Fair unterwegs mit Massimo Frattini, Gewerkschafter und Laufsportler
Basel, 23.10.2013, akte/
Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?
Ich lese sehr gerne viele Arten von Büchern. Eines von denen, die ich kürzlich gelesen habe, ist zwar nicht erfreulich, aber sehr wichtig. Es ist "Povero Outgoing" (zu Deutsch etwa: Armer Auslandtourismus) von Marta di Cesare und Renzo Garrone und zeigt die Hintergründe des Tourismus in Ländern des Südens, in Südamerika, Afrika, Asien. Povero Outgoing geht der Frage nach, wie die Arbeitsbedingungen im Tourismus in diesen Ländern aussehen und was der Tourismus den Destinationen bringt. Die Tourismusbranche beschäftigt direkt 101 Millionen Arbeitskräfte, und zählt man die indirekten und durch den Tourismus ausgelösten Arbeitsstellen hinzu, sind es 260 Millionen. Doch nur ein kleiner Teil dieser Beschäftigten hat einen Arbeitsvertrag, eine Altersvorsorge, eine Krankenversicherung, wie es sich für einen ordentlichen Arbeitsplatz gehört. Gut die Hälfte der Arbeitsverhältnisse sind prekär: saisonal, auf Zeit, auf Abruf. Es arbeiten viele Kinder, es überwiegen Wanderarbeiter. Der Tourismus ist einer der unreguliertesten Wirtschaftszweige der Welt. Angestellte in prekären Arbeitsverhältnissen werden sehr oft ausgebeutet, weil sie gesetzlich weniger geschützt sind. Das alles passiert in Europa genauso wie in Mexiko, Kenia oder Thailand. Im globalen Tourismus überwiegen kleine und mittlere Unternehmen, denen Ausbeutung der Mitarbeitenden sicher nicht fremd ist. Aber im Süden, und insbesondere in den von der Kultur der Destination abgeschirmten Resorts, zeigt sich der Unterschied besonders krass und ist auch besonders empörend: Die Instabilität, verstärkt von den wiederholten internationalen Krisen, liefert die Destinationen der Supermacht der Reiseveranstalter und den Kaprizen der TouristInnen aus. Das zeigt sich in der unglaublichen Abhängigkeit der Angestellten von den Trinkgeldern, weil der Lohn alleine nicht einmal fürs Essen reicht, in den miesen Unterkünften im Schatten der Urlaub-Luxuswelten, in den unerträglichen Arbeitszeiten.
Sprechen wir hier vom Reisegeschäft im Allgemeinen oder nur von schwarzen Schafen?
Es geht um beides: Es werden die grossen Tendenzen im Tourismusgeschäft beschrieben und einzelne Fälle vorgestellt. Angestellte wurden interviewt, besonders auch Frauen, die ja bei den Tourismusangestellten in der Mehrheit sind.
Warum ist das so? Inzwischen haben doch viele Reiseveranstalter Massnahmen im Sinne der unternehmerischen Verantwortung ergriffen.
Weil das Machtgefälle so gross ist. Die Reiseveranstalter diktieren die Preise. Um möglichst vielen UrlauberInnen aus den Industrieländern einen Urlaub zur ermöglichen, drücken sie die Preise zu Lasten der untersten Glieder der Wertschöpfungsketten. Und das sind die Mitarbeitenden. Zudem haben die weniger begüterten Länder häufig keine starke Gewerkschaftskultur. Bei ihnen hat oft die Modernisierung Priorität, weil sie glauben, damit die Armut langfristig zu verringern. Da gibt es kaum eine Gewerkschaftskultur oder ein Arbeitsrecht, das die Interessen der Mitarbeitenden wirksam schützt. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die letztlich dazu führen, dass der Reisende aus den Industrieländern von der Ausbeutung profitiert.
Kürzlich habe ich an einer Sitzung mit dem Personalmanagement einer grossen Hotelkette teilgenommen. Ich wies den Verantwortlichen darauf hin, dass in ihrem Nachhaltigkeitsbericht nichts über die Arbeitsbedingungen stehe. Er erklärte mir, dass die Reisenden etwas über den Schutz von Meeresschildkröten, über den weissen Strand, über Wasser, Wälder und Artenschutz lesen wollen, sich aber nicht für die Mitarbeitenden interessieren. Arbeitsbedingungen gehören seiner Meinung nach nicht in einen Nachhaltigkeitsbericht.
