Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?

Aktuell ist es das Buch "Brücken bauen" von Toni Hagen. Er nahm 1950 an der ersten Entwicklungsmission nach Nepal teil und durfte als erster Europäer auf Einladung von Maharadscha Tribhuvan das bisher verbotene Land besuchen. Er arbeitete für die nepalesische Regierung und für die Vereinten Nationen als Geologe in Nepal. Für diese Aufgabe durchwanderte er das Land acht Jahre lang und legte dabei eine Strecke von über 14’000 Kilometern zurück. Bei dieser Tätigkeit vollzog sich beim Verfasser eine Weichenstellung. Er begann sich mehr für die Menschen und ihre Nöte und die Entwicklung zu interessieren als für die Steine. Nach der Unterwerfung Tibets durch China 1959 engagierte er sich für die Aufnahme tibetischer Flüchtlinge in Nepal und auch in der Schweiz. Von 1960 bis 1961 entwarf und leitete er für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz das erfolgreiche Integrationsprogramm der Tibeter Flüchtlinge in Nepal und begründete damit die Teppichknüpfindustrie. Bis 1992 besuchte Hagen Nepal alle zwei Jahre und erlebte die ganze Entwicklung von mittelalterlichen Zuständen in die Neuzeit mit. Ich lese das Buch als Einstimmung für meine Vorträge über Mustang.

Wie kommst Du auf Mustang?

Das ehemalige Königreich Mustang liegt zuhinterst im Tal zwischen den Bergen Annapurna und Dhaulagiri verborgen. Zwischen den Bergen fliesst der Kali Gandaki-Fluss durch das tiefste Tal der Erde. Hier führt die Karawanenroute durch den Himalaya vorbei. An keiner anderen Stelle lässt sich das Himalayamassiv leichter überwinden als durch diese Schlucht. Aus den abflusslosen Seen der Hochlandsteppen Tibets wurde auf diesem Weg Salz zu den Handelzentren und Umschlagplätzen auf der Südseite des Himalayas transportiert. Entlang der Route errichteten lokale Herrscher Burgen und Festungen. Zu einer Dynastie wurde Mustang im 14. Jahrhundert. Die Mustang-Dynastie brachte eine reiche Kultur hervor.
Robert Jenny reiste als einer der ersten für die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit 1963 nach Mustang. Er hat dort Pionierleistungen für Helvetas vollbracht. Er bearbeitete mich, ich solle unbedingt auch dorthin kommen. Es hat gut getan, einfach einmal zum Vergnügen zu reisen, nicht wie sonst nur auf Auftrag. Schliesslich kam die Anfrage von Dawa Siegrist, einem Tibeter aus Nepal, der in die Schweiz adoptiert wurde. Der Elektroingenieur und Betriebswirt arbeitete im Consulting und Management einer Grossbank. Er besuchte irgendwann sein Heimatland und wollte danach Arbeit und Heimat verbinden. Er gründete den Reiseveranstalter Tibet Culture and Trekking Tour und bat mich, als Reiseleiter eine Gruppe nach Mustang zu begleiten, und ich habe zugesagt.

Wie sieht es heute in Mustang aus?

Nachdem China die Grenze schloss, kam der Salzhandel zum erliegen. Aber die Karawansereien leben mit dem Tourismus weiter, die Infrastruktur ist immer noch da. Es leben Hunderte von Tieren in der Königsstadt Lo Manthang. Es ist normal, dass man mit den Tragtieren ankommt und sich in einer Küche einmietet. In den Innenhöfen mit Küche kann sich eine ganze Touristengruppe breitmachen. Es ist ein gutes Gefühl als Tourist. Als Mensch aus dem Westen habe ich das Privileg, zum Vergnügen zu reisen. Aber in Mustang muss ich nicht das Gefühl haben, dass dafür extra gebaut worden ist. Vielleicht ändert sich das in Zukunft. Man ist jetzt dabei, eine Strasse zu bauen. Diese wird sicher Entwicklung und mehr Touristen bringen. Die Wohlhabenden werden investieren. Die chinesische Regierung investiert in grossem Ausmass in die Strasse. Aber es fragt sich, wer dann noch in den Dörfern am Weg einkehrt und die Nacht dort verbringt, wenn man die Strecke in einem statt fünf Tagen bewältigen kann. In den uralten Karawansereien, die eine der wichtigsten Handelsrouten des Himalayas säumen, werden die Gäste seltener werden. Die ärmeren Bauern, die sich knapp selbst versorgen, haben keine Überschüsse, die sie zum Verkauf in die Städte bringen könnten.

Fürchtest du dich davor, dass Mustang zur touristischen Goldgrube verkommt?

Tourismus kann durchaus positive Wirkungen haben, zum Beispiel in Tibet: Klar geht ein Teil des Geldes an die Chinesen. Aber es ist wichtig, dass wir uns für das Schicksal der Tibeter interessieren. Dank den Touristen kommen Informationen aus dem Land – jedenfalls, wenn sie bewusst reisen. Und wenn sie sauber reisen und tibetische Guides und Infrastruktur bevorzugen, hat die Bevölkerung auch etwas davon.

