Welches Buch führt Dich auf die schönste Reise?

Da fallen mir gleich drei Bücher ein. Das erste heisst "In other rooms, other wonders", vom Pakistaner Daniyal Mueenuddin, und spielt in Pakistan. Es sind acht verschränkte Geschichten rund um die reiche Harouni Familie (Manager, Gärtner, Koch, Angestellte). Dabei wird sichtbar, wie die Klassen/Kastengesellschaft funktioniert, ohne dass der Autor wertet. Niemand gewinnt oder verliert. Es ist auf eine stille Art sehr packend.
Das zweite ist "Anils Geist", vom srilankischen Autor Michael Ondaatje. Es spielt im blutigen Bürgerkrieg, der Sri Lanka in den Achtziger- und Neunzigerjahren auseinanderriss. Die Protagonistin, Anil Tissera, verliess ihre Heimat Sri Lanka im Alter von 18 Jahren und kehrt nun 15 Jahre später als Mitglied einer internationalen Menschenrechts-Untersuchungsmission zurück. Die Leichen tauchen hier wöchentlich auf. Der Höhepunkt des Terrors fand in den Jahren 1988-89 statt, aber er fing natürlich schon lange vorher an. Beide Seiten töteten und vertuschten. Es lief alles über Geheimkommandos und -gangs ab.
Und das dritte ist eigentlich kein einzelnes Buch, sondern generell die Bücher des polnischen Reporters Ryszard Kapuściński. Ich finde inspirierend, wie er schreibt, und interessant zu sehen, wie sich die Länder und Gesellschaften verändern. Ich bin jetzt in Asien, wo er Jahrzehnte vorher war, und manchmal blättere ich in seinen Büchern und vergleiche.

In dieser Zeit ist vieles anders geworden.

Ja, früher war die Arbeit des Reporters umständlicher, sie hatten viel mehr Alltagsprobleme. Damals gingen sie auf Exkursion, manchmal monatelang, und schickten den Bericht dann per Telegramm oder Fax, Telefon war oft ein Problem oder teuer, Internet gab es nicht. Da hat sich vieles geändert. Aber man ist auch schneller und sicher auch oberflächlicher geworden. Heute gehe ich nach Pakistan und muss am gleichen Tag berichten. Es gibt auch nicht mehr so vieles zu entdecken, über das noch nie geschrieben wurde.

Du bist aber eine Entdeckerin geblieben?

Der Geist der Entdeckerin steckt schon auch in mir. Aber nur als Beispiel: Früher war der Himalaja ein weithin unbekannter Ort. Heute leidet die Region unter dem Massentourismus.

Hat dich deine Erfahrung im Nahen Osten gut vorbereitet für Indien?

Ich finde schon. Zum einen habe ich gelernt, mit Problemen und schwierigen Situationen umzugehen. Ich wohne in einem besseren Wohngebiet in Delhi. Trotzdem: Mal dringt der Monsunregen ins Haus, mal geht das Telefon nicht, da sind immer Alltagsprobleme zu bewältigen. Als ich in Pakistan bei den Flutopfern war, half mir die Erfahrung, wie man sich in einem Krisengebiet bewegt, wie man den Übersetzer oder den Chauffeur organisiert. Und mein Nervenkostüm ist sicher auch stärker als normal, dank der Erfahrung im Nahen Osten und auch schon von zu Hause her: Meine Mutter steht mit beiden Füssen auf dem Boden, mein Vater ist weit gereist. In Indien muss man einfach Gelassenheit lernen. Es fällt schon noch etwas schwer, auch einmal zu sagen, das geht jetzt nicht auch noch, jetzt bremse ich.

Was nervt dich am meisten in Indien?

In Delhi muss man für alles kämpfen, egal ob man in die Rikscha steigt oder mit dem Elektriker verhandelt. Sehr viel ist hier in dieser Grossstadt Geld-orientiert. Und dann nervt mich, dass die Leute derart imprägniert sind vom Klassen/Kastendenken. Gestern bekam ich eine Gasleitung von meinem Landlord. Gleichzeitig meinte er, meine Haushälterin brauche das ja nicht. Das ist so typisch und nervt mich gewaltig. Gesundheitlich ist es hier eine Herausforderung: die Dreckluft, extreme Temperaturen, Käfer, Tropenkrankheiten… Aber die Arbeit macht Spass.

Du bist jetzt seit einem Jahr in Indien. Hast Du Heimweh?

