Welches Buch führt dich auf die intensivste Reise?

Ein Klassiker der Reiseliteratur im 19. Jahrhundert: "Der malaiische Archipel" von Alfred Russel Wallace. Es ist hochfaszinierend, wie sich Wallace während seiner acht Jahre Aufenthalt in Südostasien als Naturforscher betätigte. Er fand über tausend neue Arten, vor allem viele Insekten, und sammelte entsprechend viele Proben. Er beschreibt eine Inselwelt, die in Europa unbekannt ist. Seine Erzählung und Reisebeschreibung im Rückblick nach acht Jahren ist durchaus von literarischer Qualität – und Wallace konnte nach seiner Heimreise davon leben. Aber er war eben auch ein beachtlicher Wissenschaftler, der unabhängig von Darwin auf ähnliche Erkenntnisse über Ursprung und Evolution kam. Wallace und Darwin haben später Korrespondenz geführt, aber Wallace lieferte wirklich eine Pionierarbeit zu Südostasien. Natürlich kann man kritisieren, dass die Naturwissenschaften damals immer einen kolonialen Anstrich hatten.

Was meinst du damit?

Naturwissenschaften und Ethnologie gingen im tropischen Raum immer Hand in Hand mit den kolonialen Strukturen. Sie dienten Herrschaftsstrukturen und zementierten die ungleichen Verhältnisse. Auch heute als NGO müssen wir uns dessen Bewusstsein sein. Um nicht der Arroganz der Satten zu verfallen, müssen wir uns immer fragen, mit welchem Recht wir intervenieren, und die weltweiten Verhältnisse im Blick haben.

Ich fragte vor vielen Jahren Bruno Manser, ob es den Penan in Sarawak immer besser diene, ihre angestammte Lebensweise zu bewahren, oder ob nicht an manchen Orten eine Assimilation an die moderne Gesellschaft auch in ihrem Interesse sein könnte.

Bruno Manser hatte hier sicher eine andere Haltung als ich. Als Historiker hat mich von Anfang an gestört, dass die Penan in den Schriften von Bruno Manser keine Geschichte haben. Sie erscheinen gleichsam als edle Wilde im Naturzustand der Menschheit – ein Klassiker der Projektion. Weisse Rajas von Borneo nannte man die Herrscher der englischen Familie Brooke, die im 19. und 20. Jahrhundert in Sarawak an der Nordküste Borneos ein privates Königreich aufbauten. Charles Hose, ein Beamter der Brookes, schrieb ein Buch mit dem Title "The natural man", in dem er die Penan gleichsetzte mit dem "Edlen Wilden" des Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Bruno Manser reiste ohne historisches Bewusstsein über den kolonialen Hintergrund nach Sarawak. Er machte es der Regierung Malaysias einfach, ihn als "neuen weissen Raja" zu diskreditieren.

Nach Sarawak bin ich nie gereist, aber ich war 1998 in der Nachbarprovinz Sabah. Die Indigenen, mit denen ich sprach, waren von Bruno Manser begeistert.

Nachdem die Briten sich 1963 aus Sarawak zurückgezogen hatten, nahm die Regierung des neuen Staats Malaysia wenig Rücksicht auf die Indigenen. Sie war an der Ausbeutung der Rohstoffe interessiert. In den letzten 25 Jahren wurde praktisch der gesamte Tieflandregenwald kaputtgemacht und durch Palmölplantagen ersetzt. Profitiert haben nicht die Indigenen, sondern das Big Business, insbesondere sechs lokale Firmen. Es war Bruno Mansers Schicksal, auf der Seite seiner indigenen Freunde gegen das Unrecht zu kämpfen.

Aber was wollen die Penan heute?

Sie wollen Bildung und Entwicklung. Wir unterstützen sie bei einer autonomen Entwicklung ohne Zerstörung der natürlichen Ressourcen. Die jungen Penan wollen auch Handys oder einen Laptop, aber dafür wollen sie nicht den Regenwald kaputtmachen. Die Konflikte gehen weiter, aber aus unserer Sicht geht es weniger um den Erhalt der traditionellen Lebensweise – da müssen die Betroffenen selber entscheiden. Einige arbeiten nicht mit uns, sondern mit den Holzfirmen. Wir arbeiten mit denjenigen Dörfern zusammen, die den Wald schützen wollen.