Vielleicht bricht eine neue Ära an, wenn die Unternehmen ihre Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte entsprechend den UN-Leitlinien wahrnehmen.
Das Anerkennen der Rechte von Mitarbeitenden und von Menschenrechten im Allgemeinen ist das eine. Aber viele der Firmen, die das heute schon tun, haben es bisher versäumt, den Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte auch einzufordern. Dazu braucht es die Anerkennung der Kollektivverhandlungsrechte und des Rechts auf gewerkschaftliche Organisation. Ich wünschte mir eine Ära, in der Arbeitsrechte nicht nur anerkannt, sondern auch in die Realität umgesetzt werden.
Du entwirfst da ein sehr düsteres Bild der Branche.
Die IUL macht gegenwärtig zusammen mit der britischen tourismuskritischen Organisation TourismConcern eine Studie zur Frage, ob und unter welchen Umständen der All-Inclusive-Tourismus die Armut in den Destinationen zu verringern hilft. Sie wird in ein bis zwei Monaten erscheinen. Aber schon heute zeigt sich klar, dass dort, wo der Reiseveranstalter die Zimmerpreise diktiert, sich die Situation für die Mitarbeitenden verschlechtert. Denn das Geld, das an den Reiseveranstalter geht, wird nicht reinvestiert. Es bleibt beim Reiseveranstalter. Beim All-Inclusive-Modell wird alles Geld in einer kleinen Enklave erwirtschaftet. Natürlich könnten die Resorts lokale Produkte kaufen, aber wenn sich der italienische Urlauber in Marrakesch im All-Inclusive-Resort erholt, will er Pasta essen, und die muss halt importiert werden.
Dazu kommt, dass mit dem Tourismus ein Konsummodell in die Länder des Südens exportiert wird, das nicht nachhaltig ist. Da wird ein 500-Betten-Hotel auf irgendeiner Insel erstellt, deren Regierung keine Ressourcen für die Abfallbewirtschaftung, die Abwasseraufbereitung oder die Süsswasserversorgung hat. Vielleicht wirft dieser Tourismus während der Saison lokal ein paar Brosamen des grossen Profits ab, aber zurück bleiben riesige Umweltprobleme.
Was heisst das für dich als Reisenden? Was heisst für dich fair unterwegs sein?
Das ist eine schwierige Frage. Seit mehreren Jahren ist Laufen meine Lieblingssportart und eine Art, fair unterwegs zu sein. Es hält mich nicht nur fit, sondern entspannt mich: Nach einem anstrengenden Arbeitstag hinaus zu gehen und zu laufen hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und löst die Spannung. Es ist auch eine Zeit, um Freunde zu sehen und ein paar Worte mit ihnen zu wechseln. Darüber hinaus bieten sowohl Italien, wo ich herkomme, wie auch Genf die Möglichkeit, inmitten der schönen Natur in Wäldern und über Feldwege zu laufen. Auch das hilft, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen.
Will ich trotzdem einmal in die Ferne reisen, buche ich normalerweise nicht beim Reiseveranstalter, sondern vertraue auf den lokalen Tourismus. Ich glaube, dass es leichter ist, auf diese Weise ethisch vertretbar zu reisen, und zudem gefällt es mir, mich ganz auf die Kultur des Gastlandes einzulassen, mich davon anstecken zu lassen. Ich buche also das Hotel direkt, wähle meine Ausflüge und Aktivitäten vor Ort und esse in den lokalen Restaurants möglichst das, was die Einheimischen auch essen. Ausserdem kann ich als Gewerkschafter nicht umhin, nach den Arbeitsbedingungen zu fragen. Ich frage nach, ob das Hotel den Dialog mit der örtlichen Gewerkschaft pflegt und buche nur dort, wo GewerkschafterInnen respektiert werden.
Das klingt gut, aber wie macht das ein Reisender, der die Gewerkschaftsszene und die Arbeitsrechte weniger gut kennt? Früher hattet ihr ja eine Website, auf der Reisende nachprüfen konnten, ob das Hotel, das sie buchen wollten, gerade bestreikt wird. Aber diese Liste ist nicht mehr auf dem Netz.
