Fair unterwegs mit Melchior Lengsfeld, Entwicklungsexperte
Welches Buch führt Sie auf die schönste oder intensivste innere Reise?
Nicht auf die schönste, aber auf eine sehr bewegende und intensive innere Reise nimmt mich Toni Morrison’s "Beloved". Er spielt im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten und handelt von einer Mutter, die ihr Baby umbringt, um es vor der Sklaverei zu retten. Sie tötet es aus der Erfahrung, dass sie wie alle Sklaven ihr Leben nicht selbst gestalten kann. Die Mutter hatte bereits fünf Kinder, wovon zwei vor dem Sklavenhalter flohen und zwei gestorben waren. Nur eine Tochter namens Denver blieb bei ihr, nachdem sie sich über den Fluss ins Haus ihrer Schwiegermutter in Cincinnati gerettet hatte, einem Staat, in dem die Sklaverei bereits abgeschafft war.
Es ist ein bewegendes und beeindruckendes Buch nicht nur über die amerikanische Geschichte der Sklaverei, sondern auch darüber, wie wir unser Leben unter widrigsten äusseren Umständen gestalten können. Toni Morrison findet unglaublich intensive Bilder, um die unterdrückten Sklaven nicht nur als Opfer, sondern auch als Handelnde zu zeigen. Zum Beispiel mit dem extremen und paradoxen Bild der Mutter, die ihr Kind tötet, um es zu schützen
Das sind gleich verschiedene Themen: Ungerechtigkeit, Kampf um Freiheit, Frauenschicksale…
Mich fasziniert, wie Morrison die Sklaven trotz der extremen Unterdrückung immer in ihrer Individualität zeigt, auf Individualität als Beginn der Freiheit verweist. Die Hauptperson, Sethe, trifft einen ultimativen, existentiellen Entscheid und begeht aus humanistischer Motivation heraus ein Verbrechen. Auf dem Grabstein des getöteten Kindes lässt sie "Beloved" einmeisseln. Jahre später erscheint eine Frau, die sich ebenso nennt und sich als wiedergekommene Tochter ausgibt. Sie wird zur Obsession von Sethe, die aus schlechtem Gewissen heraus alles für Beloved tun will. Erst auf Intervention verschiedener Dorfmitglieder verschwindet "Beloved" aus dem Leben von Sethe und ihrem neuen Partner Paul D. Sie meint, das Beste in ihrem Leben verloren zu haben, aber Paul D kommentiert dazu: "Das Beste für Dich bist Du, Sethe". Die psychologische Tiefe der Figuren gibt dem historischen Roman eine hohe Aktualität.
Gerechtigkeit und die Freiheit, sein Leben zu gestalten und nach Glück zu streben, dafür haben Sie sich schon früh engagiert.
Nach dem Gymnasium reiste ich während fünf Monaten mit dem Bus durch Lateinamerika. Da wurde ich zum ersten Mal mit der Realität extremer Armut konfrontiert. Es war kurz nach dem Bürgerkrieg in Honduras und noch während der Unterdrückung durch die Militärdiktatur in Guatemala. Das hat mich tief beeindruckt. Nach meiner Rückkehr studierte ich nicht Biologie wie ursprünglich geplant, sondern Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Danach absolvierte ich das "Nachdiplomstudium für Entwicklungsländer" NADEL an der ETH Zürich. Das Studienpraktikum machte ich in Indien, und nach einer Assistenzzeit am NADEL reiste ich 1999 für Helvetas nach Mosambik. Dort war ich für ein Wasserprojekt tätig. Ich empfand es als sehr erfüllend zu erleben, wie der Zugang zu sicherem Trinkwasser dazu beitrug, den Alltag für Tausende von Menschen zu verbessern.
Brunnen bauen ist das Klischeebild für eine veraltete Form der Entwicklungszusammenarbeit. Wie sieht das bei Helvetas aus?