Dafür gab es ja auch das touristische Projekt des Penan Peace Parks

Ja, in dem Zusammenhang haben wir vor ein paar Jahren mit euch Standards für Community Based – Tourismus entwickelt. Die Penan möchten Tourismus, sie sind gastfreundlich und können mit ihren Kenntnissen von Wald und Pflanzen auch viel bieten. Sie haben Leitsätze zum Verhalten von Touristen formuliert. So wird zum Beispiel im Peace Park kein Alkohol konsumiert. Für bestimmte Angebote gibt es feste Tarife, die es zu respektieren gilt. Die Erträge aus dem Tourismus werden in der Gemeinschaft geteilt, und zwar innerhalb eines Dorfes wie auch zwischen den Dörfern, damit es nicht zu Neid oder Missgunst kommt.

In einem Tal gab es verschiedentlich Konflikte, weil die TouristInnen immer das gleiche Dorf besuchten. Wir sind selber kein Reiseveranstalter, aber wenn die Communities das wollen, vermitteln wir. Wir sassen mit den Reiseveranstaltern und Dorfvertretern zusammen. Die Penan pflegen eine egalitäre Struktur in ihrer Gemeinschaft. Es gibt etwa 80 Penan-Dörfer, und wir arbeiten mit der Hälfte bis zwei Dritteln davon. Jede Community organisiert sich selbst -, als Jäger und Sammler lebten sie nomadisch und haben daher keine komplexe arbeitsteilige Gesellschaft entwickelt.

Erschwert das nicht die Zusammenarbeit, wenn niemand für alle sprechen oder die Verantwortung übernehmen kann?

Ein Freund aus Sarawak hat mir den Unterschied erklärt: "Im Westen entscheiden die Menschen individualistisch. Bei uns geht die Community vor. Meistens entscheiden wir gemeinsam." Immer wieder brechen Communities auseinander, weil man lieber auseinandergeht, als Konflikte auszutragen. Das nutzen die Holzgesellschaften gerne aus.

Doch unsere Partnerschaft mit den Penan ist stabil. Sie haben eine Vertretung nach aussen gewählt, die von den Communities breit unterstützt wird. Der Bruno Manser Fonds blickt auf eine zwanzig- bis dreissigjährige Beziehung mit den Penan zurück. Da ist etwas gewachsen, das hält, auch in fünf Jahren noch.

Ein wichtiges Projekt war ja die Kartierung der Penan-Gebiete

Das waren 15 Jahre Arbeit, die auch Resultate gebracht hat. Letzten Herbst hat sich eine kleine Gemeinde einer Holzgesellschaft entgegengestellt, mit einer Blockade und einer Karte. Sie konnten so ihr Recht auf das Land belegen und die Holzgesellschaft musste abziehen.

Wie sicher sind die traditionellen Rechte auf das Land?

In der Kolonialzeit erliessen die Briten ein restriktives Landgesetz, in dem Indigenenrechte  nur über landwirtschaftlich genutzte Flächen anerkannt wurden. Alles andere Land wurde als Staatsland deklariert. Das ist bis heute ein Problem für die Gemeinschaften, die den Wald schon immer vielfältig genutzt haben. Die Communities haben die Möglichkeit zu verhandeln, aber tendenziell sitzen die Regierung und die Konzerne am längeren Hebel. Die Rechte sind ungesichert. Es gibt zahlreiche Landkonflikte.

Du studierst ja Jus. Nützt dir das für deine Arbeit?

Ich sehe das als eine Weiterbildung. Und ja, erstaunlicherweise hat es mir schon recht viel genützt, gerade in der gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Tochter des Gouverneurs Taib. Aber ich bin immer noch hauptsächlich Historiker.

Was bedeutet für dich fair unterwegs sein?

Fair unterwegs zu sein bedeutet für mich, Respekt gegenüber Menschen, gegenüber den Natur- und Kulturschätzen und gegenüber den Traditionen entgegenzubringen. Es heisst für mich, Neugier und aufrichtiges Interesse an einem Ort aufbringen, den ich besuche. Ansonsten kann ich auch zu Hause bleiben. Letztes Jahr war ich in der Budapester Innenstadt – die überschwemmt wird von Touristen. Ich war ziemlich geschockt von der schieren Masse und der Mentalität vieler Gäste dort.

Als Antwort auf den Overtourism finde ich es gut, Nebendestinationen bekannter zu machen, wo man auch viel erleben kann. Ausserdem sollte ich mir als Reisender überlegen, wer an meinem Urlaubsgeld verdient: die Buchungsplattform oder der persönliche Dienstleister. Ziel sollte sein, dass ich selber entscheide, wen ich unterstützen will und wo mein Geld hinfliesst. Beim Peace Park in Sarawak möchten wir, dass möglichst viel in der Penan-Gemeinde bleibt und nicht 90 Prozent beim Reiseveranstalter in der Stadt.

  

Was meinst du mit dem Respekt gegenüber den Natur- und Kulturschätzen und Traditionen?

