Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?

"Africanah" von Chimamanda Ngozi Adichie. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen der jungen Ifemelu aus der nigerianischen Hauptstadt Lagos, die zum Studium in die USA ausreist, und ihrem Freund Obinze. Spannend ist, wie unterschiedlich Frauen in den USA und in Nigeria wahrgenommen werden. In Afrika hatte Ifemelu ein gutes Selbstwertgefühl als Mensch und als Frau. Sie identifizierte sich nicht als Schwarze, weil das kein Thema war. In Amerika muss Ifemelu damit klarkommen, dass sie als Schwarze anders behandelt wird, aufgrund der Geschichte der Sklaverei, die in den Köpfen der Menschen und im Alltag deutliche Spuren hinterlassen hat. Das Grund-Selbstbewusstsein der Frauen ist in den USA und in Nigeria nicht dasselbe. Ifemelu erarbeitet sich ihr Selbstbewusstsein neu und beschreibt mit viel Scharfsinn, wie die Mechanismen zur Schwächung des Selbstwertgefühls funktionieren.

Wieso spricht dich gerade dieses Thema so an?

Ich entschied mich nach meiner Lehre als Chemielaborantin und ein paar Jahren als Forschungsassistentin unter anderem in Cape Town und Standford zum Studium von Soziologie und Ethnologie in Lyon. Davor reiste ich viel und genoss die Lehr- und Wanderjahre. Ich war in Südafrika und Botswana, zwei Monate im Kibbuz in Israel, mehrmals in Nordafrika, in Zentralamerika, ein halbes Jahr in Südostasien, meine Feldforschung betrieb ich in Haiti und ich reiste durch die USA. Ägypten wollte ich zum Beispiel bereisen, um dort die Pyramiden zu sehen. Aber geprägt haben mich die Begegnungen mit den Menschen im modernen Ägypten.

Mich interessieren andere Kulturen und die interkulturelle Kommunikation. Was wir wahrnehmen und wie wir es interpretieren, hängt vom soziokulturellen Umfeld ab, in dem wir sozialisiert worden sind. Interkulturelle Kommunikation bedeutet, beim Austausch mit Menschen anderer Kulturen immer auch deren Kontext mitzudenken. Je genauer wir diesen verstehen, desto einfacher entdecken wir Missverständnisse und können diesen vorbeugen oder sie auflösen.

Wie schaffe ich es als Reisende, mich gut vorzubereiten und den Kontext wirklich zu verstehen?

Dazu dient der Besuch auf fairunterwegs.org, und Sicherheitshinweise gibt es auf der Website des Eidgenössischen Departments für Auswärtige Angelegenheiten EDA, was gerade beim Besuch von Ländern, in denen es auch gefährlich werden kann, wichtig ist. Ich war Programmverantwortliche für Niger, als SchweizerInnen von der Al Khaida des Maghreb im Grenzgebiet zu Mali entführt wurden.

Die Verhandlungen mit den Terroristen bedeuteten für die Schweiz einen Riesenaufwand. Wenn steht, man solle ein bestimmtes Gebiet nicht bereisen, gilt es das zu respektieren. Entführungen sind nicht nur für Betroffene traumatisch, sondern auch eine Zumutung für die Behörden, HelferInnen und Angehörige.

Generell sollte man versuchen, so viel an Information wie möglich über das Land zu gewinnen. Vor ein paar Monaten war zum Beispiel im Magazin ein guter Bericht zu lesen über eine Familie in Honduras, die nichts mit Banden zu tun haben wollte und trotzdem zwischen die Fronten geriet und fliehen musste.

Brücke · Le pont ist ja unter anderem in Honduras tätig.