Ich bin erst seit Juni dieses Jahres hier. Aber soweit ich gehört habe, gab es Probleme mit der Aktualisierung der Liste. Die Hotels wurden aufgeführt, sobald wir von einer gewerkschaftlichen Aktion hörten. Wurde aber eine Einigung erzielt, hörten wir oft nichts davon, und die Hotels figurierten weiter auf der Liste. Das war unbefriedigend. Aber in ein paar Tagen startet ein neues Experiment: Wir gehen das jetzt von der anderen Seite an und publizieren in Kürze eine Liste der Hotels und Tourismusbetriebe, die Arbeitsrechte achten und Gewerkschaften zulassen und respektieren. Zurzeit machen bei diesem Experiment erst unsere Ländervertretungen in den USA/Kanada, Irland und Schweden mit. Wir arbeiten mit der Gewerkschaft Unia zusammen, um es auch im Kanton Genf zu ermöglichen. Und wir hoffen, dass der Kreis sich bald erweitert.
Was können Reisende sonst noch tun?
Sie sollen sich verantwortlich zeigen beim Buchen: Der Reiseveranstalter muss ausser der Preisangabe für eine Reise genau aufführen, welche Dienstleistung wie viel kostet. Wenn bei einem Preis von hundert Franken zehn zum Hotel gehen, kann ich vermuten, dass die Mitarbeitenden im Hotel ausgebeutet werden, wenn aber 40 von diesen Hundert dorthin gehen, dann sieht es für sie schon etwas besser aus. Ich gebe zu, es ist viel verlangt, in einem Moment, wo man einfach abschalten und ausspannen möchte, solche Überlegungen anzustellen, aber man sollte es tun, weil nur das zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen wird. Auch unterwegs können Reisende etwas verändern, wenn sie sich aktiv für die Mitarbeitenden und die Lokalbevölkerung interessieren. Der Umgang mit den Angestellten und der Bevölkerung kann eine gegenseitige Bereicherung sein. Natürlich gehen verantwortungsvolle Reisende am Urlaubsort genauso schonend der Umwelt und den Ressourcen um wie zuhause. Das bedeutet beispielsweise, dass sie auch mal zwei Schritte weiter gehen, um die PET-Flasche richtig zu entsorgen, oder gleich eine Nachfüllflasche nehmen, nur so viel Wasser benutzten wie nötig und keinen Abfall liegen lassen.
Was hältst du von fairunterwegs.org, unserem Portal in deutscher Sprache, das Reisenden, die sozial- und umweltverantwortlich unterwegs sein möchten, Tipps und Hintergrundinformationen liefert?
Leider verstehe ich kein Deutsch* und kann deshalb fairunterwegs nicht kommentieren. Aber es ist überaus wichtig, Reisenden Tipps und Informationen an die Hand zu geben, die sie dazu befähigen, ihren Bürgerpflichten in Bezug auf Umweltschutz, Arbeits- und Menschenrechte nachzukommen. Reiseveranstalter setzen – von löblichen Ausnahmen abgesehen – den Profit an die erste Stelle. Nur wenn sich Reisende nicht blind in die Hände von transnationalen Reiseunternehmen begeben, sondern für ihr Geld auch Nachhaltigkeit einfordern, werden entsprechende Angebote entwickelt. Wir haben kürzlich eine mehrjährige Kampagne für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Etagenfrauen lanciert. Ihre Arbeit ist härter als die von Fabrikarbeitern. Mit repetitiven, schweren Arbeiten wie Staubsaugen, Wagen schieben, Matratzen wenden und mit den Giftstoffen in den Reinigungsmitteln ruinieren sie ihre Gesundheit, sodass sie oft schon ab 50 nicht mehr arbeiten können. Dabei verdienen sie unglaublich schlecht, weil diese Arbeit besonders häufig an Drittfirmen ausgelagert wird. Wir wollen, dass die UN-Welttourismusorganisation und die Internationale Arbeitsorganisation IAO auf diesen empörenden Missstand reagiert. Darüber könnt ihr auf fairunterwegs auch informieren!
* Das Interview wurde auf Italienisch geführt
Buchempfehlung von Massimo Frattini
Marta Di Cesare, Renzo Garrone: Povero outgoing. Le condizioni dei lavoratori nei paradisi turistici del sud. Edizioni Associazione RAM, Camogli 2004. Erhältlich unter RAM Viaggi – Incontro. Lesen Sie von Renzo Garrone ausserdem: Turismo Responsabile/
Nuovi Paradigmi per Viaggiare in Terzo Mondo. Edizioni Associazione RAM, Camogli 2007, Erhältlich unter RAM Viaggi – Incontro
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