Fair unterwegs mit Martin Vosseler, wandernder Mitweltarzt
Welches Buch führt Sie auf die schönste Reise?
Es sind Patrick Leigh Fermors Bücher "Die Zeit der Gaben" und "Zwischen Wäldern und Wasser". Der 1915 geborene britische Autor flog als 17-Jähriger von der Schule, weil er nach mehreren Lausbubereien sich auch noch erdreistet hatte, mit der Tochter eines Gemüsehändlers Händchen zu halten. 1933, mit 18 Jahren, machte er sich auf, um von Hoek van Holland nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, zu wandern. Zwei Jahre lang war er unterwegs und führte Tagebuch. Als Lektüre nahm er zwei Werke mit: Die Oden des Horaz und das Oxford Book of English Verse. Sein Aufbruch fiel in die Monate nach Hitlers Aufstieg zum Reichskanzler.
Patrick Leigh Fermor war auch ein Abenteurer und Draufgänger. Er war ein Agent der Special Operations Executive SOE und als solcher auf der griechischen Insel Kreta auch im Widerstand gegen die Nazis aktiv. In einer spektakulären SOE-Aktion entführte er den NS-Generalmajor Heinrich Kreipe, den deutschen Oberbefehlshaber in Kreta, um die Kampfmoral der Deutschen zu schwächen. Dafür wurde er international gefeiert. Es gibt Bücher und auch einen Film (I’ll met by moonlight, 1957) darüber. Fermor war ein gebildeter, kultivierter und engagierter Mensch. Das schimmert in seinen Texten durch. Er lebte lange mit seiner Frau Joan in Kardamili auf der Halbinsel Mani auf dem Peloponnes und ist diesen Juni hochbetagt gestorben.
Ich habe den ersten Band auf unsere Atlantiküberquerung mit dem solarbetriebenen Katamaran mitgenommen und war völlig begeistert davon. Diese Fülle an literarisch verarbeiteten Erlebnissen und Erfahrungen, dieses Zeugnis unersättlicher Neugier und riesigen Wissens über Geschichte, Kunstgeschichte, Ornithologie, Architektur! Erst 1986 schrieb er den zweiten Teil seiner Reise nieder. 2006, mit über 90 Jahren, begann er den dritten Teil und lernte dafür auch noch, auf der Schreibmaschine zu schreiben. Er drückte aus, was ich auch erlebe auf meinen Wanderungen: Die Begeisterung über unseren Planeten, über diese einzigartige Oase im Weltall, über die zahlreichen intensiven Begegnungen mit gastfreundlichen Menschen. Es ist ein muskulöses Lernen, das alle Sinne von morgens bis abends nährt. Dann schimmert auch durch, wie gesund das Wandern ist, wie der Körper sich am Bewegen freut!
Wie kamen Sie zum Wandern?
Mein Vater war Geograf. Obwohl eines seiner Beine sechs Zentimeter kürzer war als das andere, rannte er allen Studierenden davon. Als Geograf war er überzeugt: Die Landschaft kann nur erfahren, wer zu Fuss geht. Er war schon fast sechzig, als ich zur Welt kam. Er nahm uns mit auf seine Exkursionen. Obwohl er sonst sehr sparsam war, zahlte er uns 25 Rappen, wenn wir unseren Schulweg vom Bruderholz zum Humanistischen Gymnasium am Münster zu Fuss zurücklegten. Also lief ich die etwa drei Kilometer viermal am Tag.
Später, in den Neunzigerjahren, machte ich sogenannte Sonnenwanderungen durch die Schweiz zu den "Sonnenlandsgemeinden", mit Bruno Manser und anderen Freundinnen und Freunden. Mehrmals wanderten wir mit einem Maultier. Das hatte die Eigenart, bergauf so richtig Anlauf zu nehmen und den Aufstieg in rasantem Tempo zu überwinden. Abwärts ging es langsam, behutsam. Am Schluss der Wanderung waren wir topfit!
Was bedeutet es für Sie, unterwegs zu sein?
Mit jedem Schritt nehme ich intensiven Kontakt mit Mutter Erde und ihrem wunderbaren Lebenssystem auf. Nach zwei bis drei Wochen spüre ich die grosse Kugel, auf der ich wandern darf. Unter dem weiten Himmel fühle ich mich leicht und glücklich. Diese Art des einfachen Lebens beschenkt mich zudem reich mit beglückenden Begegnungen. Und wenn ich wandere, fühle ich mich so gesund.
Wie erklären Sie es sich, dass die Eigenbewegung der Menschen in ihrem Alltag mehr und mehr abnimmt?
Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts haben sich die Leute noch viel mehr bewegt. Es war noch üblich, sich zu Fuss oder mit dem Fahrrad von einem Ort zum anderen zu bewegen. Dann kam die Wohlstandswelle, die uns ins Zeitalter der mobilen Immobilität katapultiert hat. Die Bewegung wird durch den Verkehr stark eingeschränkt. Auch steigen die Kinder nicht mehr auf die Bäume, sondern drücken mit ihren Daumen auf den Gameboys oder Spielkonsolen oder Handys herum. Es ist ein eigentlicher Invalidisierungs-Prozess. Die Bewegungsarmut entspricht den Wesen der Tierart Mensch nicht. Unser Organismus ist angelegt, etwa vierzig Kilometer pro Tag zu Fuss unterwegs zu sein. Bewegen wir uns nicht genügend, werden wir krank. Stoffwechsel, Herz und Gefässe, Gelenke sind unterfordert, werden geschwächt und leiden. All diese Krankheiten können sich bessern oder wieder verschwinden, wenn wir genug gehen, uns bewegen. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Ich hatte 2002 Probleme mit meinem rechten Knie – immer wieder schmerzhafte Schwellung und Bewegungseinschränkung. Die Wanderung nach Jerusalem, die lang dauernde, massvolle Beanspruchung des Gelenks hat dieses geheilt. Schonung schadet oft mehr als Bewegung. Deshalb freue ich mich: Ich sehe immer mehr Leute am Bahnhof, welche die Treppe der Rolltreppe vorziehen.
Was heisst für Sie fair unterwegs sein und einen fairen Austausch pflegen?
Im Tourismus hat fair unterwegs sein mit all den ökologischen und sozialen Aspekten zu tun, die der arbeitskreis tourismus & entwicklung auf seinem Reiseportal anspricht. Deshalb finde ich fairunterwegs.org toll und wichtig!
Ich habe in den Siebzigerjahren das letzte Mal "konventionelle" Ferien gemacht. Ich flog in die Seychellen und wohnte in einem Hotel. Das war auch schön – aber verglichen mit meinen jetzigen Fernwanderungen – von der Erlebnisfülle und den sinnlichen Erfahrungen her – war jene Reise armselig.
Zum fairen Austausch kommt mir das Beispiel Dominica in den Sinn. Wir kamen mit dem Solarboot auf dieser Karibik-Insel an und trafen die letzten UreinwohnerInnen der Karibik, die Kalinago (Carib People). Ihr damaliger Chief Charles Williams klagte, sie müssten so viel für Strom zahlen. Er meinte damit den Strom aus fossilen Energieträgern. Dabei hätten sie so viel Wind und Sonne! Letztes Jahr fuhr ich mit Segelschiff und Frachter nochmals nach Dominica. Wir bauten eine thermische Solaranlage für ein neues Gesundheitszentrum. Später instruierte Alec Gagneux Leute in Dominica, solar betriebene Dörrapparate zu bauen. So wird mit dem reichen Früchteüberschuss eine neue Einnahmequelle erschlossen.
Es war für mich eine wunderbare Zeit: Ich lernte viel von den Kalinago-Leuten punkto Leben im Hier und Jetzt, auch von ihrem geschickten Umgang mit Naturmaterialien – sie machen schöne Gegenstände aus Kokosnuss und Palmblättern. Mein Beitrag war, ihnen die Sonne als üppige, kostbare Ressource näher zu bringen. So können Begegnungen zur Chance für Austausch, für Geben und Nehmen werden.
Was braucht es, um auf diese Weise reisen zu können?
Für diese Art von Reisen braucht es viel Zeit. In der heutigen, sehr strukturierten Gesellschaft ist das nicht selbstverständlich. Trotzdem gibt es für alle einen Spielraum, den wir wahrnehmen können. Punkto Gepäck bin ich sehr wählerisch geworden, da ich alles tragen oder auf meinem Carrix-Gefährt ziehen muss. Ich nehme nur das Notwendigste mit. Nach ein paar Tagen lasse ich Gegenstände zurück, die ich nicht gebraucht habe. Ich erlebe lange Wanderungen immer auch als Wagnis, mich mit Unbekanntem einzulassen. Viele haben zum Beispiel Angst vor Kriminalität. In den letzten Jahren bin ich rund 20’000 Kilometer gewandert und hatte mehrere tausend Begegnungen. Davon waren vielleicht drei problematisch, aber nicht gefährlich. Alle anderen Menschen waren hilfsbereit und interessiert am Austausch. Das Zu-Fuss-Unterwegs-Sein hat bei mir das Vertrauen in die Menschheit gefördert, überall auf der Welt. Leider machen liebevolle, gastfreundliche Menschen oft weniger Schlagzeilen als Bösewichte; und das verzerrt unser Weltbild. Gefährlich waren höchstens Situationen, wo ich im letzten Moment einem Auto mit einem Sprung ausweichen musste, weil die Person am Steuer mich nicht gesehen hatte.