Was Helvetas macht, hat mit diesem Klischee nur indirekt zu tun. Ja, es geht in vielen unserer Projekte um Trinkwasser. Aber es sind nicht einfach Helvetas Mitarbeiter, die die Brunnen bauen. Zuerst einmal wird im Dorf diskutiert, welcher Entwicklungsschritt am wichtigsten ist. Eine Schule, ein Brunnen, oder eine landwirtschaftliche Weiterbildung? Wird Wasser priorisiert, wird dies mit den lokalen Behörden abgestimmt, deren Fachleute dann angepasste technische Lösungen erarbeiten. Mit der Umsetzung werden lokalen Baufirmen aufgrund von Ausschreibungen beauftragt. Ein transparenter Prozess ist hier sehr wichtig. Entsprechend unterstützen wir die lokalen Behörden, Qualitätssicherung und die wirksame Bauaufsicht zu gewährleisten. Und natürlich muss die Dorfbevölkerung eng einbezogen und oft auch organisiert und ausgebildet werden, damit sie den Unterhalt der Infrastruktur selber besorgen kann. Dazu gehört auch, dass sie sich finanziell oder durch Arbeitsleistung am Bau der Wasserversorgung beteiligen muss. Vor Jahren unterstützte die Schweiz in Mosambik ein Institut zur Ausbildung von Wasserbautechnikern. Heute findet man überall im Land Abgänger dieses Instituts. Bei unseren Projekten geht es also nicht einfach um Brunnenbau, es geht auch um Bildung, und die Stärkung des Wassersektors als Ganzem.
Was heisst für Sie fair unterwegs sein grundsätzlich?
Nicht nur an sich selber denken. Teil einer Gesellschaft sein. Das was man selber macht, hat Auswirkungen auf andere. Ich kann eine Banane kaufen, bei der ich weiss, dass die Plantagenarbeiter ausgebeutet wurden und jetzt unter miserablen Bedingungen arbeiten müssen, oder aber eine von Max Havelaar, bei der ich weiss, dass sie unter gerechteren Bedingungen produziert wurde. Wir sollten uns sozial und ökologisch verantwortlich verhalten, das beginnt bei unseren eigenen Kaufentscheiden, und gewinnt damit rasch eine globale Dimension.
Und in Bezug auf das Reisen?
Die Schweizerinnen und Schweizer reisen gerne. Das ist ein riesiges Potenzial. Der Tourismus kann ein Motor der lokalen Wirtschaft und Entwicklung sein. An der Wertschöpfungskette im Tourismus kann eine vielfältige Palette von Zulieferern beteiligt werden – wenn dies bewusst gestaltet wird. Wichtig ist zum Beispiel, dass lokale Güter konsumiert und dafür anständige Preise bezahlt werden. Ein lokal verankerter Tourismus kann aktiv entwickelt werden. So bildet Helvetas in Kirgistan Hotelmitarbeitende aus: Kellner, Zimmermädchen sowie seit 2012 auch Rezeptionistinnen, und auch Köche und Landschaftsgärtner lernen in den Kursen die Grundlagen ihres Berufs. So kommen sie zu guten Arbeitsplätzen mit Zukunftsperspektiven.
Das Reisen bietet eine Möglichkeit, andere Kulturen kennen zu lernen. Nach den Massstäben des Ferienlandes sind wir als Schweizer Touristinnen und Touristen sehr wohlhabend. Entsprechend sind wir verantwortlich dafür, welche Spuren wir im Lande hinterlassen. Ich habe auf Reisen persönlich die Veränderungen durch den Tourismus in traditionellen Gesellschaften erlebt – Tourismus kann neben dem Nutzen auch sehr schädliche Entwicklungen fördern, wenn wir uns der möglichen negativen Auswirkungen nicht bewusst sind.
