Fair unterwegs mit Mark Schmid, Präsident des arbeitskreises tourismus & entwicklung
Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?
Spezifisch fällt mir da "Ketzer" des kubanischen Autoren Leonardo Padura ein. Das erste Mal habe ich etwas von diesem Autoren gelesen, als ich vor ein paar Jahren beruflich nach Kuba reiste. Wenn ich wohin fahre, interessiert es mich besonders, über gute Lektüre vor, während und nach der Reise weitere Facetten des Landes kennenzulernen, die mir nicht gleich an der Oberfläche begegnen. Padura wurde nach seinem Literaturstudium in den Achtzigerjahren bekannt für seine Reportagen als Journalist bei der kubanischen Zeitung El caimán barbudo. Er beleuchtete verschiedene Aspekte des kubanischen Alltags kritisch. Dafür strafte man ihn mit der Versetzung zur Jugendzeitschrift Juventud rebelde ab. 1989 wurde er Chefredaktor von La Gaceta de Cuba und begann seine Schriftstellerkarriere mit der Veröffentlichung von Krimis.
Ich habe die Sammlung von Paduras Kolumnen nicht mehr, aber in einer, erinnere ich mich, schrieb er von einer wissenschaftlichen Untersuchung darüber, was passiert, wenn man ein Quartier verkommen lässt: Da wurden an verschiedenen Orten einer Stadt, in wohlhabenden und weniger begünstigten Quartieren, zerbeulte Autos geparkt. Unabhängig davon, wo sie standen, nahmen die BewohnerInnen jedes sozialen Milieus das zum Anlass, die Autos weiter zu verbeulen. Diese wissenschaftliche Erkenntnis ist der Grund, warum man bei uns Sprayereien so schnell wie möglich wieder wegmacht. Padura fuhr fort und schrieb über ein Schlagloch in Kuba, das einfach nicht geflickt wird. Es war seine Weise, den Regierungsapparat zu kritisieren für soziale Achtlosigkeit.
Was fasziniert dich besonders am "Ketzer"?
Padura spannt in diesem Krimi über gigantische historische Zeiträume und über eine grosse gesellschaftliche Spannweite hinweg eine Geschichte. Der rote Faden bildet ein Gemälde eines Rembrandt-Assistenten, über dessen Verbleib Polizeileutnant Mario Conde recherchieren sollte. Die Recherchen führen ihn ins Amsterdam des 17. Jahrhunderts, in ein polnisches Judenghetto während des zweiten Weltkriegs, aus dem eine Familie mit dem Gemälde 1939 flieht und mit dem Linienschiff St. Louise nach Havanna übersetzt. Ein korrupter Beamter reisst sich das Bild unter den Nagel und schickt die Flüchtlinge zurück nach Europa in den Tod. Padura beschreibt die Suche nach dem Gemälde und seiner Geschichte in starken Bildern. Eigene Wahrnehmungen werden ergänzt und in Frage gestellt, vieles passt nicht hinein – etwa die Ermordung einer jungen Anhängerin der "Emos", der punkigen, etwas morbiden Bewegung der "Emotional Hardcores" in Havanna. Damit zeigt sich mir, dass das Leben vielfältiger ist, als wir es sehen. Besonders auch im historischen Rückblick – ich habe ja mal Geschichte studiert.
Wer ist der Ketzer?
Padura spürt der Frage nach, was oder wen Gesellschaften als ketzerisch ausgrenzen. Erst mal der Maler des Gemäldes: Als chassidischer Jude hat er von seinem Hintergrund her kein Recht, ein Abbild eines Menschen zu malen. Er wurde als Ketzer aus Amsterdam vertrieben, und floh nach Osteuropa. Weitere Figuren im Roman folgen ihren eigenen Überzeugungen und nicht den Konventionen. Jede der von Padura beschriebenen Realitäten ist total glaubwürdig dargestellt und sorgfältig recherchiert.
