Fair unterwegs mit Marianne Högstedt, Präsidentin der feministischen Friedensorganisation cfd
Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?
Vor kurzem habe ich von Siri Hustvedt die „zitternde Frau“ gelesen. Es handelt von Hustvedt, die 2006 bei einem Vortrag plötzlich unkontrolliert zu zittern beginnt. Über viele Jahre studiert sie ihre Krankheit und die verschiedensten psychologischen, neurologischen und philosophischen Ansätze dazu. Es ist eine verzweigte Suchbewegung, bei der sie sich selbst und die Geschichte zu verstehen versucht. Dabei öffnen sich Welten. Ich hatte das Buch schon einmal gelesen, aber bei der zweiten Lesung war es noch intensiver.
Klingt etwas nach Virginia Woolf
Ja, Virginia Woolf ist eine Autorin, die ich gerne lese. Für mich ist es ganz wichtig, mich selbst, die eigene Geschichte und die Welt zu verstehen.
Es sind Welt- und Innensichten von Frauen. Als cfd-Präsidentin stehst du auch dafür ein, dass diese Sichten ernst genommen werden. Wie kommst du zu deinem Frauenbild?
Ich bin jetzt 71 Jahre alt. 1968 war ich zwanzig. Ich habe bei den Streiks an den Unis mitgemacht, aber mit der Zeit ist mir aufgefallen, dass immer nur die Männer etwas sagen und die Frauen bloss unterstützen. Später kam die Frauenbewegung. Da hatte ich ein Kind, das ich bald alleine aufgezogen habe. Immer wieder stand ich vor der Frage: Warum ist das, was eine Frau macht, immer weniger wert, als das, was ein Mann macht?
Ich las einmal einen Artikel über eine Frau, die alleine auf Skiern den Südpol erkundete. Ein Mann kommentierte das mit den Worten: „Oh, es war eine Frau, dann kann es nicht so schwierig gewesen sein.“ Dieses quasi naturgegeben nicht ernstgenommen werden wird erst so in den letzten ein bis zwei Jahren wirklich hinterfragt, mit der MeToo-Bewegung oder den Frauen, die in die Verwaltungsräte einziehen oder CEOs werden. Wenn man heute die Zeitung aufschlägt, findet man fast immer etwas über Gleichberechtigung oder über das Klima. Noch vor drei Jahren war es eher die Ausnahme.
Haben Gleichberechtigung und Klima einen Zusammenhang?
Es liegt auch an der Machtverteilung zwischen den Geschlechtern, dass Frauen unter der Klimaerwärmung besonders stark leiden, bei der Beschaffung von Wasser, bei Ernte- und Einkommensausfällen. Weil Frauen mehr bei den Kindern sind, liegt ihnen die Nachhaltigkeit näher, glaube ich – auch wenn sie vielen Männern natürlich ebenfalls ein Anliegen ist. Aber das Denken in vielen Unternehmen ist immer noch vom schnellen Profitstreben bestimmt. Früher waren es Jahresberichte, heute sind es schon Vierteljahresberichte, in denen Erfolge ausgewiesen werden müssen. Der Druck ist enorm und verleitet, kurzfristig zu denken und langfristige Ziele aus den Augen zu verlieren.
Stichwort Nachhaltigkeit: Was bedeutet für dich „fair unterwegs“ zu sein?
Zunächst hat es mit dem eigenen Konsum zu tun: Was kaufe ich ein. Ist das fair? Ich möchte Kaffee trinken, bei dem ich nicht das Gefühl haben muss, dass Leute zwölf Stunden am Tag arbeiten und trotzdem nicht vom Lohn leben können. Oder Kleider, bei denen ich nicht befürchten muss, dass Kinder dafür ausgebeutet wurden. Dasselbe gilt bei Reisen. Ich finde, man überlegt sich heute eher, ob man einen Wochenendtrip wirklich unternehmen soll, nur weil er grad besonders günstig ist. Auch wenn die Fliegerei immer noch zunimmt.
Persönlich finde ich es schrecklich, wie die Strände am Mittelmeer zubetoniert werden mit Hotels, in denen Touristen hausen, die keinen Kontakt mit der Lokalbevölkerung haben. Ich war einmal im Leben in so einem Hotel in der Türkei. Der Flug war gut, das Hotel war super und kostete fast nichts. Das Personal war sehr nett, das Essen war gut und gesund, der Strand sauber. Aber ich war völlig weg vom Fenster. Immerhin konnte ich meine Vorurteile gegenüber den angeblich aggressiven Türken abbauen, denn das Personal war wirklich sehr zugänglich und von einer sehr authentischen Freundlichkeit.
Aber ich fahre viel lieber mit dem Zug wohin und miete eine Wohnung mit meiner Tochter und meinen Enkelkindern. In etwa sechs Stunden ist man schon am Mittelmeer. Nächstens fahren wir für zehn Tage nach Rom und schauen uns an, was die Römer früher gemacht haben. Die Enkel haben in der Schule die Römer und die Gladiatoren durchgenommen und sind jetzt gespannt das Kolosseum zu besuchen. Da habe ich nichts dagegen, aber ich freue mich auch auf das lokale typisch italienische Essen – nicht den internationalen Einheitsfood.
