Basel, 11.09.2013, akte/

Welches Buch führt dich auf die intensivste Reise?

Sehr berührt hat mich Tony Morrisons "Gnade", englisch "A Mercy". Zeitlich spielt es etwa 150 Jahre vor "Beloved", dem früheren Werk von Tony Morrison, dasMelchior Lengsfeld als Lesereisebuch vorgeschlagen hat. Es beschreibt die faszinierende Geschichte von Jacob Vaark, der 1625 nach Virginia auswandert, mitsamt dem ganzen Immigrationsprozess. Er lässt von England eine Sechzehnjährige namens Rebekka kommen, die als Gemahlin an seiner Seite die Farm führen soll. Doch als seine drei Söhne bei der Geburt und die Tochter nach fünf Jahren sterben, läuft auf der Farm nichts mehr. Vaart wendet sich an den Nachbarn. Der bietet ihm – anstelle des Geldes, das er Vaart schuldet – Sklaven an. Vaart ist empört. Doch er erbarmt sich eines jungen Mädchens namens Florens, das er auf seine Farm mitnimmt.
Morrison zeigt, wie die Immigration der Europäer ein ganz anderes Produktionssystem nach Amerika mit seiner Jäger- und Sammlerkultur brachte. Für das Agrarsystem gab es zu wenige Arbeitskräfte. Also holte man sie sich bei den Indianern und später wurden Sklaven aus Afrika importiert. Im Fokus von Morrisons Roman "Gnade" ist noch nicht die Sklaverei als kapitalistisches Grossunternehmen. Vaart und auch der Nachbar D’Ortega führen eher kleine Betriebe. Was Morrison zeigt ist, dass die Grundwerte, die sich die Vereinigten Staaten zu eigen machten, eigentlich in dieser Zeit der Sklaverei gelegt wurden, in der Sklaven von ihren Herren und Herren von ihren Sklaven abhängig waren.
Vaart stirbt an Windpocken. Seine Farm wird danach geführt von Vaarts Frau Rebekka, von Florens, inzwischen Teenager, und ihrem Mann, einem befreiten Sklaven von Neu Amsterdam, von Lina, einer Indianerin, die miterleben musste, wie ihr Dorf ausradiert wurde, und von Sorrow, der Tochter eines Kapitäns, die bei einem Schiffsunglück fast ums Leben gekommen wäre. Sie alle sind in ihren eigenen Geschichten gefangen und bilden doch eine Schicksalsgemeinschaft.

Welche Grundwerte kommen in dieser Schicksalsgemeinschaft zum Ausdruck?

Sie entwickeln ein Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit. Und sie helfen einander. In dieser kleinen Gruppe besteht zwar keine Gleichheit, die Einzelnen sind nicht glücklich, aber es ist eine Gemeinschaft, in die alle eingebunden sind.

Verklärt diese Sichtweise nicht die Sklaverei? Das war doch genau die Zeit, in der man systematisch die Schwarzen von der Gesellschaft absonderte.

Morrison wählte bewusst nicht Grossgrundbesitzer, die Zucker oder Baumwolle für den Export produzierten und ihre Sklaven vielleicht nicht einmal kannten. Ausserhalb des Hofes leben Schwarze und Weisse wohl in verschiedenen Gesellschaften. Aber Morrison zeigt den Mikrokosmos kleiner Produktionseinheiten, in denen alle sich kennen und Hand in Hand arbeiten müssen, damit das System funktioniert. Die Sklaverei hat sich im 19. Jahrhundert mit der ganzen Exportwirtschaft zugespitzt. Das führte zum globalen Druck, viel und effizient zu produzieren, und dieser Druck wurde auf die Sklaven weitergegeben.

Was an dieser Botschaft berührt dich?

Heute geht man davon aus, man sei von niemandem abhängig. Alle, so scheint es, sind ersetzbar, für alles gibt es eine Alternative. Alles ist im Fluss und nur ein temporäres Arrangement, das so lange aufrecht erhalten wird, wie es gerade nützlich scheint. Die im Buch vorgestellte Gemeinschaft ist dazu ein Kontrapunkt.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Wenn ich unterwegs bin, bewege ich mich durch Gemeinschaften, in die ich nicht eingebunden bin. Fair unterwegs sein heisst, mich so zu verhalten, als wäre ich ein Teil dieser Gemeinschaft, von ihr abhängig und ihr verpflichtet. Das heisst, ich überlege, welche Wirkung mein Verhalten hat, und versuche die negativen Wirkungen zu minimieren und die positiven zu vergrössern.

Nehmen wir an, du machst Ferien in Kerala. Wie sähe das konkret aus?