Zu dir: Siehst du dich als Ketzer?
Das hat was. Ich lebe mit Überzeugungen, für die ich weit zu gehen bereit bin. Bei denen ich mich nicht verbiegen lasse.
Welche deiner Überzeugungen geht so weit, dass dich der Mainstream als Ketzer bezeichnen könnte?
Es ist eine Haltung, die abseits vom konsumistischen, individualistischen Mainstream liegt. Nach meinem Weltverständnis lebt das Individuum in der Welt. Es geht nicht um den eigenen Bauchnabel, sondern um die Welt, und ich hege die Utopie, dass man darin etwas besser machen kann.
Erstreckt sich diese Überzeugung auch auf das Reisen?
Im Reisebusiness geht es vielen auch nur um den eigenen Bauchnabel. Mit einem Wochenend-Jetflug für den Clubbesuch in Berlin weisen Leute jegliche Verantwortung von sich. Dieser egozentrische Konsum wird immer mehr zu einem Mainstream.
Vielleicht findet der Mainstream: Wenn das alle tun, kann ich sowieso nichts dran ändern, also wieso soll ich nicht mittun? Was setzest du dem entgegen?
Ich stelle mir zumindest die Frage: Was löst das, was ich mache, in der Welt aus. Ich kann nicht die Verantwortung für andere übernehmen, aber ich möchte das verantworten können, was ich tue, und wenn ich zu dem stehen kann, liegt es näher bei fair.
Wie setzest du das beim Reisen um?
Möglichst langsamer unterwegs sein, schauen, zu wem ich gehe, und ob das auch für die stimmt, zu denen ich gehe. Mit der Familie war ich kürzlich in Hamburg. Wir waren uns einig, dass wir sicher nicht mit dem Flugzeug hinreisen, sondern per Zug. Wir übernachteten im Literaturhotel Wedina, das mit einem Literaturclub zusammenarbeitet. Das hatte Identität und Ausstrahlung. Die Mitarbeitenden wirkten würdig und stolz.
Oder letzten Herbst verbrachten wir unsere Familienferien an der Amalfiküste, hingereist ebenfalls mit dem Zug. Wir hatten über Internet eine Ferienwohnung gefunden. Fischhändler oder Pastaladen gleich vor der Tür leben nicht nur vom Tourismus und sind Teil einer funktionierenden lokalen Wirtschaft.
Seit zwanzig Jahren bist du Präsident des arbeitskreises tourismus & entwicklung. Wie kommst du zu akte?
Ich war mit 20 Mitglied des Solidaritätskomitees für Afrika, Asien und Lateinamerika (SKAAL). Ich lernte Menschen kennen, Begegnungen, die mich geprägt haben, Aktivisten der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, vom Afrikanischen Nationalkongress ANC, oder später die Jesuiten in El Salvador, von denen einige als Märtyrer starben. Ich fühlte und fühle mich verbunden mit Menschen, die ausstrahlen, dass es sich lohnt zu kämpfen für eine gerechtere Welt.
Der Soziologe Ueli Mäder, der vor Christine Plüss die Geschäfte von akte führte, sensibilisierte mich für das Thema Tourismus und Freizeit. Zeigte auf, wie das Freizeitverhalten der einen zur Ausbeutung der anderen führen kann.
Aber Ferien machen doch auch Menschen, die sich im kapitalistischen Produktionsprozess während 47 oder 48 Wochen pro Jahr so effizient und produktiv eingeben, dass sie Erholung und Kompensation brauchen. Willst du ihnen diese vergraulen?
Es geht nicht drum, etwas zu vergraulen. Sondern ums Menschsein. Wie wirst du Mensch, wenn du auf die Welt gekommen bist? Indem du dich zunehmend als Teil der Welt verstehst und entsprechend handelst.
Indem du tätig wirst, ein Leben lang arbeitest und zur Regeneration Produkte des globalen Welthandels konsumierst – wie zum Beispiel Ferien- und Freizeitangebote. Oder was meinst du?
