Welches Buch entführt Sie auf die schönste Reise?

Das Reisebuch von Elias Canetti "Die Stimmen von Marrakesch" hat mir sehr gefallen. Ich habe es mehrfach gelesen, und es hat mich vor längerer Zeit auch nach Marrakesch geführt. Elias Canetti gelingt der Versuch, die Verdichtung der Stadt selbst und ihrer Fremdheit herauszuarbeiten, aussergewöhnlich gut. Canetti wendet sich dem Fremdartigen mit grosser Neugier zu, ohne es zu erklären oder aufzulösen. Für mich ist das modellhaft, eine Anleitung dazu, dem Fremden nicht auszuweichen, es nicht zu erklären oder ihm das Geheimnis wegzunehmen. Sondern zu lernen, es auszuhalten. Canetti entschied sich beispielsweise bewusst dazu, die Sprache nicht zu lernen. Es gibt eine Passage mit dem Titel "Der Speichel des Marabu", wo er beschreibt, wie die Bettler die Münzen einspeicheln. Ein Bub will dem Fremden die Bewandtnis dieses Brauchs erklären helfen. Doch der Autor findet die Erklärung dumm und will schliesslich gar nicht wissen, was der Brauch bedeutet, sondern ihn einfach so stehen lassen. Das Buch gibt Reisenden den Mut, sich auf das Fremde einzulassen. Das ist wichtig. Denn das Fremde und Fremdartige ist weltweit am Verschwinden. Mit den H&Ms oder McDonalds in jeder Stadt.

Aber gibt es denn überhaupt eine Annäherung, wenn man das Fremdartige einfach nur stehen und wirken lässt, ohne in aller Ernsthaftigkeit zu versuchen, es zu verstehen?

Für mich ist das Aushalten der Befremdung Teil einer aufgeklärten Persönlichkeit. Ich will mich gar nicht dem CEO einer chemischen Industrie oder der türkischen Frau annähern. Wenn ich mich in ein Gespräch einlasse, dann möchte ich erfahren, wie sie anders sind. Als Mann möchte ich mich ja auch nicht der Frau annähern, sondern ihre Andersartigkeit erfahren.
Trotzdem glaube ich, ist eine Begegnung oder ein Austausch auf Augenhöhe kaum möglich, wenn ich dabei nur das Befremden über den anderen aushalte.
Die Begegnungsmöglichkeiten sind überhaupt nicht ausgeschlossen. Es geht um Respekt, nicht um Distanz. Elias Canetti ist ein sehr respektvoller Erzähler, der seine eigene Wurzelsuche mitnimmt. Als ich das Buch "Meine Väter" schrieb, war es auch eine Suche nach den Wurzeln – aber was ich entdeckte, war mir sehr fremd, der eigene Vater war nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

Umschreibt diese Haltung für sie das, was sie unter "fair unterwegs" verstehen würden?

Reisen soll nicht etwas nur Äusserliches sein. Wer reist, ohne sein Inneres zu gefährden und mitzutransportieren, sollte zu Hause bleiben. Idealerweise sollte man nur reisen, um etwas Fremdes zu erfahren. Shopping-Weekends in New York, oder am Oktoberfest in München oder am Kremser Weihnachtsmarkt sollten verboten werden. Normalerweise sollte man nur Reisen unternehmen, die man zu Fuss, mit dem Velo oder im Zug bewältigen kann. Ausser, wenn man einmal das Fremde erleben will. Aber das ist wohl utopisch.

Beschäftigt Sie das Fremde auch in Ihrem nächsten Buch?

Im August kommt mein Roman "Ein Koffer voller Wünsche" heraus. Ich bin gerade dabei, die Fahnen zu korrigieren. Die Geschichte handelt von einem Schweizer Secondo mit indischem Vater und Schweizer Mutter, der in London Reisen in die Schweiz verkauft. Ich war selbst im Büro des Schweizer Tourismus und durfte mich mit der arabischen Mitarbeiterin unterhalten, die Reisen ins Emmental, ins Toggenburg oder an den Rheinfall verkaufte. Es hat mich fasziniert, wie sie die Orte ausspricht, die sie nicht kennt – und wo sie nicht akzeptiert würde. Sie ist Marokkanerin, die über Frankreich nach London gekommen ist.

Welche Geschichte erzählt das Buch?

Philipp Shiva Bellinger steht vor einer Hochzeit, die er eigentlich nicht will. Aber seine Freundin ist schwanger und möchte die Heirat. Dazu kommt, dass Maja von Diesbach hübsch, gescheit und reich ist. Philipp hat das Gefühl, er gehöre eigentlich gar nicht in dieses Milieu. So lässt er seine Lebensgeschichte Revue passieren, durchlebt seine Jugend, Schulzeit, die Landschaften, in denen er gelebt hat oder durchgefahren ist. Er verkauft im Reisebüro Reisen in sein eigenes Land und merkt, dass es ein fremdes ist und er darin ein Fremder.

Sie haben ja selbst einen Vater aus Trinidad und eine Mutter aus der Schweiz. Sie haben als Kind oder Jugendlicher auch die Schwarzenbachinitiative und die weiteren Überfremdungsinitiativen erlebt, und damit die Ängste, die damit ausgelöst wurden.

Das ist der Grund, warum ich mich im Rahmen der Gruppe Kunst + Politik engagierte, als mit der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative diese Stimmung wieder aufgekommen ist. Es waren zwei Abstimmungen über Vorlagen, die nicht auf den Menschenrechten gründen. Also engagierte ich mich politisch, obwohl ich mich eher als Schriftsteller sehe. Das kostet sehr viel Zeit, aber ich würde es mir vorwerfen, wenn es plötzlich zu Entwicklungen wie in Ungarn oder in Italien käme.

