante nach Bern geschickt. Er wurde zum Einzelgänger, entdeckte aber früh sein zeichnerisches Talent. Als Expeditionszeichner wurde er für die dritte Weltumsegelung Cooks angeheuert. Ich finde sehr beeindruckend, wie Hartman darüber geschrieben hat. Er geht dabei auch auf die Beziehung Europas zur Welt ein.

Ich hatte erwartet, dass Sie ein Buch eines mosambikanischen Autors nennen würden.

Es gibt schon gute mosambikanische Autoren. Doch die Bücher aus Mosambik, die mich beeindruckt haben, stammen noch aus den 80er-Jahren. In letzter Zeit haben mich die Bücher von Hartmann fasziniert. Auch "Die Seuche" ist hervorragend, oder "Die Deutsche im Dorf". "Die Mohrin" hat unmittelbar mit Afrika zu tun. Aber "Bis ans Ende der Meere" ist einfach klasse! Vor allem die Tischgespräche auf dem Schiff, die immer wieder vorkommen. Die Gedanken, was diese Reise für sie bedeutet. Welche Kulturen sie kennenlernen und vor allem welche Bedeutung diese Kulturbegegnung für sie hat,  und wie sie das alles in Bezug auf die eigene Kultur  deuten. Es sind wichtige Fragen. Das Buch leistet einen grossen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und der der anderen.

Politisch scheint das Interesse an der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen hier nicht allzu gross zu sein.

Ich habe das Buch vor zwei Jahren gelesen, als ich noch nicht in der Schweiz arbeitete. Ich war an einer Tagung und hatte nichts Richtiges zum Lesen mitgenommen. Also ging ich in Basel in eine Buchhandlung und fand das Buch von Hartmann. Ich las es in einem Atemzug durch. Es war eine gute Vorbereitung für das, was später kam: Die Lektüre eines Schweizer Autors, der sich gründlich Gedanken über die Bedeutung von kulturellen Begegnungen gemacht hat, half mir, die momentane Stimmung nach der Minarettabstimmung zu relativieren. Ich wusste nun, es gibt Schweizerinnen und Schweizer, die so denken, und andere, die anders denken. Es war auch eine gute Vorbereitung auf meine Tätigkeit an der Uni Basel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lukas Hartmann ganz alleine all diese Gedanken entwickelt hat; was er schrieb, musste einem Diskurs entsprechen, der auch breiter geführt wird in diesem Land.

Haben die Schweizer eine besonders starke Tendenz zur Abschottung und Fremdenangst?

Ich bin nicht sicher, ob man das so sagen kann. Es ist ein generelles Phänomen, am stärksten in Frankreich, aber in verschiedenen Formen auch in Italien, Deutschland, Belgien und Holland. Die Schweiz ist keine Ausnahme. Ein Problem hier ist der Kontext der politischen Diskussion, mit der direkten Demokratie: Damit wird die Haltung des Volks sichtbarer als in Frankreich oder Deutschland. So entsteht der Eindruck, das Problem sei hier stärker ausgeprägt. Gäbe es aber in Deutschland oder Frankreich ebenfalls die direkte Demokratie, sähe es dort nicht anders aus. Es hilft zu wissen, dass es Leute gibt, die eine andere Sicht vertreten, ich erfahre das in vielen Diskussionen. Die Schweiz liegt im Mittelfeld.

Können Sie sich erklären, warum die Abschottung zunimmt, obwohl immer mehr SchweizerInnen immer öfter ins Ausland verreisen?