Ich sehe das auch. Wir leben in einem solchen System. Aber wird man nicht Mensch durch das Leben menschlicher Werte? Das ist nicht nur abhängig vom kapitalistischen Produktionssystem. Es geht um den Umgang mit dem nebenan. Darum, wie ich als Mensch zur Welt stehe und auch dem letzten darin gegenüber. Menschen sind nicht so total eingespurt, sie haben schon noch Wahlmöglichkeiten.
Was möchtest du mit dem arbeitskreis und dem Reiseportal erreichen?
Ich möchte, dass wir Reisenden eine Dimension eröffnen können, die sie vielleicht gar nicht so kennen, die sich aber als wertvoll für sie erweisen könnte: das Menschliche im verantwortungsvollen Reisen.
Eine Gegenbewegung zum "immer schneller, immer mehr"?
Ja, ich würde schon sagen. Es geht nicht nur um Quantität. Ich sehe zunehmend Leute, die gemerkt haben, dass es auch um anderes gehen könnte als das Konsumieren. Aber das Entwicklungspotenzial ist noch gross. Wir können noch viel machen.
Was müssen wir als Reisende lernen?
Bescheidenheit. Ich finde es schlimm, wenn Reisebüros Begegnung als Produkt verkaufen und damit werben. Es ist Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit, die der Begegnung im Weg stehen. Was Begegnung ermöglicht, ist die Relativierung der eigenen Person.
Leonardo Padura: Ketzer. Roman. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag, Zürich 2014, 656 Seiten, CHF 35.90; EUR 24.95 (UVP), ISBN 978-3-293-00469-6
Wer ist der Ketzer?
Padura spürt der Frage nach, was oder wen Gesellschaften als ketzerisch ausgrenzen. Erst mal der Maler des Gemäldes: Als chassidischer Jude hat er von seinem Hintergrund her kein Recht, ein Abbild eines Menschen zu malen. Er wurde als Ketzer aus Amsterdam vertrieben, und floh nach Osteuropa. Weitere Figuren im Roman folgen ihren eigenen Überzeugungen und nicht den Konventionen. Jede der von Padura beschriebenen Realitäten ist total glaubwürdig dargestellt und sorgfältig recherchiert.
Zu dir: Siehst du dich als Ketzer?
Das hat was. Ich lebe mit Überzeugungen, für die ich weit zu gehen bereit bin. Bei denen ich mich nicht verbiegen lasse.
Welche deiner Überzeugungen geht so weit, dass dich der Mainstream als Ketzer bezeichnen könnte?
Es ist eine Haltung, die abseits vom konsumistischen, individualistischen Mainstream liegt. Nach meinem Weltverständnis lebt das Individuum in der Welt. Es geht nicht um den eigenen Bauchnabel, sondern um die Welt, und ich hege die Utopie, dass man darin etwas besser machen kann.
Erstreckt sich diese Überzeugung auch auf das Reisen?
Im Reisebusiness geht es vielen auch nur um den eigenen Bauchnabel. Mit einem Wochenend-Jetflug für den Clubbesuch in Berlin weisen Leute jegliche Verantwortung von sich. Dieser egozentrische Konsum wird immer mehr zu einem Mainstream.
Vielleicht findet der Mainstream: Wenn das alle tun, kann ich sowieso nichts dran ändern, also wieso soll ich nicht mittun? Was setzest du dem entgegen?
Ich stelle mir zumindest die Frage: Was löst das, was ich mache, in der Welt aus. Ich kann nicht die Verantwortung für andere übernehmen, aber ich möchte das verantworten können, was ich tue, und wenn ich zu dem stehen kann, liegt es näher bei fair.
Wie setzest du das beim Reisen um?
