Du warst kürzlich in den Ferien. Mit welcher Lektüre hast du dich eingestimmt?

Auf dem Weg nach Chile hatte ich einen längeren Zwischenhalt in Amsterdam. Solche Zwischenhalte nutze ich gerne, um in den Bücherläden des Flughafens zu stöbern. Dort fand ich "Satoru und das Geheimnis des Glücks. Reisebericht einer Katze" der japanischen Autorin Hiro Arikawa. Kater Nana beschreibt, wie er mit seinem Halter Satoru zu allen Menschen reist, die auf Satorus Lebensweg eine Rolle gespielt hatten. Erst gegen den Schluss wird klar, dass Satoru eigentlich eine Bleibe für Nana sucht, weil er nur noch kurze Zeit zu leben hat. Die Beschreibung der Freundschaft zwischen Satoru und Nana ist sehr berührend, ebenso der tiefe Blick von Nana auf die unterschiedlichen Menschen.

Von meiner Schwester habe ich das Buch "Somos polvo de estrellas" (Wir sind Sternenstaub) des chilenischen Wissenschaftlers José María Maza übernommen. Der Autor schreibt über den Big Bang, den Anfangsmoment von Allem. Er geht der Frage nach, wie wir ganz einfach kommunizieren können, wer wir sind. Ich selbst habe einmal mit der Idee gearbeitet, dass wir alle Sternenstaub sind. Und der chilenische Filmschaffende Patricio Guzman macht im Film "La nostalgia de la luz" eine Analogie zwischen Forschern, die in der Atacama-Wüste in den Himmel blicken und den Ursprung des Universums erkunden, und den Frauen, die im Wüstensand um die Observatorien herum nach sterblichen Überresten ihrer Liebsten suchen, die Opfer der Militärdiktatur geworden sind. Der Film lief vor drei Jahren auch in Basel. Das Buch von Maza verband sich wunderbar mit meinen eigenen Erfahrungen und dem Film.

Du bist selbst Chilenin. Wie hast du den Putsch und die Militärdiktatur überlebt?

Ich war in der Sekundarschule, als Allende  gestürzt wurde. Ich war sehr jung, aber politisch engagiert. Viele meiner Freunde wanderten ins Gefängnis, einige "verschwanden". Mein Vater, der einem Regionalgericht vorstand, stand Allende zu nahe und wurde daher ganz weit in den Norden versetzt. Damit änderte sich das Leben für uns. Ich ging in den Untergrund. Ich versteckte mich nicht äusserlich, aber ich veränderte mein Profil.

Ich stelle mir das sehr schwer vor, den Leuten eine Lügengeschichte über das eigene Leben zu erzählen, gerade auch Freunden oder Verwandten. 

Es ist nicht einfach zu erzählen, es war eine so komplexe Zeit. Vieles ist immer noch nicht abgeschlossen, ich muss immer noch Menschen treffen, mit ihnen reden, sehen, wie es für sie war. Es ist für mich immer noch eine schwierige Zeit. 

Wie versuchst du das Erlebte aufzuarbeiten?

Es gibt Bücher, die mich dabei inspirieren. Zum Beispiel "Das Dritte Reich" des chilenischen Autors Roberto Bolaño. Es ist ein fiktives Tagebuch des Stuttgarters Udo, der mit seiner Freundin Ingeborg die Ferien an der Costa Brava verbringt. Udo nutzt den Urlaub, um an einer Strategie zu arbeiten, mit der er das Kriegsspiel "Aufstieg und Fall des Dritten Reichs" bei den nächsten Meisterschaften spektakulär gewinnen kann, indem er die Achsenmächte zum Sieg im Zweiten Weltkrieg führt. Bald dreht sich für Udo alles nur noch ums Spiel. Er findet den Tretboot-Verleiher El Quemado als Mitspieler, einen Lateinamerikaner mit entstellenden Brandnarben.  Erst im Verlauf des Romans stellt sich heraus, das El Quemado von den Nazis so entstellt wurde. Die Spannung im Roman entsteht aus der Erwartung der Lesenden, dass El Quemado sich rächen werde.

Oder ein anderes ist von Chimamanda Ngozi Adichie, einer meiner Lieblingsautorinnen. Als ich in Nigeria war, las ich "Die Hälfte der Sonne". Es gefällt mir immer noch am besten von all ihren Werken. Viel davon erinnert mich an die Bürgerkriegszeit in Chile. Sie beschreibt den hoffnungsvollen Aufbruch in Biafra, der schliesslich in der grossflächigen Vernichtung der Igbo-Ethnie mündet. Das Ganze hat einen historischen Rahmen, ist aber Fiktion – eine Form, die mir gefällt.

Und du hast nach dem Ende der Pinochet-Diktatur auch ein Projekt zum Erinnern mitentwickelt.

