Welches Buch entführt Sie auf die schönste Reise?

Ich gehöre zu denen, die beruflich viel und privat kaum reisen. Mit meinen beruflichen Reisen schade ich der Umwelt genug. Meine Lesereise führt denn auch in eine Gegend, die ich gut kenne. Sie geht von einem vor gut 100 Jahren erschienenen Buch über die Expedition einer deutschen Gruppe nach Äthiopien aus. Die Gruppe hat ihre Reise von Dschibuti über das Hochland von Äthiopien bis nach Eritrea minutiös geschildert. Sie waren zu Fuss mit Maultieren unterwegs – wie ich es in den letzten 35 Jahren auch oft gemacht habe. Ich kenne viele Gegenden und Situationen. Die Expedition war 1904/5, und um sie zu dokumentieren, packten sie schwere Fotoplatten, Kamera und Stativ auf ein eigens dafür ausgerüstetes Maultier. Die Fotos, die sie gemacht haben, sind von beachtlicher Qualität.

Wozu sind sie gereist?

Das ist eine gute Frage, das wurde mir bis zum Schluss nicht ganz klar. Sie nahmen eine Militärtruppe zum eigenen Schutz mit, wie das damals üblich war. Sie haben sich aber auch durch Kontakte mit den lokalen Regierenden abgesichert, welche dafür sorgten, dass sie nicht behelligt wurden. Ich empfinde sie als neugierige Besucher. 1884 wurde Afrika ja an der Berliner Konferenz aufgeteilt. Deutschland suchte nach möglichen Kolonien. Aber beim Bruder des Expeditionsleiters und Autor des Buches, Felix Rosen, stelle ich vorwiegend ein wissenschaftliches Interesse fest. Koloniale Absichten sind kaum spürbar. Sie legten innert dreier Monate zu Fuss über 2000 Kilometer zurück, das heisst, sie sind ständig weiter gezogen, hatten nirgends einen längeren Aufenthalt. Aber sie trafen zum Beispiel Haile Selassie, den späteren Negus, als er erst 12-jährig war, der Sohn eines Feudalherrn. Damals wussten die Expeditionsteilnehmer nicht, dass er später zum König gekrönt würde. Haile Selassie habe die Delegation wie ein wirklicher Herrscher empfangen, schöne Antworten gegeben und sich sehr würdig verhalten. Er habe sie in seinen Schutz genommen und begleiten lassen. Haile Selassies Vater war etwa 400 Kilometer von seiner Familie entfernt. Aber der Junge liess sich von den Fremden nicht einschüchtern. Es ist eine amüsante Geschichte.

Woher haben Sie das Buch?

Ich habe es seit vielleicht 20 Jahren. Die Bibliothek des Geografischen Instituts der Universität Bern hatte es vergraben und schaubte es 1978 aus. Seit etwa 1980 habe ich das Buch immer wieder quer durchgeblättert und mit wachsendem Interesse und lokalem Wissen gelesen. Es hat mich immer mehr gelockt, einen kleinen Teil der Route nachzuwandern. In Äthiopien sind nur etwa 10 Prozent der Landesfläche erschlossen, d.h. näher als 25 Kilometer zu einer Strasse gelegen. Die Route der deutschen Gruppe aber liegt sehr oft fünf bis sechs Tage von der nächsten Strasse entfernt.

Haben Sie die Wanderung gemacht?

2004, also 100 Jahre nach der Expedition, machte ich mich auf, um ein paar der Standorte zu finden, von denen aus sie die Bilder gemacht hatten. Die Standorte zu finden, war das grösste Abenteuer. Ich war mit einem äthiopischen Team zu Fuss unterwegs. Für das Auffinden der Standorte war Intuition gefragt. Die Expeditionsteilnehmer hatten teilweise die Ortsnamen oder Täler verwechselt, und so war ich oft auf Irrwegen. Die Tage der Suche aber waren Tage der Vorfreude. Jeder Irrtum meiner Vorgänger kostete mich wieder einen Tag. Aber dabei fand ich viele spannende Dinge heraus.

