Fair unterwegs mit Gaby Fierz, Kuratorin, Kulturvermittlerin und Ethnologin
Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?
Es sind eigentlich zwei. Zum einen "Rückkehr nach Reims" (Retour à Reims) von Didier Eribon. Als sein Vater stirbt, reist er dorthin zurück, wo er aufgewachsen war, ins nordfranzösische Arbeitermilieu, wo viele der ehemaligen Kommunisten heute den Front National wählen. Er setzt sich mit seiner Herkunft auseinander.
Als ich einer Freundin von meiner Lektüre erzählte, empfahl sie mir von Annie Ernaux "Die Jahre". Dieses Buch hat mich noch mehr gepackt. "Die Jahre" ist eine kollektive Autobiografie. Zu Beginn jedes Kapitels gibt es ein Foto aus dem Familienalbum. Die Objekte im Bild stellt Ernaux in den Kontext ihrer Zeit. So erzählt sie gleichsam ihre Geschichte und die ihrer Zeit. Es ist eine weibliche Biografie und gleichzeitig eine sinnliche Zeitgeschichte aus weiblicher Perspektive. Sie ist Mutter, war verheiratet, liess sich scheiden und beschreibt, wie sie es schaffte, Raum für sich zu nehmen.
Du bist auch Mutter.
Ich bin Mutter von zwei erwachsenen Töchtern. Ich bin im Alter, das mich für Ernaux› Anstoss empfänglich macht, eine eigene innere Reise anzutreten. Dabei habe ich mich mit meiner Zeit, den Strukturen, die mich und meine Generation als Jugendliche prägten auseinandergesetzt. Ich tauchte ab in Geschichte und Orte meines bisherigen Lebens. Wieso studierte ich Ethnologie? Wieso empfand ich diese Enge im Dorf am Zürichsee? Wieso reizt es mich bis heute, wegzugehen, mich Neuem und Unbekanntem auszusetzen? Welche Erkenntnisse hast du dabei gewonnen? Letztlich das Bewusstsein, wie privilegiert ich bin, und das ich mich immer aus einer privilegierten Position heraus engagiere. In den Sechzigerjahren haben viele eine Enge verspürt.
Wie hast du das erlebt?
Es war alles so schön und gut, aber ich wusste, dahinter gibt es viele Probleme, schlafende Hunde. Ein Beispiel: Mein Vater war Lehrer. Zu Weihnachten schenkten ihm die SchülerInnen aus Italien Panettone. Ich fand das toll! Die schöne glitzerige Verpackung gefiel mir sehr und er schmeckte so anders als der bekannte Gugelhopf. Da war ich sieben oder acht Jahre alt. Ich merkte, dass meine Eltern dieses Geschenk gar nicht so schätzten. Mein Vater hatte eher Probleme mit dieser Geste – man ist als Lehrer doch nicht bestechlich! Und es waren halt die Italienerkinder, die das machten, nicht die Schweizer Kinder. Ich spürte eine Abwertung des Geschenks. Mit der Zeit war auch den Eltern klar, dass die Kinder und ihre Familien bloss ihre Dankbarkeit ausdrückten, und fanden, es sei ja schön. Aber ich empfand dieses Abgrenzen, dieses Abspalten der anderen Art und Weise, als Enge.
Und wie bist du damit umgegangen?
Ich bin weggefahren. Nach der Matura lebte ich ein halbes Jahr in Südfrankreich und ein halbes Jahr in Neapel, und zog dann aus dem Elternhaus in Richterswil am Zürichsee aus. Ich studierte Ethnologie und Geschichte in Basel. Es war eine Hinwendung zu einer offeneren Welt. Ich war nie militant, aber ich engagierte mich studentenpolitisch, schrieb im entwicklungspolitischen Magazin Mosquito und las mich in feministische Theorien ein. Das war mein eigenes Wertsystem, so erarbeitete ich mir meine Welt.
Ab 1989 arbeitetest du für acht Jahre bei fair unterwegs – arbeitskreis tourismus & entwicklung (akte). Was machtest du da?
Ich brachte unter anderem das Thema Migration und Tourismus auf. Gemeinsam mit Anne-Lise Hilty recherchierten wir einerseits zur Tourismusentwicklung in der Türkei und andererseits den Bezügen zur Migration aus der Türkei in die Schweiz. Wir gaben Türkei: Ferienland – Fluchtland heraus. Dafür arbeitete ich eng mit der Diaspora aus der Türkei, insbesondere der kurdischen Gemeinschaft in der Schweiz zusammen. Zu Beginn der 1990er Jahre war im Südosten der Türkei Bürgerkrieg – die Armee der türkischen Regierung gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK. Unzählige Dörfer wurden zerstört, die Menschen flüchteten. Einige kurdische Organisationen und linke Solidaritätsgruppen riefen damals zum Boykott des Türkei-Tourismus auf. Wir vom akte gaben den Stimmen eine Plattform, haben aber den Boykott nicht unterstützt.
Warum?
Man muss genau hinsehen. Unterstützt vom internationalen Währungsfonds IWF baute die Regierung die touristischen Infrastrukturen auf und verletzte dabei Verfassung und Menschenrechte. Gemäss der türkischen Verfassung darf der Zugang zum Meer nicht privatisiert werden, sondern muss öffentlich bleiben. Anwälte, die dieses Recht einklagten, mussten mit Verhaftung und Gefängnis rechnen. Touristische Anlagen wurden vor allem an im Süden und an der Ägäisküste gebaut. Gleichzeitig zerstörte die türkische Armee die Lebensgrundlagen der KurdInnen im Südosten. In den Tourismusgebieten im Süden und Westen des Landes und in den Städten bauten sich die Vertriebenen einen neue Existenz auf oder sie migrierten nach Europa, in die USA, Kanada oder Australien.