Auch da bietet Lukas Hartmann Erklärungshilfen. Er berichtet über die Anfangszeiten der Fernreisen. Es ist erstaunlich, wie wenig wir darüber wissen, was die Leute vor 200 Jahren dachten, als sie reisten. Sie waren stärker konfrontiert mit der Andersartigkeit. Natürlich hatten sie auch ein Überlegenheitsgefühl, aber sie setzten sich stärker damit auseinander, was an der anderen Kultur besser oder schlechter war als bei der ihren. Heute ist der Reisekontext ein anderer.
Die Reisenden von heute tun dies mit der Grundüberzeugung, dass die westliche Kultur allen anderen überlegen ist. Sie gehen hinaus in die Welt, um zu gucken, wie schlecht es den anderen geht, oder um eine Bestätigung ihrer Überlegenheit zu finden. Nicht alle natürlich, aber viele. Deshalb tun sie sich in der Heimat auch schwer mit den Anderen, denn der Fremde ist immer einer aus einer unterlegenen Kultur, von der sie nichts lernen wollen.
Das hat mit der Geschichte zu tun, die zu dieser Kulturgestaltung geführt hat, zur westlichen, christlich geprägten Kultur. Eigentlich ist es eine Idealvorstellung, dass es eine christlich westliche Kultur überhaupt gibt. Würde man sich allem verpflichtet fühlen, was in der Bibel steht, wäre das kaum vereinbar mit Demokratie, Freiheit und Menschenrechten. Die Leichtigkeit, mit der Leute von der christlich-westlichen Kultur sprechen ist problematisch. Was nicht heisst, dass man nicht ethische Prinzipien aus der Bibel ableiten kann. Aber oft werden sehr unreflektiert Menschenrechte, Demokratie und Christentum in einem Atemzug genannt.

Wie fair sind Sie unterwegs?

Ich bin auf jeden Fall ständig unterwegs. Wenn man als Afrikaner hier in Europa lebt, ist man ständig auf Reise. Weil ich andauernd hinterfragt werde, ob ich das Recht habe, hier zu sein, zum Beispiel von der Polizei. Manche Menschen fragen mich, wann ich nach Mosambik zurück kehre. Und die Behörden in Deutschland, wo ich lebe, erinnern mich immer daran, dass ich ein Ausländer bin. Jedes Mal, wenn ich Besuch einladen möchte, muss ich mich entblössen: Ich muss den Behörden zeigen, dass ich ein guter Bürger bin, keine Schulden habe, über genügend Einkommen und Wohnraum verfüge. Das macht mich zu einem Menschen, der immer auf Reisen ist, auch auf emotionaler Ebene. Ob in Gesprächen mit meinen Studenten, mit meiner Familie, meinen Kindern: Ich bewege mich immer in Grenzzonen von Kulturen, muss die Dinge und die Welt, wie ich sie wahrnehme, ständig übersetzen.

Welchen ethischen Prinzipien folgen Sie auf ihren Reisen?

Für mich bedeutet fair unterwegs sein die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen. Das wird in Diskussionen über Ausländer oft vernachlässigt. Wenn ein Ausländer in der Schweiz ist, signalisiert das zumindest eine Grundbereitschaft, sich auf Europäer einzulassen. Natürlich gibt es auch da Ausnahmen, die politisch gut ausgeschlachtet werden können, aber die grosse Mehrheit der Ausländer wollen sich auf die hiesige Kultur einlassen. Das heisst aber nicht, dass ich als Ausländer alles wertvoll finden muss, was hier für wertvoll gehalten wird. Diese Erwartung an die Ausländer führt zu weit. Ich finde, ich habe ein Recht auf meine eigene Meinung. Man kann von mir erwarten, dass ich mich an die Gesetze halte, aber nicht, dass ich mit allem einverstanden bin, was in der Verfassung steht. Voraussetzung ist einfach, dass man darüber diskutiert, auch wenn man sich letztlich der Mehrheitsmeinung und den Gegebenheiten unterwirft. Wenn man alle Ausländer, die etwas an der Verfassung in Frage stellen, als nicht integrationswillig hinstellt, widerspricht das der liberalen politischen Grundordnung.

Wie nachhaltig verhalten Sie sich auf Reisen?