Mein Vertrag sieht vor, dass ich vier bis sechs Jahre bleibe. Ich habe alle Länder, über die ich berichte – bis auf Afghanistan –  ein- oder zweimal bereist: Indien, Bangladesh, Sri Lanka, Nepal, Malediven, Pakistan. Doch das war nur ein Schnuppern, es braucht viel Zeit, bis ich eine Ahnung habe. Ich habe bereits ein gutes soziales Netz. Die Gemeinschaft der Journalisten ist hilfsbereit und macht nicht auf Konkurrenz. Und ich telefoniere recht häufig mit Freunden in der Schweiz und werde auch von vielen besucht. Die bringen mir dann Camembert und Cervelat.

Was bedeutet dir das Reisen?

Reisen ist für mich Nahrung. Reisen ist für mich lernen. Es ist eine Herausforderung, ich rede mit den Leuten, erhalte Informationen aus erster Hand, was mir vieles erst verständlich macht. Ich reise unterschiedlich: In Pakistan oder in vielen Bundesstaaten hier will man an vielen Orten lieber nicht übernachten, weil es so schmutzig ist, und dann gibt es immer wieder diese himmlischen Ecken, die einen alles vergessen machen.

Was bedeutet für dich faires Reisen?

Dass ich nicht für ein Zimmer 300 Dollar zahle, wenn der Angestellte 30 Dollar pro Monat erhält. Ein Ausgleich, was die Sache kostet und was die Angestellten erhalten. Und wie ein Resort aufgebaut ist, wie ökologisch, ob Land genommen wurde dafür. Meine Flugbilanz ist extrem schlecht. Israel/Palästina war winzig, da konnte ich mich mit dem Auto bewegen. Wenn ich aber aus Delhi raus will, muss ich fast immer fliegen. Ansonsten könnte ich weniger aus Pakistan berichten und wer weiss, vielleicht gäbe es dann auch weniger Spenden für die Flutopfer. Da muss man wohl eine Mischrechnung machen.
Eine klassische All-inclusive-Touristin bin ich nicht. Ich gehe dorthin, wo ich von den Leuten erfahre, wie sie leben, was sie machen und wieso. Der journalistische Blick begleitet mich überall hin. Vor kurzem fanden die Commenwealth-Spiele statt. Da gab es in Delhi plötzlich keine Bettler und keine Kühe mehr auf den Strassen. Das Strassenbild wurde von schicken Autos geprägt. Das war seltsam und doch typisch für die stolze Nation Indien, die lieber die Probleme vertuscht. Wer als Tourist hierherkommt, erlebt in den Rajputen-Palästen und mit den Ayurveda-Kuren ein Indien, zu dem nur ein winzig kleiner Teil der Bevölkerung Zugang hat. Hunderte von Millionen von Menschen jedoch leben immer noch ohne Strom und fliessend Wasser. Ich fände es gut, wenn die Touristen mehr auch von diesem Indien zu sehen bekämen.

Wie wichtig findest du den Fairen Handel, allgemein und im Tourismus?

Der Faire Handel ist extrem wichtig und es besteht ja so die Hoffnung, dass vom Ertrag zumindest ein grösserer Teil als im konventionellen Handel zu den wahren Arbeitern gelangt. Wenn man in der Schweiz sitzt und Kaffee trinkt, überblickt man vermutlich nicht die ganze Handelskette. Deshalb braucht es spezialisierte Organisationen, die uns in dieser Orientierung helfen. Dabei ist die Öffentlichkeitsarbeit sehr wichtig. In Bangladesch habe ich erfahren, dass die Textilarbeiterin nur 30 Dollar pro Monat verdient. Da stimmt doch etwas nicht, wenn wir pro T-Shirt 60 Franken zahlen.
Ich habe auf fairunterwegs.org gesurft und gesehen, dass es ein Siegel für faire touristische Angebote in Südafrika gibt. Ausserdem viele Angebote auch in anderen Ländern, die in eine ähnliche Richtung gehen. Das muss viel breiter bekannt gemacht und auch besser in die Arbeit der Reisebüros integriert werden. Im Reisebüro müssten die Berater einen Prospekt zu Fairen Reisen zücken können und sagen: Das ist der Prospekt für die an sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit interessierte Kundschaft, der andere ist für Normalverbraucher. Faire Reisen bieten Gästen die Möglichkeit, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen und wirklich etwas vom Land und den Leuten zu erfahren, statt einfach in einer All-inclusive-Blase zu leben.


Lesetipps von Karin Wenger:

Mueenuddin, Daniya: In other rooms, other wonders. Bloomsburry Verlag. 224 Seiten. CHF 13.50, EUR 10.10 (unverbindliche Preisangabe).
Ondaatje, Michael: Anils Geist. dtv. 336 Seiten. CHF 15.50, EUR 9.50 (unverbindliche Preisangabe).
Ryszard Kapuściński: Meine Reisen mit Herodot. Piper. 368 Seiten. CHF 17.90, EUR 10.00 (unverbindliche Preisangabe)