Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?

Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny. Das hat auch mit einem Freund von mir aus München zu tun, mit dem ich verschiedentlich zusammengearbeitet habe. Bei Diskussionen sass er still da und sagte erst einmal nichts. Und die Diskussion nahm also ihren Lauf. So zwei Themen später meinte er: "Ich sehe das anders, weil…." – und wir fragten verdutzt, wovon er sprach. Er nannte dann seinen Standpunkt und wir mussten feststellen, dass er etwas beachtet hatte, was uns allen entgangen, aber total wichtig war. Ich lernte von ihm, dass man sich für wichtige Entscheide lieber Zeit lässt.

Oder dass man sich eben mit Menschen zusammentut, welche andere, langfristige, Beobachtungshorizonte haben wie der Kapitän in "Die Entdeckung der Langsamkeit"

Auch Christine ist für mich ein Mensch, der bei ihrer Überzeugung geblieben ist und auch bei ihrer Art zu Denken. Sie verweist immer wieder auf die neuralgischen Themen, die in den Diskussionen gerne unter den Tisch gewischt werden: Nord-Süd, Arm-Reich oder Fairness in den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Sie hat sich einen grossen Namen gemacht durch ihre Kompetenz zu Themen wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Verantwortung der Reiseveranstalter, die Frage, wo das Geld weg- und wo es hinfliesst. Ich war immer wieder froh, auf jemanden wie sie verweisen zu können, die sich auskennt.

Du gehörst im Themengebiet Tourismus und Nachhaltige Entwicklung ebenfalls zu den grauen Eminenzen.

Ich wurde durch eine viermonatige Reise durch Peru und Bolivien im September bis Dezember 1982 sensibilisiert. Am Titicaca-See erlebte ich die Kleingruppen von Amerikanern praktisch als Klischeebild. Schon nur wie sie Titicaca aussprachen! Es klang so wie "Taitaikeikei". Auf einem Indio-Markt in der Nähe von Cusco spazierten einige Rucksacktouristen. Die Frauen verkauften dort traditionelle Getränke, etwa gegorenen Fruchtsaft. Daneben stand aber das Coca Cola und Inka Cola. Diese Flaschen wurden in Lima abgefüllt, wofür teure Lizenzgebühren an Coca Cola fällig wurden. Das Getränk kostete viermal mehr als die einheimischen Getränke, aber das Coca Cola war zum Statussymbol geworden. Ich fragte mich, was da für ein Wertesystem importiert worden war.

Da ich gut Spanisch sprach, fragte ich eine Verkäuferin, was sie davon hielt, fotografiert zu werden. Sie meinte: Es gibt drei Arten von Fotografierenden. Die einen kaufen einen Kuchen und schauen immer weg, wenn ich hinschaue, und wenn ich nicht aufpasse, fotografieren sie mich. Die zweiten schauen voll ins Gesicht und grinsen, fotografieren und gehen. Das stört mich sehr, das will ich nicht! Und da gab es noch ein kanadisches Pärchen, das fragte, ob sie ein Foto machen dürfen. Wir machten dann ein Foto, bei dem wir alle zusammenstanden, die beiden und ich. Und später haben sie mir das Foto geschickt!

Und was hat die Erfahrung bewirkt?

Ich gab an der Münchner Volkshochschule einen Kurs "Reisen in die Dritte Welt" zusammen mit Barbara Pfäffinger. Peter Zimmer gab parallel dazu den Kurs "München als Reiseland: Dritte Welt bei uns." Dann arbeitete ich beim Studienkreis für Tourismus  in Starnberg zu Kinder- und Jugendreisen und gab gleichzeitig den Kurs "Naherholung in München oder erholen wir unsere Alpen kaputt?". Damals kamen die Themen Verbauung der Alpen mit Ferienhäuschen und Parkplätzen und das Waldsterben stärker ins Bewusstsein. Währenddessen richtete Armin Vielhaber den Studienkreis mit den SympathieMagazinen in Richtung Tourismus & Entwickung aus. Ich kannte euren ersten Geschäftsführer, Ueli Mäder, von unserer gemeinsamen Ausstellung "Achtung Touristen", mit der wir zeigten, was der Tourismus an Problemen verursacht oder mitverursacht. Peter Zimmer und ich führten Schulklassen durch die Ausstellung. Wir hatten einen Raum mit blauen Mülltüten und Sand als Strand, eine Plastikpalme, Liegestühle und eine Wurlitzer Musikbox, die immer die gleiche Single spielte: "Carbonara" von der deutschen Band der Achtziger "Spliff", mit einem Text voller italienischer Klischees. Karl Partsch, der "Südtiroler Alpenindianer",  hat auch einen Vortrag gehalten. Wir hatten viel Spass und haben viele Kontakte geknüpft.

