Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?

Es sind zwei recht gegensätzliche und doch irgendwie zusammenhängende Bücher, die mir da einfallen. Das eine ist vielleicht nicht schön in einem rein ästhetischen Sinne. "Reisende in der Nacht" von Maurizio Maggiani sind einzelne, mit einander verwobene Erzählungen von Menschen, die im Exil leben oder auf der Flucht sind, von Menschen auf der Schattenseite der Welt. Mit dem Buch kann ich mich auf das Reisen einstimmen. Es handelt von Gerechtigkeit und Menschenwürde und zeigt mir, wie privilegiert ich bin, wenn ich aus ganz anderen Motiven reisen kann, einfach, um meinen Freiraum zu geniessen. Es mahnt mich zur Demut. 

Hast du ein schlechtes Gewissen wegen dieses Privilegs?

Kein schlechtes Gewissen, aber ich finde einfach: Es ist gut, sich zu vergegenwärtigen, dass viele Millionen Menschen das nicht können. Dass nur eine sehr kleine Schicht der Weltbevölkerung die Möglichkeit hat, sich so zu regenerieren, zu erholen. Dass wir auf der Sonnenseite leben. 

Welches ist das zweite Buch?

Ulrich Schnabels "Musse. Vom Glück des Nichtstuns". Es hilft mir, im Urlaub runterzukommen, wegzukommen vom Erwartungsdruck, wie man vom Urlaub noch mehr profitieren und ihn noch besser organisieren könnte. Es regt an zur schöpferischen Pause für Verstand und Seele. Ich reise selber sehr viel, nehme Termine in Berlin, Brüssel oder im aussereuropäischen Ausland wahr. Im Urlaub soll meine Seele einfach mal baumeln können. Ich nehme das Buch immer mal wieder hervor, um Raum für Alternativen zum Alltagsstress zu öffnen.

Beide Bücher haben etwas mit Integrität und Ganzheit zu tun.

In meinem Arbeitsfeld ist das wichtig. Obwohl ich nicht direkt in der Beratung von Kindern tätig bin, sind es doch immer wieder ihre Schicksale, die meine Arbeit dominieren. Um diese Arbeit professionell machen zu können, muss ich zwischendurch Abstand nehmen. Gleichzeitig kann ich mich in Bezug auf die Menschenwürde in Beruf und Alltag nicht gegensätzlich verhalten. Den Kinderschutz nehme ich auch bei meinen privaten Reisen ernst. Ich kann nicht einfach ein Billigangebot buchen, bei dem die logische Konsequenz Ausbeutung ist – eben auch von Kindern.

Wie kamst du zu dieser Arbeit?

Zum Thema Kindersextourismus kam ich über den arbeitskreis tourismus & entwicklung. Für die kleine "Reihe Tourismus & Entwicklung", die der Rotpunktverlag herausgab, schrieb ich 1991 den BandTourismus– Prostitution– Aids. Aufgrund der aufkommenden HIV-Infektionen suchten die Freier immer jüngere Prostituierte. Das Thema hat mich seither nicht mehr losgelassen. Ich gab dann irgendwann meine Arbeit als freie Journalistin auf, um zunächst als Koordinatorin und seit einigen Jahren als Geschäftsführerin von ECPAT Deutschland zu arbeiten.
Von Berufs wegen bin ich Pädagogin. Ich hatte Sport, Politik und Geografie studiert und später eine berufsbegleitende journalistische Ausbildung gemacht. Zunächst arbeitete ich beim Informationszentrum Dritte Welt in Freiburg und später als Freischaffende. Immer wieder handelten meine Beiträge vom Tourismus – erst vom "sanften", nach Jost Krippendorf, dann vom "Tourismus mit Einsicht", vom "Community based Tourism" bis hin zum CSR im Tourismus – das Thema hat mich immer begleitet. Jetzt bin ich seit 12 Jahren bei ECPAT Deutschland und habe immer noch das Gefühl, einiges bewegen zu können. 

Was denn?

Es ist spannend, die Unterzeichnung des internationalen Kodex zum Schutz der Kinder vor kommerzieller sexueller Ausbeutung im Tourismus, kurz "Kinderschutzkodex" bei der Reisebranche beliebt zu machen. In den letzten Jahren ging es darum, die Verwaltung des Kinderschutzkodexes zu professionalisieren und ihn damit wirksamer und überprüfbarer zu machen. Zu Beginn wurde er mit Hilfe der UN-Welttourismusorganisation UNWTO auf ehrenamtlicher Basis gemanaged. Doch der Erfolg bei der Reisebranche war riesig. Inzwischen haben ihn rund tausend Tourismusunternehmen unterzeichnet. Dies war mit einer einzigen Person in New York nicht zu leisten. Die Unterzeichner des Kinderschutzkodexes wurden zu wenig in ihrer Arbeit begleitet und das Monitoring wurde nicht eingefordert. Die Struktur war für die Grösse der weltweiten Organisation völlig ungenügend.

Was hat sich jetzt geändert?