Möglichst langsamer unterwegs sein, schauen, zu wem ich gehe, und ob das auch für die stimmt, zu denen ich gehe. Mit der Familie war ich kürzlich in Hamburg. Wir waren uns einig, dass wir sicher nicht mit dem Flugzeug hinreisen, sondern per Zug. Wir übernachteten im Literaturhotel Wedina, das mit einem Literaturclub zusammenarbeitet. Das hatte Identität und Ausstrahlung. Die Mitarbeitenden wirkten würdig und stolz.
Oder letzten Herbst verbrachten wir unsere Familienferien an der Amalfiküste, hingereist ebenfalls mit dem Zug. Wir hatten über Internet eine Ferienwohnung gefunden. Fischhändler oder Pastaladen gleich vor der Tür leben nicht nur vom Tourismus und sind Teil einer funktionierenden lokalen Wirtschaft.
Seit zwanzig Jahren bist du Präsident des arbeitskreises tourismus & entwicklung. Wie kommst du zu akte?
Ich war mit 20 Mitglied des Solidaritätskomitees für Afrika, Asien und Lateinamerika (SKAAL). Ich lernte Menschen kennen, Begegnungen, die mich geprägt haben, Aktivisten der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, vom Afrikanischen Nationalkongress ANC, oder später die Jesuiten in El Salvador, von denen einige als Märtyrer starben. Ich fühlte und fühle mich verbunden mit Menschen, die ausstrahlen, dass es sich lohnt zu kämpfen für eine gerechtere Welt.
Der Soziologe Ueli Mäder, der vor Christine Plüss die Geschäfte von akte führte, sensibilisierte mich für das Thema Tourismus und Freizeit. Zeigte auf, wie das Freizeitverhalten der einen zur Ausbeutung der anderen führen kann.
Aber Ferien machen doch auch Menschen, die sich im kapitalistischen Produktionsprozess während 47 oder 48 Wochen pro Jahr so effizient und produktiv eingeben, dass sie Erholung und Kompensation brauchen. Willst du ihnen diese vergraulen?
Es geht nicht drum, etwas zu vergraulen. Sondern ums Menschsein. Wie wirst du Mensch, wenn du auf die Welt gekommen bist? Indem du dich zunehmend als Teil der Welt verstehst und entsprechend handelst.
Indem du tätig wirst, ein Leben lang arbeitest und zur Regeneration Produkte des globalen Welthandels konsumierst – wie zum Beispiel Ferien- und Freizeitangebote. Oder was meinst du?
Ich sehe das auch. Wir leben in einem solchen System. Aber wird man nicht Mensch durch das Leben menschlicher Werte? Das ist nicht nur abhängig vom kapitalistischen Produktionssystem. Es geht um den Umgang mit dem nebenan. Darum, wie ich als Mensch zur Welt stehe und auch dem letzten darin gegenüber. Menschen sind nicht so total eingespurt, sie haben schon noch Wahlmöglichkeiten.
Was möchtest du mit dem arbeitskreis und dem Reiseportal erreichen?
Ich möchte, dass wir Reisenden eine Dimension eröffnen können, die sie vielleicht gar nicht so kennen, die sich aber als wertvoll für sie erweisen könnte: das Menschliche im verantwortungsvollen Reisen.
Eine Gegenbewegung zum "immer schneller, immer mehr"?
Ja, ich würde schon sagen. Es geht nicht nur um Quantität. Ich sehe zunehmend Leute, die gemerkt haben, dass es auch um anderes gehen könnte als das Konsumieren. Aber das Entwicklungspotenzial ist noch gross. Wir können noch viel machen.
Was müssen wir als Reisende lernen?
Bescheidenheit. Ich finde es schlimm, wenn Reisebüros Begegnung als Produkt verkaufen und damit werben. Es ist Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit, die der Begegnung im Weg stehen. Was Begegnung ermöglicht, ist die Relativierung der eigenen Person.
Leonardo Padura: Ketzer. Roman. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag, Zürich 2014, 656 Seiten, CHF 35.90; EUR 24.95 (UVP), ISBN 978-3-293-00469-6