Wir richten unsere Unterstützung darauf aus, dass Jugendliche nicht in eine Bande eintreten müssen, weil sie berufliche Perspektiven haben und zu fairen Bedingungen in den Arbeitsmarkt integriert werden können. In den Maquilas in den Freihandelszonen sind die Arbeitsbedingungen für TextilfabrikarbeiterInnen sehr schlecht. Die TextilarbeiterInnen und Jugendlichen kommen aus ärmlichen Quartieren an den Rändern der Städte mit extremer Gewalt. Als Geschäftsleiterin habe ich eine Verantwortung gegenüber den Programmverantwortlichen und den Partnerorganisationen. Deshalb haben wir für unsere Mitarbeitenden Richtlinien fürs Reisen festgelegt und die Partnerorganisationen haben Sicherheitspläne.

Wie kommt ihr zu den Informationen über den Kontext der Menschen, für die ihr tätig seid?

Gespräche mit unseren Koordinationspersonen vor Ort und den Partnerorganisationen, die den Kontext bestens kennen, geben uns wichtige  Informationen. In Zentralamerika deckt sich deren Sicht mit unserer. In Afrika hingegen war es für die Lokalbevölkerung nicht immer nachvollziehbar, warum EuropäerInnen in gewissen Gebieten nicht mehr tätig sein wollen wegen der Entführungsgefahr.

Wie bezieht ihr den Kontext in eurer Arbeit ein?

Wir schauen im Bereich Berufsbildung, was der Markt braucht, fragen, was die Frauen oder Männer erreichen wollen und begleiten sie auf dem Weg dorthin. Wir verhandeln mit Unternehmen, damit sie Jugendlichen aus berüchtigten Quartieren eine Chance geben. Wir setzten uns erfolgreich dafür ein, dass unter anderem Hausangestellte in Bolivien ein staatliches Zertifikat erwerben und sich gewerkschaftlich organisieren können. Wenn sie ihre Erfahrungen mit anderen austauschen, werden sie selbstbewusster und kämpfen für ihre Forderungen. Unsere Partnerorganisationen haben es geschafft, dass Frauen in Textilfabriken nach dem Mutterschaftsurlaub während sechs Monaten nicht gekündigt werden darf – das ist mehr als in der Schweiz und wir sind mächtig stolz darauf! In El Salvador schafft der Staat es nicht, alle Arbeitsrechte durchzusetzen. Also unterstützten wir die Anstellung von GerichtsvollzieherInnen. Mit der Folge, dass 2018 1,1 Millionen Dollar Entschädigungszahlungen ausbezahlt wurden, mit einer Investition von 72’000 Franken.

Es sind keine Schweizer Firmen, die dort ihre Textilien produzieren lassen. Trotzdem unterstützt ihr die Konzernverantwortungsinitiative.

Die Stärke von Brücke · Le pont liegt darin, dass wir in der Schweiz breit verankert sind. Einer unserer Träger ist der Dachverband Travail.Suisse, dem zehn Gewerkschaften angehören – darunter etwa die Syna und Transfair, der Arbeitnehmerverband, in dem sich auch Mitarbeitende des öffentlichen Verkehrs organisieren – und der rund 150’000 Arbeitnehmende vertritt. Unsere entwicklungspolitische Sensibilisierung und der Einsatz für die Konzernverantwortungsinitiative sind kohärent zur Arbeit im Feld und zur Trägerschaft.

Gibt es Länder, die du meidest?

Nach Jemen würde ich heute zum Beispiel nicht mehr reisen. Es kommt auch darauf an, ob ich beruflich oder privat reise. Beruflich gehe ich eher Gefahren ein als privat. Aber auch das hat sich geändert, seit ich Kinder habe – meine Kinder sind inzwischen 12 und 17 Jahre alt. Mit zwanzig war es noch möglich in Länder zu reisen, wo es heute zu gefährlich wäre. Aber in den letzten Jahren wandelt sich die Welt rasend schnell. Die Klimadebatte ist wichtig geworden, und ich überlege, ob und wie weit ich noch fliegen will. Bei Brücke · Le pont vermeiden wir unnötige Reisen und kompensieren Flüge. Es ist nicht unser Kernthema. Aber ein ehemaliger Mitarbeiter war selbst bei Fernreisen nicht bereit, zum Umsteigen nach Paris zu fliegen. Er nahm den Zug. Und wir haben das respektiert.  