Ja, von 2003-2013 arbeitete ich an "Memories". Ich sammelte Erinnerungen von Menschen, die in der Zeit der Diktatur lebten. Wir machten das mit einer wissenschaftlichen Begleitgruppe der "Universidad Academia de Humanismo Cristiano" mit dem Ziel, Intergenerationengespräche in Gang zu bringen. Wir wollten, dass die junge Generation weiss, was damals geschehen ist. 2003 lancierten wir ein Seminar an der Uni, unterstützt von der Unesco. Von da an entwickelte es sich weiter, während zehn Jahren. Wir konnten sicherstellen, dass alle Studierenden ein Bewusstsein für diese Epoche bekamen. Das war meine Hauptaufgabe, bevor ich in die Schweiz kam: Mit Studierenden und auch mit alten Menschen zusammenarbeiten,  identitätsstiftende Geschichten erzählen, wir machten auch ein Video, liessen die Jungen selbst über die Zeit recherchieren, suchten Orte, wo sich Geschichten abgespielt hatten, machten Interviews mit verschiedenen Personen, die wir nach dem Schicksal ihrer Familie befragten. Zuerst  wollte niemand darüber reden, aber dann wurde die Beschäftigung mit der Diktatur zu einem  festen Teil des Studiengangs. Es war ein Mainstreaming von Menschenrechten, Gender und Interkulturalität gleichzeitig für alle Studiengänge der Universität.

Du warst in dieser Zeit bereits als Abgeordnete der Missionssynode in der Schweiz zu Besuch. Wann bist du in die Schweiz gezogen?

Ich übernahm die Stabsstelle Frauen und Gender 2013. Zuvor hatte ich mich schon lange für Genderthemen engagiert und 1992 mit anderen das Kollektiv "Con-spirando" ins Leben gerufen. Wir veröffentlichten unter dem gleichen Namen ein ökofeministisches Magazin, feierten zusammen spirituelle Rituale, dachten über Care-Arbeit nach. Wir suchten nach Praktiken, die wir transformativ nannten, und bauten ein Netzwerk von Frauen für Frauen auf.

Judith Butler hat mich für meine Arbeit inspiriert. Die US-amerikanische Philosophin analysiert, wie wir Realitäten schaffen. Butler begann mit der Frage der "Körper von Gewicht", wo es um Gender ging, jetzt geht es um Leben: Heute können Grossunternehmen Realitäten schaffen, in denen einige Leben als lebenswert gelten und in denen man mit den anderen tun darf, was man will. Wo plötzlich Menschen wie Trump, Bolsonaro oder in Europa auch Salvini, Orban und andere gewählt werden. Das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Ich möchte mich in meiner Arbeit mehr mit  anderen darüber austauschen, wie wir im Zeitalter der Fake News und der schnellen Kommunikationskanäle sensibler auf diese unmenschliche gesellschaftliche Meinungsbildung reagieren können. Was können wir als glaubensbasierte Organisation tun, die sich für verletzliche Menschen einsetzt, wobei mir verletzlich als Begriff nicht gefällt, vielleicht eher für Menschen, die besonderen Risiken ausgesetzt sind, denen wir besonders Sorge tragen müssen? Genau diese Menschen werden doch oft zu den "überflüssigen".

Und was ist eine mögliche Antwort auf diese Frage?

Der einzige Weg sind sichere Begegnungs- und Austauschzonen im realen Leben. Wo alle sein können, wie sie sind. Geschichten erzählen, Erfahrungsberichte austauschen, voneinander lernen. Ich denke, dass ist ein Teil unserer Arbeit,  Menschen und ihre verschiedenen Narrative und Sichten zusammenzubringen. Ich glaube sehr, dass die Menschen sich in der Begegnung verändern. Und zwar durch Liebe. Man ist aus Liebe auch bereit, das Gegenteil des Üblichen zu machen, aus Vertrauen in die andere Person. 

Ich mag es, dass Menschen in der Schweiz und in Deutschland sehr praktisch sind, und dass die Projekte wirklich den Frauen und Männern an der Basis zugutekommen. Das möchte ich nicht ändern. Aber was mir manchmal fehlt ist die Verbindung zwischen der Mikro-, der Meso- und der Makroebene. Das versuchen wir mit der Advocacy-Arbeit zu tun: Mehr die politischen und strategischen Themen mit den Menschen zusammenzubringen, die im Feld arbeiten.

Zum Beispiel die globalen Entwicklungsziele oder die Menschenrechte, wie wir das bei fairunterwegs.org tun?

In jedem Programm, egal ob Landwirtschaft, Friedenssicherung, müssen wir zeigen, wie wir damit die globalen Entwicklungsziele der Agenda 2030 umsetzen helfen. Die Staaten müssen eigentlich die Ziele umsetzen. Und weil sie es nicht  im nötigen Mass tun, müssen wir einspringen. Ich denke, für uns gehört es jetzt dazu, die Verbindung  zwischen der Arbeit am Boden und der gemeinsamen Entwicklungsagenda zu machen. Auch wenn in der Vision von Mission 21 mit anderen Worten steht, für wen wir arbeiten, entspricht es dem Grundsatz "Leave no one behind".