Mit Hilfe des Schweizer Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) konnte die Organisationsentwicklung vorangetrieben werden. Das Büro wurde nach Bangkok verlegt, wo ein Management Direktor einem Team vorsteht. Die Kriterien wurden überarbeitet. Es gibt eine klare Vorgehensweise für die Aktivitäten der Reisebranche. Es soll ja ein so genanntes "Industry driven tool" werden, also ein Kodex, dessen Umsetzung von der Branche vorangetrieben wird. Wichtig sind klare Vorgaben für das Monitoring. Der Kodex ist nur so gut wie die Überprüfung seiner Umsetzung.
Es ist klar, dass dabei der eine oder andere Unterzeichner nicht mehr mithalten kann oder will. Aber rund ein halbes Dutzend neue Reiseunternehmen stehen bereits vor der Unterzeichnung des Kodex mit diesen klareren und schärferen Kriterien. Diese Neuen sind auch bereit, die Verantwortung so umfassend zu übernehmen.

Wie erfolgreich ist der "Kinderschutzkodex"?

Er ist einer der erfolgreichsten Kodizes überhaupt. Er wurde mit Schwung aufgenommen, erhielt grosse Unterstützung von Politik, Tourismusbranche und Privaten. Jetzt geht es darum, dieses erfolgreiche Projekt zu verbessern. Dazu gehört auch zu sagen, wo etwas nicht gut läuft – im Sinne einer konstruktiven Kritik. Viele wollen wissen, was der Code bewirkt. Werden weniger Kinder sexuell missbraucht? – Aber da stellt sich die Frage, wie man das messen soll. Mit der Anzahl Fälle? – Aber vielleicht gibt es plötzlich mehr Fälle, weil mehr ins Hellfeld kommen. Mit der Anzahl Verurteilungen? – Aber da weiss man nicht, ob mehr Verurteilungen auf mehr missbrauchte Kinder hindeuten oder auf eine konsequentere Verfolgung von Tätern.

Wo würdest du ansetzen?

Bei den Akteuren aus der Branche. Wir müssen feststellen, wie viele Unternehmen eine eigene Kinderschutzpolicy haben und was diese beinhaltet. Gibt es bei ihnen zum Beispiel Vorgaben, wie sich die Animateure des Hotels im Kinderbereich bewegen? Müssen sie vor der Anstellung ein polizeiliches Führungszeugnis oder in der Schweiz ein Leumundszeugnis vorlegen? Beim Staat wird das verlangt, aber in der Privatwirtschaft leider in den wenigsten Fällen. Und da geht es ja auch um die Kinder der Reisenden.
Oder wie ist der Umgang von Reise- und Hotellerieunternehmen mit ihren minderjährigen, in Ausbildung stehenden Angestellten. Wie werden sie vor Übergriffen seitens anderer Angestellter oder der Urlaubsgäste geschützt?

Da geht es ja auch um Arbeitsrechte – ein rotes Tuch für viele Unternehmer

In den Achtzigerjahren war der Präsident des Deutschen Reisebüroverbandes noch der Ansicht, dass die Schattenseiten des Tourismus so viel mit der Reisebranche zu tun haben wie die Seilindustrie mit dem Erhängen. Aber das Bewusstsein hat sich gewandelt. Immer mehr Unternehmen wissen, dass sie ohne Nachhaltigkeitsstrategie ihr eigenes Geschäft gefährden. Die Respektierung der Arbeitsrechte ist ein wichtiger Teil der Unternehmensverantwortung. Generell heisst fair unterwegs sein, die Menschenrechte im weitesten Sinn zu respektieren, auch die ökologischen Menschenrechte. Immer mehr Reisende sagen in Umfragen, das sei ihnen ein Anliegen oder gar ein Buchungskriterium.

Bist du da nicht zu optimistisch?

In Krisenzeiten hat die Tourismusbranche immer die Tendenz, den Druck gegen unten weiter zu geben. Und da trifft es auch Kinder. Aber generell hat sich der Umgang mit Reisen in Europa verändert, die Reisenden und die Unternehmen nehmen ihre Verantwortung für den Erhalt der Destination und die Respektierung der Menschenrechte besser wahr. Mit dem boomenden asiatischen Reisemarkt stellen sich die Probleme aber neu. Viele Menschen in Asien können sich erstmals Fernreisen leisten. Mit ihrem Verhalten wird sich auch die Zukunft des Tourismus entscheiden.

Welche Rolle kann da www.fairunterwegs.org spielen?

Das Reiseportal ermöglicht einen spannenden Austausch. Es bietet punktuelle Einblicke und Inspirationen, aber es tritt auch als Mahner auf, analysiert anhand konkreter Beispiele problematische Seiten des Urlaubs. Damit regt es an, sich selbst weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Das ist ein wichtiger Motor für die nötigen Veränderungen im Reisebusiness.


Maurizio Maggiani: Reisende in der Nacht, Edition Nautilus, Hamburg, 2007, 223 Seiten, CHF 27.10, Euro 22.00, ISBN: 978-389-401534-3
Ulrich Schnabel: Muße, Vom Glück des Nichtstuns, Pantheon, München, 2012, 287 Seiten, CHF 21.90, Euro 14.99, ISBN: 978-3-89667-434-0