Wie zum Beispiel?

Sobald ich einen Standort gefunden hatte, machte ich meine Fotos minutiös vom gleichen Quadratmeter aus und in dieselbe Richtung und mit demselben Objektiv wie meine Vorgänger. Dabei wurde zum Beispiel sichtbar, dass innerhalb von rund 100 Jahren die oberste Waldgrenze aufgrund des Klimawandels um 150 Meter gestiegen ist. Per Zufall ist auf einem Bild auf 4200 Metern über Meer Gras zu sehen – wo vor 100 Jahren noch keines wuchs. Oder da hat es etwa 30 bis 40 Jahre alte Bäume auf meinen Fotos, wo meine Vorgänger noch keine fanden. Es wird ja gesagt, Äthiopien sei entwaldet worden. Aber auf meinen Bildern sind Bäume, die vor 100 Jahren da waren, immer noch zu sehen, eins zu eins geschützt wie damals. Es zeigte sich, dass die orthodoxe Kirche in der Lage war und ist, ein Waldstück für sich reserviert zu halten. Auf meinen Bildern sind auch neue Kulturen von Gerste und Weizen in höheren Lagen und an steileren Hängen zu finden. Ganze Dörfer sind dazugekommen. Der Druck der Bevölkerung auf die Landschaft ist offensichtlich.

Sie haben also eine Zeitreise unternommen?

Ja, auch eine kulturelle, und eine Bilderreise. Damals, vor 100 Jahren, war Addis Abeba noch ein kleines Kaff. Heute ist es eine Fünfmillionenstadt. Das Zentrum der Stadt Gonder, heute ein wichtiges Kulturerbe, sah damals fast gleich aus. Die Expedition hatte ausgiebig die im 17. Jahrhundert unter portugiesischen Einflüssen gebauten Bauten fotografiert. Das ist heute sehr wertvoll für die Rekonstruktion, denn das Stadtzentrum wurde 1979 zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt. Ich habe die Bilder des Buches gescannt und dem Unesco-Projekt zur Verfügung gestellt. Ausserdem habe ich die Erkenntnisse in einem Reisebericht festgehalten. Es war eine andere Reiseart, und nach Abzug von Flug und Anfahrt mit dem Auto auch ökologisch gut.

Fair unterwegs sein, was heisst das für Sie?

Es bedeutet, sich Zeit zu nehmen. Sich an die lokalen Reiseformen anzupassen, also auch zu Fuss zu gehen, wie dies in Äthiopien üblich ist, statt mit dem Vierradantrieb durch die Gegend zu fahren. Der Flug bleibt aber immer ein ökologisches Problem. Daher plädiere ich für seltenere, dafür länger dauernde Reisen. Man kann sich so auch die Vorfreude zusammensparen, und die Zeit, um sich vor Ort wirklich zu entschleunigen. Das öffnet Raum für Begegnungen, für ein ökologisch und sozial angepassteres Reisen.

Was bedeutet es für Sie, als Tourist in ein Land zu reisen, wo es Hungersnöte gibt?

Es ist wichtig, sich nicht herauszureden, zum Beispiel mit dem Hinweis auf die steigenden Erdölpreise. Wir müssen uns beeindrucken lassen. Ich war vor Kurzem wiederum drei Wochen lang in Äthiopien. Dort scheint im ersten Moment die Preisexplosion zwei Seiten zu haben: Was für die städtische Bevölkerung zu weniger Essen führt, bringt der ländlichen Bevölkerung auf den ersten Blick höhere Preise für ihre Produkte. Aber auf den zweiten Blick zeigt sich: Die Rechnung geht nicht auf. Alle Preise sind rauf, auch die für Kleider, Zucker und Kaffee; und der Dünger ist drei bis viermal so teuer, also verliert auch die ländliche Bevölkerung.

Was ist die Rolle des Tourismus in Äthiopien?