Sie verbinden einen scheinbar unverbrüchlichen Optimismus mit der Botschaft, dass wir unseren Lebensstil ändern und erdverträglich werden müssen. Gleichzeitig nimmt der Klimawandel an Tempo und Gewalt zu, und Politik und Wirtschaft bewegen sich wenig. Glauben Sie daran, dass die Menschheit es schafft, rechtzeitig den gesunden Weg einzuschlagen?
Ich weiss es nicht. Ich suche seit 30 Jahren nach Hoffnungsknospen und habe mir eine Sammlung von ermutigenden Nachrichten, eine "Wundermappe", angelegt – die Sammlung umfasst heute etwa 12’000 Artikel, Buchauszüge, Briefe – Ordner von etwa drei Laufmetern. Dadurch nehme ich wahr, wie viele Leute grossartige Schritte unternehmen. Für mich ist die Menschheit in ihrer Entwicklung mit einer Wunde vergleichbar. Der gut sichtbare Schorf ist all das, was uns entmutigt und verzweifeln lässt – das Zerstören von Tropenwald und Aufkaufen von Land für Monokulturen, die Ausbeutung von Erde und Menschen. Darunter wächst aber eine noch weitgehend unsichtbare neue Haut heran, die das repräsentiert, was erdverträglich und mit den Gesetzen des Lebens in Einklang ist. Ich denke da an den Insektenforscher Hans Rudolf Herren, der die Zerstörung ganzer Manjok-Ernten in Afrika mit der Freisetzung der Schlupfwespe verhindern konnte, oder an einen Knaben in den Vereinigten Staaten, der, als er vom Leben in den Dürre-Zonen Afrikas hörte, viel Geld für Solarbrunnen zusammenbringen konnte. Es gibt so viele Möglichkeiten, um Schritte zu machen. Es braucht ein Wunder, dass der Planet für uns bewohnbar bleibt, das ist klar; aber ich glaube an dieses Wunder. Wer hätte gedacht, dass die Berliner Mauer 1989 so plötzlich fallen würde oder der Atomausstieg so schnell in Reichweite rutscht? Ich erwarte grosse Umwälzungen in nächster Zeit, die zu einer planetaren Ethik der Gewaltlosigkeit und Verantwortung führen. Diese Umwälzungen können auch von Seiten kommen, von denen wir sie kaum erwarten. Auf jeden Fall werde ich auch fairunterwegs.org in die Sammlung meiner Hoffnungsknospen aufnehmen!
Mehr zu Martin Vosseler finden Sie auf
www.martinvosseler.ch
Die Büchertipps im Überblick:
Patrick Leigh Fermor: Die Zeit der Gaben. Zu Fuß nach Konstantinopel: Von Hoek van Holland an die mittlere Donau. Der Reise erster Teil. Übersetzung durch Manfred Allié. Doerlemann Verlag, Zürich 2011, 413. Seiten, CHF 28.50, EUR 19.90, ISBN 978 -908777-71-7
Patrick Leigh Fermor: Zwischen Wäldern und Wasser. Zu Fuss nach Konstantinopel: Von der mittleren Donau bis zum Eisernen Tor. Der Reise zweiter Teil. Übersetzung durch Gabriele Kempf-Allié und Manfred Allié. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2008, 363 Seiten, CHF 14.90, EUR 9.95, ISBN 978 -596-16957- 3
Der Sonne entgegen – zu Fuss von Basel nach Jerusalem für 100 % erdverträgliche Energie. Von Martin Vosseler, emu-verlag, Lahnstein, 2010, CHF 49.-, EUR 26.80, ISBN: 978-3-89189-190-2
Mit Solarboot und Sandalen – Leise um die halbe Welt: die erdverträgliche Entdeckung Amerikas. Von Martin Vosseler, emu verlag, Lahnstein 2010, CHF 49.-, EUR 29.80, ISBN: 978-3-89189-191-9
Horaz: Oden und Epoden. Übersetzung Gerhard Fink. Artemis & Winkler Verlag, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2002, 518 Seiten, CHF 66.-, EUR 39.90, ISBN: 978-3-7608-1732-3
The Oxford Book of English Verse, 1250–1900 – Volume I. Von Arthur Thomas Quiller-Couch., Blumenfeld PR Verlag, Taschenbuch, 2008, English, 520 Seiten, CHF 38.50, EUR 24.40 ISBN:978-4437-0270-6
The Oxford Book of English Verse, 1250–1900 – Volume II. Von Arthur Thomas Quiller-Couch., Blumenfeld PR Verlag, Taschenbuch, 2008, English, 520 Seiten, CHF 38.50, EUR 24.40 ISBN: 978-4437-0271-3