Das ist auch heute wieder ähnlich: Viele Kulturschaffende, AkademikerInnen, Intellektuelle, Lehrende wurden nach dem Putschversuch entlassen und haben ein de facto Berufsverbot. Viele ziehen sich aufs Land zurück und bauen kleine touristische Angebote auf – wie schon in den Neunzigern.
Worauf müsste ich heute achten, wenn ich in die Türkei reisen wollte?
Wer in die Türkei reist, kann sich überlegen: Wo gehe ich hin, wen unterstütze ich mit meinem Urlaubsgeld? Die Turkish Airlines ist problematisch: Es handelt sich um eine staatliche Fluggesellschaft. Aber man erreicht die Türkei auch gut auf dem Landweg oder per Schiff. Und die Turkish Airlines sind ja nicht nur beim Türkeibesuch ein Thema: Als eine der günstigsten Airlines bietet sie Flüge nach China oder Indien, Dubai, Nepal – all die Flüge mit Zwischenhalt in Istanbul. Dann müsste man sich überlegen, welche Infrastrukturen man nutzt, wo man hingeht und wo nicht. Welches sind staatliche Betriebe, welche nicht. Es gibt einen türkischen Hotelführer, in dem die kleinen Angebote wie B&Bs, die lokal betrieben werden, ebenso wie kulturelle Angebote aufgeführt sind. Den müsste man eigentlich mal übersetzen.
Was heisst für dich fair unterwegs sein im Alltag und auf Reisen?
Selten fliegen, im Alltag besitzen wir ein mit Biogas betriebenes Auto. Meistens bin ich aber eh mit dem Zug unterwegs, habe ein Generalabonnement und in der Stadt nehme ich das Fahrrad. Ich kann mir gar nichts anderes vorstellen. Fair unterwegs sein, lebe ich auch stark in meiner Arbeit. Ich beschäftige mich im Kultur- und Bildungsbereich mit der Frage von Ausgleich und Teilhabe. Ich versuche die Schweizer Sattheit und Gemütlichkeit aufzurütteln, zum Beispiel mit der Ausstellung Züricher!nnen machen. Da fragen wir nach der Zugehörigkeit zum Kanton Zürich. Wir fragen provokativ: "Bist du Zürcher!n?"
Ein Spiel, bei dem sich die MitspielerInnen zu Aussagen, die ihr Engagement, ihren Lebensstil, ihr Verhältnis zu Religion, Kultur und Gesellschaft betreffen, äussern müssen. An der Vernissage in einer der Gemeinden, in denen die Ausstellung gezeigt wurde, erzielte der seit Generationen im Dorf ansässige Gemeinderat eine 38-prozentige Zugehörigkeit. Die knapp dreissigjährige Frau, die vor fünf Jahren zugezogen ist, erreichte 95 Prozent: Das führte zu grösseren Irritationen und Diskussionsbedarf: Wer gehört dazu? Und wer sagt, wer dazu gehören soll? Es gibt u.a. auch Fragen, die sich auf ein Engagement für die Gemeinschaft beziehen oder die das Thema Diversität ansprechen. Wir, als AusstellungsmacherInnen, gehen zudem davon aus, dass es nicht einfach eine Zugehörigkeit gibt, sondern, dass sie erworben wird, dass wir sie bis zu einem gewissen Grad selber gestalten können. Und diesen Gestaltungsraum sollten wir nutzen!
Wie gefällt dir Fairunterwegs.org?
Es ist eine ansprechende, vielfältige Seite. Hat Aktualität wie zu meiner akte-Zeit die Kunas (Kurznachrichten-Newsletter), aber sie gibt auch Handlungsorientierung. Sie bietet eine konkrete Auseinandersetzung mit Reisen für Reisende ohne zu moralisieren. Mit den informativen Studien und Länderinformationen wird der Tourismus in einen gesellschaftlichen Zusammenhang gesetzt. Darum geht fair unterwegs über das Reisen hinaus – wie der Tourismus. Der rote Faden ist die grundsätzliche Auseinandersetzung mit Tourismus und Gesellschaft. In welcher Gesellschaft gibt es welchen Tourismus und wie hängt das zusammen? Wer darf reisen? Fairunterwegs gibt menschenrechtsbezogene Antworten auf einer pragmatischen Ebene und zeigt auf, wo entsprechende Dienstleistungen bezogen werden können. Ich finde, das ist ein Erfolgsrezept!
Empfehlungen:
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Übersetzt von Tobias Haberkorn. Suhrkamp, Berlin 2016, 237 Seiten, CHF 28.90, EUR 18.00, ISBN 978-3-518-07252-3
Annie Ernaux: Die Jahre. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, Berlin 2019, 255 Seiten, CHF 16.50, EUR 18.00. ISBN 978-3-518-46968-2
Reiseführer:
Mutlu Tönbekici: Kücük Oteller Kitabi. Boyut, Istanbul 2017: 512 Seiten, TL 27.78. ISBN 6059708357.
Aktuell auch auf der Website: kucukoteller.com.tr
Mehr zu Müjde Tönbekici im Porträt
Mehr zu Gaby Fierz und ihrer Arbeit: gabrielafierz.com