Aus diesen und anderen Initiativen vieler befreundeter Organisationen entstand dann an der Internationalen Tourismusbörse Berlin ITB 1986 die Arbeitsgemeinschaft "Tourismus mit Einsicht". Bis 1988 waren wir 17 Organisationen, darunter auch akte, die unter dem Titel "Tourismus mit Einsicht: damit alle mehr davon haben" zehn Einsichten zur Diskussion stellten. Es sind je zehn Leitsätze für Verantwortliche von Tourismusgebieten, Reisende und Reiseunternehmen, die man heute eigentlich nur umdatieren müsste, um sie neu zu veröffentlichen, sie stimmen noch genau wie damals. Unsere Aushängeschilder waren damals Professor Jost Krippendorf und die Journalistin und Globetrotterin Ludmilla Tüting.

Zusammen mit Christine sorgten wir damit an den ITBs zwischen 1987 und 1992 für ziemlichen Wirbel.

Was hat sich in der tourismuskritischen Diskussion seither verändert?

Es gibt mehr Vernetzung und Austausch und Erfolge auf der einen Seite. Aber das wird konkurrenziert durch das ständige Wachstum und die Verdichtung und Multiplikation der Tourismus-Dienstleistungen. Wir alle wissen heute, was zu tun wäre und verstecken uns immer noch hinter Ausreden wie: "Ich kann’s ja nicht ändern", "Anderes ist wichtiger", "Erst mal abwarten".

Seit vielen Jahren informierst du über Zertifizierungssysteme und führst Buch über zertifizierte Unternehmen. Was ist das Ziel dieses Ansatzes?

Wenn ein Unternehmen sagt: "Ich bin gut", braucht’s dafür einen Beleg. Man kann einem einzelnen Menschen glauben, wenn er von einem Engagement spricht, aber eine solche Aussage von einem Betrieb kommt, der mit anderen im Wettbewerb steht, muss es stimmen. Die notwendige Transparenz dazu unterstützen wir mit dem globalen Certification Quickfinder und den Green Travel Maps auf unserem Portal Tourism2030.

Einige Unternehmer sagen, sie seien schon sehr nachhaltig unterwegs, aber sie wollen das nicht an die grosse Glocke hängen.

Wenn ein Reiseveranstalter Produkte auf den Markt bringt, muss man die Komponenten nachprüfen können! Der Reiseveranstalter kann seinen Einfluss auf die Hotels geltend machen, wenn er aufzeigt, dass das zu seiner Policy gehört.

Und wenn er bereit ist, dafür den Preis zu zahlen.

Es ist wichtig, dass das Verursacherprinzip auch im Tourismus mehr respektiert wird, zumal ja auch das CO2 eingepreist werden muss – und eigentlich ja auch die Psychotherapiekosten für die überarbeiteten Angestellten, die unter einem Burnout leiden. Unser Wirtschaftssystem braucht gesetzliche Vorgaben und eine Exekutive, die für deren Durchsetzung sorgt.

Es werden ja immer wieder politische Anläufe unternommen, die Nachhaltigkeitsberichterstattung zur Pflicht zu machen.

Das wäre auf jeden Fall zu begrüssen, auch für Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitenden. Das muss einhergehen mit Kontrollmöglichkeiten, also würden Zertifikate wieder interessant. Allerdings gibt es Bereiche, wo freiwillige Zertifikate nicht reichen, zum Beispiel beim CO2-Ausstoss. Da braucht es Gesetze.

Was sind deine Assoziationen zum Stichwort "Fair unterwegs"?

Sich anständig verhalten. Menschen als Menschen und nicht als Untergebene behandeln. Interessiert und offen sein.

Und wie gefällt dir fairunterwegs.org?

Das ist ein klasse Portal! Ich sähe viele Synergien und hätte viele Ideen, wie wir zusammenarbeiten können. Wir müssen uns zusammensetzen!

Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. Piper, München 2012 (47. Auflage). 384 Seiten, CHF 13.00, EUR 11, ISBN 978-3492207003