Fair unterwegs sein ist ja für den cfd ebenfalls ganz wichtig. Welche Themen stehen da im Mittelpunkt?
Wir orientieren uns an den Entwicklungszielen der Agenda 2030. Dabei ergeben sich für uns mit den Zielen Nummer fünf (Gleichstellung der Geschlechter) und Nummer 16 (Frieden, Gerechtigkeit, starke Institutionen und inklusive Gesellschaften) unsere Schwerpunkte. Dabei kann man sich fragen, welches der beiden Ziele übergeordnet ist. Es gibt keine Gleichstellung der Geschlechter ohne Frieden, aber es gibt auch keinen echten Frieden ohne Gleichberechtigung. Die Ziele sind wechselseitig abhängig. Wichtig für Frauen ist, dass sie auf eigenen Füssen stehen können. Dafür brauchen sie eine gute Ausbildung, eigenes Geld.
Regional haben wir mit der Kampagne gegen Gewalt an Frauen auch einen Schwerpunkt in der Schweiz. Ausserdem unterstützen wir qualifizierte Migrantinnen mit einem Mentoring-Programm bei der beruflichen Eingliederung. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe. Gewalt an Frauen spielt auch eine Rolle in einem von uns unterstützten Projekt in Marokko. In Palästina unterstützen wir Frauen, bei denen die berufliche Tätigkeit ausser Haus entweder nicht akzeptiert oder gefährlich ist. Sie lernen, wie sie sich selbständig machen können. Und programmieren kann man auch von zu Hause aus. Sind sie besser geschult und verfügen über eigenes Geld, erweitert das ihren Bewegungsraum. Die Nachfrage an ihrer Arbeit ist auf jeden Fall da. In Bosnien-Herzegowina und Kosovo helfen wir Frauen, ihre Kriegstraumata zu überwinden. Die Massenvergewaltigungen sind 25 Jahre her, doch die Traumata wirken weiter nach. Wir unterstützen sie, das Erlebte zu verarbeiten, aber auch, mit der Gewalt umzugehen, von der sie heute noch betroffen sind, sowie mit der Arbeitslosigkeit und dem Geldmangel.
Sind Projekte in solchen Krisengebieten nicht Sisyphusarbeit?
In Palästina geht im Gazastreifen gerade viel kaputt, und man fragt sich, wann das endlich aufhört und wie viel Leid die Frauen noch ertragen müssen. Aber bei den Projekten läuft es weiter gut. Da gibt es etwa eine Frau, die Schreinerin werden wollte. Die Brüder waren dagegen, der Vater auch. Sie brauchte Monate, bis sie sie dazu brachte, ihr die Erlaubnis zu geben, diese Ausbildung zu machen und den Beruf auszuüben. Jetzt produziert sie Holzspielsachen für Kitas und Kindergärten. Sie ist ein Vorbild und hilft, überkommene Frauenbilder zu aktualisieren. Solche Projekte dürfen nicht einfach enden. Wir haben glücklicherweise gute Kontakte, aber wir sind natürlich auch verantwortlich, unsere Mitarbeitenden zu schützen, die von hier und die lokalen.
Als cfd-Präsidentin bist du ja für die Strategie zuständig. Der cfd ist seit vielen Jahren Mitglied von Fair unterwegs – arbeitskreis tourismus & entwicklung. Was verbindet die beiden Vereine?
Der Gerechtigkeitsgedanke. Tourismus kann für Frauen gut sein, wenn Arbeitsplätze mit anständigen Bedingungen und fairen Löhnen geschaffen werden. Dafür müssen wir das Bewusstsein der Reisenden und der Reiseprofis aktiv verändern.
Wie gefällt dir das fairunterwegs-Reiseportal?
Es gefällt mir gut. Besonders angetan bin ich von den provokativen Postkarten, etwa die Grusskarte aus dem "Ferienparadies", aufgelöst mit dem Satz "Für meine Ferien sollen keine Landschaften verschandelt werden. Ich wähle Ferienanbieter, welche die Lebensgrundlagen der Einheimischen achten". Oder natürlich die mit den "Ferien ohne Kompromisse", die auf die Schippe nimmt, wenn auch im hintersten Winkel der Erde noch Coca Cola erwartet wird. Oder "Das Reich der wilden Löwen" mit den vielen Autos rund herum. Das habe ich auch in Namibia erlebt, im Etosha Park, wo die Safari-Autos den Tieren von Wasserloch zu Wasserloch folgen.
Buchempfehlung
Siri Hustvedtt: Die zitternde Frau. Übersetzt von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, Berlin, 5. Auflage 2011, 240 Seiten, CHF 14.90, EUR 10.00, ISBN 978-3-49962-756-9