Was ist dir betreffend Nachhaltigkeit beim Reisen noch wichtig?

Ich erwarte von Reisenden, dass sie vor Ort keinen Abfall liegen lassen. Manchmal nehmen Reisende Anstoss, wenn die Lokalbevölkerung Abfall achtlos wegwirft. Dabei produzieren wir in den Industrieländern viel mehr Müll. Wir müssen erst uns selbst hinterfragen, bevor wir mit dem Moralfinger auf andere zeigen.
Persönlich versuche ich mich bei der Kleidung an den lokalen Kontext anzupassen. Leider tun das auch Mitarbeitende der Entwicklungszusammenarbeit nicht immer. Es geht nicht nur um zu kurze, sondern auch um zu informelle Kleidung. Etwa für eine Geschäftssitzung kleidet man sich in vielen Ländern formeller als bei uns.

Kann interkulturelle Kommunikation auf Reisen überhaupt funktionieren?

Es kommt darauf an, wie viel Zeit man für die Reise einräumt. Ich bekam am meisten mit, wenn ich individuell oder beruflich reiste. In Niger kam ich mit verschiedensten Ethnien in Kontakt und lernte Orte kennen, die in keinem Tourismusprogramm auftauchen. Grundsätzlich finde ich, sollte man versuchen, länger an einem Ort zu bleiben. Und offen sein. Auch in den Badeferien im All-inclusive-Hotel kann man versuchen, hinter die Kulissen zu blicken, etwa indem man den öffentlichen Verkehr benutzt, Busse und Tuktuks und Züge. Das geht am besten, wenn nicht alles durchorganisiert ist. Wir sollten jedoch nicht der Illusion verfallen, alles zu verstehen. Schon die Sprache kann Grenzen setzen. Ich versuche immer, ein paar Worte in der lokalen Sprache zu lernen, das ist oft ein Türöffner für Begegnungen.

Brücke · Le pont ist seit vielen Jahren Mitglied von fair unterwegs. Was verbindet die beiden Organisationen?

Die Themen faire Arbeit, Fair Trade Produkte, der Respekt für die Menschenrechte.

A propos fair: Nächstens ist der Frauenstreik. Bist du dabei?

Ja. Es ist höchste Zeit, dass Frauen und Männer gleiche Rechte haben. Das ist mir auch für meine Tochter wichtig. Sie soll sich in der Gesellschaft so frei bewegen können wie Buben. Aber schon in der Schule begegnet sie zementierten Rollenbildern. So hält sich die Idee hartnäckig, Mädchen seien in Mathe schlechter als Buben. Und wenn brillante Frauen mit Uni-Abschluss Kinder bekommen, arbeiten sie oft nur noch zu einem kleinen Prozentteil. Die Frauen fragen sich, warum sie so viel arbeiten sollen, wenn sie am Schluss den Lohn für die externe Kinderbetreuung aufwenden müssen. Frauen verdienen noch heute 14.6 Prozent weniger Lohn als Männer. 42.9 Prozent der Fälle der Lohndifferenz können nicht durch objektive Faktoren erklärt werden. Und das ist im Jahr 2019 ein No-Go!

Und wie gefällt dir fairunterwegs.org?

Ich konsultiere die Seite weniger für meine konkreten Reisen – die in letzter Zeit ohnehin mehrheitlich innerhalb von Europa stattfinden. Aber das Portal bietet extrem viele Infos gerade auch darüber, was fair unterwegs sein heisst. Und es ist ansprechend gemacht. Ganz besonders schätze ich die Film- und Büchertipps. Ein Verbesserungstipp: Bei den Länderinfos würde ich die Zahlen und Fakten zum Land zuoberst bringen und die Bücher- und Filmtipps erst danach. Die Zahlen und Fakten sind ein guter erster Ansatz, um die Entwicklung eines Landes einzuordnen.

Buchempfehlung: Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah. Übersetzt von Anette Grube. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2014, 608 Seiten, CHF 36.90, EUR 24.99, ISBN 978-3-10-000626-4