Generell glaube ich, wenn die Leute nicht Enklaventourismus, sondern integrierten Tourismus betreiben, ist die Rolle weltweit insgesamt positiv. Die Gäste gehen zurück in ihre Heimatländer und sind betroffen worden. Ich spüre eine Verhaltensänderung. Es gibt auch dank dem Reisen ein Gefühl der Verantwortung. Steter Tropfen höhlt den Stein, hoffe ich zumindest, aber vielleicht bin ich zu idealistisch. In Äthiopien im Speziellen gibt es (noch) keinen Massentourismus. Natürlich tendieren die Gäste zu bequemeren Übernachtungen, und die Guides sind meist nicht die Armen. Aber es entstehen doch Kontakte. Die Gäste sind dann sehr motiviert und wollen oft etwas spenden, wenn auch vielleicht auf relativ hilflose Art – das geht auch mir so. Es ist ein Teil vom Sich Beeindrucken Lassen, auch eine Art Ablasszahlung für das schlechte Gewissen. Aber es führt dazu, dass man danach anders über Armut und ihre Lösungsmöglichkeiten nachdenkt.

Was sagen Sie zum Reiseportal fairunterwegs.org?

Ich bin sehr begeistert. Mit Christine Plüss bin ich schon jahrelang bekannt. Der arbeitskreis tourismus & entwicklung wächst in eine gute Richtung! Er ist auch etwas weniger ideologisch als zu Beginn. Ich finde es wichtig, dass akte keine Berührungsängste auch mit Massenanbietern hat. Gerade auch darum gefallen mir die Fair-Tipps am Besten. Aber das ganze Angebot überzeugt – auch wenn ich es immer noch zu wenig nutze.
Hans Hurni, Professor für Geographie, Direktor des Nationalen Forschungs-schwerpunkts Nord-Süd der Universität Bern und Stv. Leiter des Zentrums für Entwicklung und Umwelt (CDE) am Geographischen Institut der Universität Bern, Experte für nachhaltige Entwicklung in Drittweltländern und Stiftungsrats-Delegierter der Stiftung Menschen für Menschen. Hans Hurni war auch ein koordinierender Hauptautor des kürzlich erschienenen Berichts des Weltlandwirtschaftsrats.
Rosen, Felix. 2010 (1907). Eine deutsche Gesandtschaft in Abessinien. Nabu Press, 518 S. (nur antiquarisch oder über eine Bibliothek zu finden)
Link zum Download des Reiseberichts von Hans Hurni


Weltlandwirtschaftsrat – International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD)

Basel, 28.08.2008, akte/ Der Weltlandwirtschaftsrat formierte sich 2002 nach dem Vorbild des UNO-Expertengremiums für den Klimawandel IPCC. Wie das Klimagremium sollte auch der Weltlandwirtschaftsrat einen Überblick über das vorhandene Wissen schaffen. Die Schweiz hat als einer von 58 Staaten den Schlussbericht des Weltlandwirtschaftsrates unterzeichnet. Sie war im Rat mit Ko-Präsident Hans Herren, dem leitenden Autor Hans Hurni und weiteren AutorInnen prominent vertreten. Der Bericht ist brisant: Nicht mit Gentechnik oder anderen technischen Angeboten der Agrokonzerne sieht der Rat die Ernährungssicherheit gewährleistet, sondern mit der kleinbäuerlichen, ressourcenschonenden Landwirtschaft. Dieses Fazit entspricht auch der Aussage eines Berichts der Uno-Landwirtschaftsorganisation FAO von 2007. Die WoZ* zitiert Hans Hurni mit der Aussage: "Dass hier erstmals eine solche Bewertung nicht von einer einzelnen Interessengruppe gemacht worden ist und dass man versucht, alle wichtigen Aspekte in einem global ausgewogenen Bericht zu berücksichtigen, das ist für mich das Grossartigste." Während die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit den Bericht unterstützt, hat sich das seco noch nicht dazu geäussert. Die aussenpolitische Kommission des Nationalrats hat den Bericht zur Kenntnis genommen, will aber am Agrarfreihandelskurs des Bundesrats festhalten.

*Quelle: WoZ-Beitrag, Marcel Hänggi vom  "Was die Bäuerin weiss" vom 24.04.2008