Viele "Wenn", die allzu oft nicht erfüllt sind.

Wer die Freiheit hat zu reisen, lebt sowieso auf der Schokoladenseite des Lebens. Die Frage ist nur, ob er die Wahl treffen will oder nicht. Wenn wir uns nicht um Menschenrechtsverletzungen scheren, heisst das, dass wir die Wahl nicht treffen. In der Schweiz haben wir die grösste Freiheit, unsere Reisen und unser ganzes Leben sinnvoll zu gestalten. Es ist ein Schlag ins Gesicht all derer, welche diese Wahlfreiheit nicht haben, wenn die, die sie haben, sie nicht nutzen.
Mit den Voraussetzungen, die wir hier haben, sind wir geradezu verpflichtet, Glück zu finden. Wir haben so viele Freiräume, uns Gutes zu tun. Ich finde, es darf auch einmal schön sein. Nicht alles muss unter dem Vorzeichen des Engagements stehen. Aber zu viele dümpeln einfach durch die Reisen aus purer Langeweile. Dann ist der Preis des Reisens zu hoch, all die Auswirkungen wie die Klimaveränderung oder die Zerstörung von Landschaften.

Wie hältst du es selbst mit den richtigen Entscheidungen?

Ich habe mich das eine oder andere Mal engagiert, aber anderseits frage ich mich schon auch, ob das reicht im Vergleich zu dem, was ich zum Beispiel mit der Fliegerei kaputt gemacht habe. Ich kann den Widerspruch nicht auflösen. Ich könnte nicht als Mönch leben. Meinen Beitrag, denke ich, leiste ich mit engagiertem Fotojournalismus.

Was möchtest du als Fotojournalist bewirken?

Ich glaube daran, dass die Informationsvermittlung ein sinnvoller Beitrag ist – auch wenn ich ab und an daran zweifle. Über Bilder auf Missstände aufmerksam zu machen kann bewegen. Nachdem ich während des Balkankriegs in einem Flüchtlingslager in Kroatien Bilder gemacht hatte, organisierte die Zeitschrift Beobachter eine Päckliaktion. Es kamen 200’000 Pakete zusammen, mit vorgegebenem, auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge ausgerichtetem Inhalt. Oder die Flucht aus Tibet, die ich fotografisch festgehalten habe: Sie wurde auf ich weiss nicht wie viele Sprachen übersetzt und hat wohl schon bei ein paar Leuten ein Wissen gepflanzt, dass es ein Problem gibt mit der chinesischen Herrschaft über Tibet.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Begegnung in respektvoller Beziehung. Ich störe die Leute nicht gerne. Ich selbst finde den Akt des Fotografierens unangenehm – leider gehört Schreiben nicht zu meinen Begabungen. Vieles hängt vom Blickkontakt ab. Es braucht die Sensibilität zu merken, wenn es nicht in Ordnung ist. Und dann lasse ich es eben sein.
Als Reiseleiter habe ich das Gefühl, mit guten Leuten zusammenzuarbeiten. Das ist mir wichtig. Meine Perspektive hat sich als Reiseleiter geändert. Wenn ich keine Reisegruppe nach Mustang bringe, haben die Leute vor Ort keine Arbeit. Wenn ich das Gepäck lieber von Maultieren als von Trägern transportieren lasse, erhalten Letztere keinen Lohn. Früher, als ich in Kalkutta fotografierte, hatte ich Mühe, in eine von einem Mann gezogene Rikscha zu steigen – bis ich die dicken Einheimischen sah, die Rikschafahrer schikanierten. Die Moral ist ein weites Feld. Ich bin im Verlaufe meiner Reisen grosszügiger in meiner Einstellung geworden. Früher konnte ich nicht in ein Taxi steigen. Ich musste wie die Einheimischen mit dem Bus reisen. Irgendwann sagte ich mir, wenn ich schon mit meinem Bild einen professionellen Dienst leiste, darf ich auch gewisse Privilegien in Anspruch nehmen und nutzen, dass ich – obwohl in der Schweiz immer Pleite – in anderen Ländern vergleichsweise eine Krösus bin.

Beurteilst du jetzt auch andere Reisende grosszügiger?

Die Arroganz, zu denken, dass die eigene Motivation besser sei als die der anderen, ist sowieso daneben. Ich hätte nie gedacht, dass ich je eine Gruppe leite. Aber den Leuten zu helfen, eine gute Zeit zu verbringen und sich wohl zu fühlen in einer anderen Kultur, hat total Spass gemacht. Auch die Schönheit braucht Advokaten. Auch ein Bild berührt durch seine Schönheit. Ich bin entspannter, spielerischer geworden. Ich will es nicht missen, einmal ein verbissener Guerillero in meinem Beruf gewesen zu sein. Aber jetzt halte ich mich auch gerne einmal an einem Ort auf, einfach, weil es dort so schön ist.
Toni Hagen: Brücken bauen zur Dritten Welt. Erinnerungen an Nepal 1950-1992. Sankt Augustin, Academia Verlag, 1992, 259 Seiten EUR 32.75 (unverbindliche Preisangabe, antiquarisch) ISBN 3-88345-374-9