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Erst einmal heisst es achtsam sein auf die Widersprüche, mit denen wir leben, auch wenn das unangenehm sein kann. Aber dann kann ich die Konsequenzen meiner Entscheide besser abschätzen. Für mich gibt es viele Ansatzpunkte. Einer meiner Enkel, Emilio Amaru, ist 17 und wurde vegan, und meine Tochter wurde dann auch vegan, der ganze Haushalt. Als ich dort war, merkte ich, ich kann die Beweggründe verstehen. Die Wirkungen des Fleischverzehrs wurden mir sehr bewusst. Ich dachte, ich muss gegenüber Tieren auch fairer werden. 

Ansonsten heisst es auch, auf sich selbst achtzugeben, sich genügend zu bewegen. Ich versuche einmal pro Woche Nordic Walking zu praktizieren. Damit ich nicht den ganzen Tag in einem Büro sitze. Wir müssen bei uns selber anfangen, bei unserem Körper, und dann werden viele Dinge viel logischer. Ich kann nicht über Selbstfürsorge schreiben und ein Programm entwickeln, das Selbstfürsorge unterstützt, wenn ich nicht Selbstfürsorge praktiziere. Mit den Beziehungen ist es dasselbe. Der ganze Wandel, der mit der Gender Perspektive einhergeht, hat mit Respekt für das Anderssein zu tun. Wir können nicht Genderarbeit machen, wenn wir in unseren alltäglichen Beziehungen respektlos sind. Dann lohnt es sich auch nicht, eine Strategie dafür zu entwickeln. Strategien sind der Rahmen, aber nur, wenn wir Konkretes umsetzen können.

Ich habe auch eine Vision für die Ferien der Zukunft: Ich habe ein kleines Grundstück. Meine Vision dafür ist ein Meditationsort für Reisende. Es ist nahe der Berge auf dem Weg nach Argentinien in der 7. Region Armerillo. Mir gefällt die Idee des Privatbesitzes nicht. Aber jetzt muss ich mich daran gewöhnen, und das kann ich nur, indem ich das Grundstück für alle zugänglich mache. Anfangs kamen Freunde und bauten einen Weg. Ich engagierte meine Schwestern, meine Neffen und Enkel. Sie haben jetzt Aufgaben. Es soll nicht nur für die Familie sein, sondern auch für Wandernde. Es ist an einem sehr schönen Ort vor den Bergen. So kann ich die Idee wieder aufnehmen, dass wir alles teilen können. Alle die Systeme, die wir in den 70ern entwickelten, funktionierten nicht. Die Frage der Gemeinschaftlichkeit müssen wir heute neu stellen. Das ist für mich das Hauptziel.

Fair ist für mich verwandt mit Teilen: Teilen von Dingen, von Reisen, von einem Stück Land, ohne immer profitieren zu wollen. Das ist meine Idee einer künftigen Reisekultur: Wenn wir unsere Wohnung grad freihaben, darf sie jemand anderes nutzen.

Und wie gefällt dir fairunterwegs.org?

Ich brauche mehr Zeit, um das Reiseportal vertieft anzusehen. Aber ich brauche diese Herausforderung, über Möglichkeiten nachzudenken, die wir noch nicht leben. Das ist eine wichtige Rolle für fairunterwegs. Ihr stellt die richtigen Fragen, aber ich muss mir noch überlegen, wie ich selber aktiver werde. fairunterwegs ist auch politisch, das macht Sinn! Wenn Mitarbeitende von Mission 21 in verschiedene Kontinente reisen, können sie bei euch vorbeikommen? 

Lese-Empfehlungen

Hiro Arikawa: Satoru und das Geheimnis des Glücks. Reisebericht einer Katze. Aus dem Japanischen von Dorothea Überall, Alexandra Klepper. Heyne Taschenbuch, München 2017, 240 Seiten, EUR 9,99 [D] inkl. MwSt., EUR 10,30 [A] | CHF 14,50 * (* empf. VK-Preis), ISBN 978-3-453-42168-4

Roberto Bolaño: Das Dritte Reich. Hanser, München 2011, 316 Seiten, EUR 21.90, CHF 31.90, ISBN 978-3-446-23610-3

José María Maza: Somos polvo de estrellas. Planeta Chile (4. Juli 2017), 95 Seiten, Kindle Edition 8933 KB, ASIN: B076DKLKH4 

Chimamanda Ngozi Adichie: Die Hälfte der Sonne. Übersetzt von Judith Schwaab. Fischer, Frankfurt a.M. 2016, 640 Seiten, CHF 19.90, EUR (D) 14,00, EUR (A) 14,40, ISBN: 978-3-596-03548-9