Ich würde mich nicht als umweltbewussten Menschen beschreiben, obwohl mir die Umwelt nicht gleichgültig ist. Meine Entscheide mache ich nicht davon abhängig, was der letzte Stand der Diskussion ist. Aber ich bin dabei, wenn es um Verhaltensregeln geht, die mir einleuchten. Zum Beispiel, wenn in den Hotels gebeten wird, nicht jeden Tag das Handtuch wechseln zu lassen. Oder ich setze auf öffentliche Verkehrsmittel, statt ein Auto zu mieten. Ansonsten verhalte ich mich nicht besonders nachhaltig. Ich frage auch nicht nach den Sozialstandards im Hotel. Aber ich schäme mich dafür.

Die Frage ist ja auch, wie viel Recherche man den Reisenden zumuten kann.

Das auch. Es liegt aber auch an der Komplexität. Es ist nicht einfach, den Durchblick zu haben. Wenn das Hotel Kosten spart durch meine Handtuch-Sparübung, investiert es dann nicht einfach mehr in neue wenig nachhaltige Anlagen?

Sie scheinen wenig Vertrauen in die Tourismusbranche zu haben. In Mosambik soll ja der Tourismus forciert werden. Welchen Eindruck haben Sie von dieser Entwicklung?

So wie der Tourismus jetzt gemacht wird, bringt er dem Land nichts. Von diesem Tourismus kann die Mehrheit der Bevölkerung nicht profitieren. Weder gibt es Arbeitsplätze für die Mosambikaner noch eine Wertschöpfung. Alles wird importiert. Ich glaube nicht, dass das gut ist. Es sind internationale Ketten aus den USA, Portugal und Südafrika. Es gibt sehr wenige bis keine mosambikanische Unternehmen, die so etwas machen. Die ausländischen Unternehmen bringen ihr Personal und ihre etablierten Versorgungsketten mit. Der einzige positive Aspekt, den ich dieser Entwicklung abgewinnen kann, ist das Signal an die internationalen Investoren, dass Mosambik ein offenes Land ist.
Aber es gibt schon problematische Beispiele. Ich habe einen Bericht gelesen über eine Luxusanlage auf einer mosambikanischen Insel. Innert Kürze sind die Preise für einfache Dinge in die Höhe geschossen. Bier und Softdrinks kosteten plötzlich das Doppelte und lagen damit ausser Reichweite der normalverdienenden Menschen in Mosambik. Ohne Hotelanlage hätten sie sich mehr leisten können. Ich denke, der Tourismus ist nicht einfach per se schlecht oder gut. Es braucht einfach andere Überlegungen dazu, die Investoren sollten ihren Blick auch auf andere Bereiche richten.

Wie nützlich finden Sie fairunterwegs.org zur Sensibilisierung der Reisenden und als Orientierungshilfe für mehr Nachhaltigkeit beim Reisen?

Ich finde das Portal gut. Es gefällt mir, dass fairunterwegs.org mit verschiedenen Angeboten eine Stimmung schafft, die den Leuten ermöglicht, sich Gedanken über ihre Haltung und ihre Erwartungen zu machen. Das finde ich besser und wichtiger als die blosse Vermittlung von Prinzipien und Regeln, verbunden mit der Erwartung, dass sich alle daran halten.
Buchangaben:
Lukas Hartmann: Bis ans Ende der Meere. Diogenes Verlag, Zürich 2009, 496 Seiten, CHF 38.90, Euro 21.90 (unverbindliche Preisangaben) ISBN 978-3257-06686-9

Lukas Hartmann: Die Seuche. Diogenes Verlag, Zürich 2009, 224 Seiten, CHF15.90, Euro  (unverbindliche Preisangaben) ISBN  978-3257-23913-3
Lukas Hartmann: Die Deutsche im Dorf. Fischer Taschenbücher, Frankfurt 2007, 304 Seiten, CHF 15.90, Euro,  (unverbindliche Preisangaben), ISBN 978-3596-17062-3
Lukas Hartmann: Die Mohrin. Roman. Fischer Taschenbücher, Frankfurt 1998, 272 Seiten 14.50, Euro (unverbindliche Preisangaben), ISBN 978-3596-13288-1