Der Tourismus hat eine gewichtige Auswirkung auf die Umwelt, zum Beispiel Stichwort Abfall. In vielen Gebieten, gerade in Waldgebieten, sollten die Reisenden gar keinen Abfall zurücklassen, sondern alles mitnehmen. Kürzlich war ich in Kambodscha in einem Waldreservat. Dort war alles voller Plastikabfall, weil die Einheimischen das gar nicht als Problem wahrnahmen, sondern Plastik so entsorgen wie früher die organischen Abfälle.

Ich finde auch, dass Reisende sich Zeit nehmen sollten fürs Reisen. Dazu gehört im Idealfall auch, ein paar Worte der Sprache zu lernen.

Wir fair sind die Reisenden in Malaysia unterwegs?

Die Interessen der malaysischen Touristen sind unterschiedlich. Viele gehen lieber nach Singapur shoppen als in den Wald, wo es Blutegel hat. Gerade junge Leute fühlen sich oft eher von der städtischen Unterhaltungsindustrie angezogen. Aber das kann sich auch ändern. Wir versuchen, die Sorge um die intakte Natur und die indigenen Gemeinschaften zu vermitteln und die negativen Auswirkungen des Massentourismus aufzuzeigen. Uns ist auch wichtig, unsere Partner regelmässig in die Schweiz einzuladen. An unsere Jahresversammlung kommen diesen Mai erstmals auch AktivistInnen aus der Ukraine, die sich gegen die Abholzung und touristische Verbauung der Waldkarpaten wehren.

Ihr habt also eure Aktivitäten nicht nur thematisch mit den Tourismusprojekten, sondern auch geografisch ausgeweitet.

Wir waren stark fokussiert auf Sarawak, aber haben uns auch für den Schutz des letzten europäischen Tiefland-Urwalds in Bialowieza an der Grenze zwischen Polen und Weissrussland engagiert. Ich war dort zuvor in den Ferien und habe mitbekommen, wie sich polnische Aktivistinnen und Aktivisten gegen die Abholzung wehrten, indem sie sich an Holzerntemaschinen ketteten. Wie glaubwürdig sind wir, wenn wir uns für den Erhalt des Waldes in Sarawak einsetzen, aber die Abholzung des Waldes in Europa ignorieren?

Letztes Jahr wurden wir von der Kooperative Longo Maï kontaktiert wegen Svydovets, einem Bergmassiv in der Ukraine, das durch ein Milliarden-Tourismusprojekt von Abholzung bedroht ist. Die Investoren möchten 28’000 TouristInnen pro Tag in ein Gebiet locken, wo heute noch Bären, Luchse, Wölfe und anderen bedrohte Arten leben. Die Menschen vor Ort sind politisch stark unter Druck;  hinter dem Projekt steckt ein Oligarch, der nicht offen in Erscheinung tritt.

Wir sind für nachhaltige Tourismusprojekte, die der Entwicklung dienen und der Lokalbevölkerung zugutekommen. Aber das muss eine integrierte, partizipative Entwicklung sein. Die Kontrolle über das Land und die Wasserressourcen kann nicht einfach an private Firmen abgegeben werden. Schon heute gibt es in Svydovets ein Trinkwasserproblem, und da soll jetzt noch ein Golfplatz, Hotelkomplexe und künstlich beschneite Piste gebaut werden, die enorm viel Wasser verbrauchen.

In Sarawak konnten wir erstaunlicherweise den Bau eines Mega-Staudamms verhindern. Dort arbeiten wir jetzt an alternativen Energieentwicklungen – unter anderem durch die Organisation einer Konferenz, an der wir Regierungsleute, Wissenschaftlerinnen und Vertreter der indigenen Gemeinschaften zusammenbrachten.

Auch fairunterwegs.org versucht immer wieder Alternativen zum gängigen Tourismus aufzuzeigen. Wie gefällt dir das Portal?

Ich finde es super! Ihr nehmt politische Themen auf, liefert Einschätzungen, bietet vielfältige Ressourcen an. Es ist ein Fundus, auf den ich immer wieder gerne zurückgreife.

Empfehlungen:

Alfred Russel Wallace: Der Malayische Archipel. Die Heimat des Orang-Utan und des Paradiesvogels. Hansebooks, Norderstedt 2016, 468 Seiten, kartonierter Einband. CHF 34.00; EUR 31.90, ISBN 978-3-7428-4797-3, auch hier einsehbar.

Lukas Straumann, Bruno Manser Fonds (Hg.): Raubzug auf den Regenwald. Auf den Spuren der malaysischen Holzmafia, Salis, Zürich 2014, 384 Seiten, CHF 34.80,  EUR 24.95, ISBN 978-3-906195-05-6.