Wie reisen Sie selbst?

In letzter Zeit führen mich meine Reisen weniger an exotische Destinationen, sondern in Städte. Mich interessieren dort die hybriden Lebensformen von Immigranten. Araber, Bengalen und andere haben sich in grossen Städten wie London eingerichtet. Dabei entsteht etwas Drittes aus dem Englischen und dem Kulturkreis, aus dem sie kommen. Ich erkunde die Vorläufer einer globalen Entwicklung, die auf uns zukommt. Wir werden uns mehr und mehr mit Vermischungen auseinandersetzen. Das Reinrassige war immer eine Fiktion, ebenso die reine nationale Identität. Aber im Gespräch existiert beides weiter fort.

In welche Stadt zieht es Sie besonders?

Meine Lieblingsstadt ist London. Von Basel aus reiste ich, seit ich siebzehn war, viel nach Paris. Aber von London, das ich noch viel weniger gut kenne, fühle ich mich sehr angezogen, der Umgang dieser Stadt mit dem Fremden fasziniert mich. Auch wenn es natürlich auch weniger ideale Aspekte gibt, wie etwa die Saufereien erster Güte der Jungen.

Und wie umweltfreundlich reisen Sie?

Dazu möchte ich gar nichts sagen. Dazu haben schon andere viel gesagt. Ich kann das Problem nicht lösen.

Weil man es auf individueller Ebene nicht lösen kann?

In zwanzig Jahren sind die Ölreserven aufgebraucht, wenn wir dann keine Flugzeuge haben, die mit Luft fliegen können, muss sich zwangsläufig etwas ändern im Reiseverhalten und in der Reisebranche, und das ist sicher auch gut so.

Egal, ob wir Reisen in die Nähe oder in die Ferne unternehmen: Wir begeben uns immer in die Hände einer Reiseindustrie. Wie sollte die ausgestaltet sein?

Sie sollte die Leute in den Reisedestinationen maximal am Profit teilhaben lassen. Und für den Respekt vor dem Fremden werben. Aber was soll ich den Leuten sagen, die in fünf Tagen die Schweiz bereisen? Soll ich sagen, sie seien Trottel? Oder ihnen empfehlen, stattdessen besser in ein Zimmer zu sitzen und den Wasserfleck an der Wand zu studieren? Die Reiseindustrie lebt vom Faszinosum der Fremdheit. Wünschbar sind Reisen, welche das Fremde erfahrbar machen. Das klingt vielleicht jetzt nach Trekking, Hochleistungs- und Risikoferien, aber das meine ich nicht. Als ich mit meiner Freundin – heute meine Frau – in Marrakesch war, mieteten wir zwei alte, klapprige Fahrräder und fuhren durch die Stadt. Das war auch damals nicht ganz ungefährlich, aber erlebnisreich. Wir waren auch in dem Kaffee, das vor kurzem in die Luft flog.

Das Fremde als Faszinosum birgt aber auch die Gefahr der Klischierung und Mystifizierung. Reiseprospekte werben oft auch mit dem Fremden als Exotischem oder gar mit der erotischen Fremden.

Das stimmt, das Faszinosum Fremdheit als Vermarktungsargument zu brauchen, hat etwas Falsches. Aber es stellt sich die Frage nach der Alternative. Reisebüros sind wichtig. Sie leiten die Leute an, konditionieren sie für das Ziel ihrer Reise. Vielleicht gibt es dort die Möglichkeit, Produkte anzubieten, die weniger durchorganisiert sind und mehr Freiräume bieten für spontane Begegnungsmöglichkeiten. Ich meine es weniger mystisch als es vielleicht tönt. Ich finde, alle mitgebrachten Lebensmittel sollten in einem fremden Land verboten werden. Und bei der Unterbringung gilt dasselbe. Ich bin komplett gegen den Resortgedanken. Ich finde, die Leute sollten auch so untergebracht sein wie die Einheimischen vor Ort.

Mit unserem fairunterwegs-Reiseportal möchten wir Reisende auf andere, verantwortlichere Formen des Reisens aufmerksam machen. Macht das Sinn für Sie?

Ich finde es sehr sinnvoll. Der Grundgedanke des fairen Reisens ist unmittelbar einleuchtend. Die Not auf dem Planeten wird viele Reisebüros zwingen, bei euch zu schauen, wie man es besser machen kann. Stichworte sind das Verschwinden des Fremden, die Ökologisierung der Gesellschaft. In diesem Sinne seid ihr avantgardistisch. Es ist vollkommen klar, es gibt keine andere Möglichkeit als diesen Weg.Gleichzeitig gibt es aber auch die Tendenz der Faschistoisierung des Reisebusiness. Die komplette Ausbeutung von Landschaften, wie etwa mit der Resortkultur auf exotischen Inseln. Das ist eine üble neue Form des Kolonialismus. Zu dieser grundkapitalistischen Bewirtschaftung durch die Branche zeigt ihr das Gegenmodell auf.


Büchertipps:

Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch. Hanser Verlag, München 2002/2, 160 Seiten, CHF 25.50, Euro 13.90; (unverbindliche Preisangaben);  ISBN 9-783-446-20209-2
Martin R. Dean: Meine Väter, dtv, München 2004, 400 Seiten, CHF 21.10, Euro 12.00, (unverbindliche Preisangaben) ISBN 9-783-423-13306-7
Martin R. Dean: Ein Koffer voller Wünsche, Jung und Jung August 2011, ca. 280 Seiten, CHF 31.90, Euro 22.00 (unverbindliche Preisangaben), ISBN 978-3-902497-92-5