Erst einmal würde ich mich fragen, ob ich überhaupt dorthin will. Dann frage ich mich, wie ich dorthin komme. Mit dem Flugzeug, das dem Klima schadet und wo ich unter Umständen schlechte Arbeitsbedingungen unterstütze? Kann ich diese schlechten Wirkungen eventuell mit einer Klimakompensation minimieren? Oder fahre ich besser mit einem Frachtschiff, das dorthin fährt? Vor Ort wähle ich vielleicht eher öffentliche Verkehrsmittel als das Mietauto oder das Taxi. Statt Wasser in Plastikflaschen zu kaufen, gibt es die Möglichkeit, welches abzukochen oder aufzubereiten mit Fluortabletten, damit ich gesund bleibe. Dann überlege ich mir, wo ich mein Geld ausgebe. Ich bevorzuge lokale anstatt importierte Lebensmittel und Getränke. Ich würde gerne dort übernachten, wo mein Geld der lokalen Bevölkerung zugute kommt und sie selber die Ressourcen kontrolliert. In internationalen Hotelketten kontrollieren lokale Arbeitskräfte oft weder ihre Arbeitsleistung noch was am Schluss an Gewinn im Land bleibt. 
In Kerala würde ich sicher gerne ins Indian Coffee House gehen. Das ist eine der grössten von Angestellten kontrollierten Firmen in Indien. Ich gehe dort meinen Kaffee trinken und nehme auch gleich dort meine Mahlzeiten ein, denn da weiss ich, dass dank der genossenschaftlichen Organisation die Leute vor Ort profitieren. Statt mein Geld bei nicht demokratisierten grossen Leistungserbringern liegen zu lassen.

Mit Genossenschaften verbinde ich die Erinnerung von nicht enden wollenden Vollversammlungen.

Das ist ein Klischee. Es gibt beispielsweise in Mondragon in Spanien eine sehr grosse  Produktionsgenossenschaft für Industriegüter, Banken und andere Dienstleistungen. Die sind sehr weltgewandt. Und ich spreche immer noch von Genossenschaften, in denen die Angestellten die Anteile halten, nicht von Konsumentengenossenschaften à la Migros, wo die Angestellten nicht mehr zu sagen haben als anderswo. Man kann nicht alles in einen Topf werfen.

Du scheinst dich in Kerala schon etwas auszukennen. Aber wie macht das jemand, der sich weniger gut auskennt?

Er oder sie fragt im Reisebüro nach Möglichkeiten, so zu reisen, dass die Wirkung auf die lokale Gemeinschaft und ihre Ressourcen gut oder möglichst nicht schlecht ist. Diese Information zu geben ist eine Dienstleistung, die der Reiseveranstalter erbringen könnte – und sollte. Aber wer Ferien macht, sollte sich im Voraus und vor Ort eingebunden verhalten und für andere möglichst keinen Schaden anrichten. Wir alle auf diesem Planeten sind miteinander verknüpft und voneinander abhängig. Oft fehlt es an diesem Bewusstsein.

Was tust Du, um das Bewusstsein wieder zu pflegen?

Es gibt verschiedene Strategien. Eine ist die Gründung oder Mitgründung von Institutionen und Arbeitsorten, wo die Betroffenen selbst ihre Arbeit kontrollieren. Wenn man den eigenen Arbeitsort kontrolliert, hat man eher ein Interesse, mit sich und anderen weniger schadbringend umzugehen und wird eher ökologische Kriterien erfüllen.

Was sind deine Erfahrungen damit?

In der Genossenschaft Netz Soziale Ökonomie vereinen sich demokratisch geführte Betriebe und Organisationen mit dem Ziel, unser Dasein lokal, sozial und ökologisch nachhaltig zu gestalten. Darum herum gibt es auch viele Einzelpersonen und Geschäfte, die mit uns an dieser Zielsetzung arbeiten. Wir unterstützen uns gegenseitig und suchen die spiralförmige Synergie in Richtung Nachhaltigkeit. Wir setzen auf erneuerbare Energien, lokal produzierte Lebensmittel und Dienstleistungen. Wir gründen neue Kleinbetriebe und Lokalmärkte und haben unsere eigene Alternativwährung. Die Soziale Ökonomie ist ein kleiner Kontrapunkt zu einem ganz anders laufenden weltweiten System. Damit haben wir vor 17 Jahren angefangen. Die Soziale Ökonomie ist eine Art "Soziotop" mit organischem Wachstum. 

Auch der arbeitskreis tourismus & entwicklung ist Teil des Netzes Soziale Ökonomie in Basel. Wie findest du sein Reiseportal?

fairunterwegs.org bereitet Informationen auf, wie ich als Reisender auf weniger schädliche Weise unterwegs sein kann. Diese Information bereitzustellen ist eine grosse Aufgabe und eine wichtige Herausforderung, wenn wir in Richtung Nachhaltigkeit gehen wollen. Es braucht dafür fairunterwegs.org, aber auch die Reiseveranstalter. Und es braucht in den Buchhandlungen noch viel mehr spezialisierte Travel Guides, die den Fragen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit mehr Gewicht geben.

Bücher von Isidor Wallimann:

Isidor Wallimann, Michael N. Dobkowski (Hsg.): Das Zeitalter der Knappheit. Ressourcen, Konflikte, Lebenschancen. Paul Haupt Verlag, Bern 2003, ISBN 3-258-06594-2

online vollständig zu lesen auf Google Books
Esteban Piñeiro, Isidor Wallimann: Sozialpolitik anders denken. Das Verursacherprinzip, von der umweltpolitischen zur sozialpolitischen Anwendung. Paul Haupt Verlag, Bern 2004, ISBN 3-258-06660-4
online vollständig zu lesen auf Google Books
Mehr zum Netzwerk Soziale Ökonomie Basel: www.viavia.ch/netzbon
Mehr zum Urban Agriculture Netz Basel: www.urbanagriculturebasel.ch

Tony Morrison: Gnade. Rohwolt Taschenbuch, Zürich 2011, 224 Seiten, CHF 14.50, EUR 8.99, ISBN 978-499-24962-4