Das fängt mit der Art an, wie wir den Menschen begegnen. Dass wir als Reisende unsere privilegierte Situation nicht ausspielen, sondern einen Austausch auf Augenhöhe suchen, uns interessieren, wo und wie die Menschen leben und ihre Lebensweise achten. In einer Kirche nimmt man den Hut ab, in einer Moschee die Schuhe. Jede Kultur hat ihre Regeln und Toleranzgrenzen. Jeder Ferienort ist auch der Lebensort für die Lokalbevölkerung. Diese gilt es zu schonen und zu schützen. Das kann zum Beispiel heissen, in trockenen Regionen Wasser zu sparen, oder Abfall nicht einfach am Strand zu entsorgen.
Besonders wichtig ist es, den Reiseveranstalter kritisch und bewusst auszuwählen. Wer Lastminute bucht, fördert oft Angebote, bei der die Preisoptimierung kaum mehr Spielraum lässt für Fairness und Nachhaltigkeit.
Viele TouristInnen möchten gerade während den Ferien Einblick in eine andere Wirklichkeit erhalten und die Realität des Gastlandes vertieft verstehen. Deshalb bietet Helvetas Projektreisen nach Bhutan, Bolivien, Guatemala, Kirgistan, Nepal, Peru und Vietnam/Laos an, zusammen mit dem Reiseveranstalter Globotrek. Website und Kataloge von Globotrek wurden ja auch <media 2678 – external-link-new-window "Opens external link in new window">in der Vergleichsstudie verschiedener Reiseanbieter</media> bewertet. Wesentlich ist für uns, dass es auf diesen Reisen möglich ist, mit Menschen in Kontakt zu kommen, es gibt Zeit für Gespräche. Oft ist man zu Fuss unterwegs, in einem Tempo, bei dem Begegnungen möglich werden. In Bolivien z.B. können Freiwillige bei der Kakaoernte Hand anlegen und die Arbeit in den Tropen hautnah erleben.
Unser Reiseportal soll ja Reisenden, die fair unterwegs sein möchten, Tipps und Informationen an die Hand geben. Wie gut finden Sie dieses Medium?
Es ist ganz wichtig, dass es fairunterwegs.org gibt. Helvetas ist unter anderem deshalb Träger des arbeitskreises tourismus & entwicklung geworden, weil Tourismus positive und negative Entwicklungen in unseren Partnerländern auslösen kann – und bewusster Tourismus hat das Potential, sehr positive Entwicklungsschritte auszulösen.
Menschen und Kulturen sollten sich auch im virtuellen Zeitalter noch ganz konkret begegnen können. Viele Reisende möchten gern fairer reisen, denken aber, sie könnten dazu wenig beitragen. fairunterwegs.org zeigt, dass fair reisen möglich ist und zeigt, was wir als TouristInnen ganz konkret beitragen können.
Positiv finde ich besonders die Zusammenarbeit mit den Reiseveranstaltern, um Standards wie etwa zu Arbeitsbedingungen oder Kinderschutz festzulegen und zu bewerben. Dabei werden Pioniere ebenso bekanntgemacht wie schwarze Schafe. Ausserdem schafft das Portal fairunterwegs.org Übersicht im Labeldschungel und gibt Tipps und Links für Freiwilligeneinsätze. Das müsste man unbedingt weiter entwickeln. Insgesamt gibt die Website guten Rat, ohne dabei die Vorfreude auf die Reise zu trüben. Sie macht den Reisenden klar, dass die Menschen, die sie hinter der Bar, am Pool oder im Restaurant antreffen, Individuen sind.
Auf der anderen Seite bietet das Portal so viel, dass man manchmal fast erschlagen ist und sich nicht zu allen Themen auf Anhieb zurecht findet. Einzelne Rubriken wie die "Themen" scheinen sich zudem eher an ein Fachpublikum zu richten. Schliesslich vermisse ich die Möglichkeit, über fairunterwegs.org direkt das Reisebüro kontaktieren zu können, das quasi "fair unterwegs" ist und Reisen anbietet, die den Kriterien der Seite genügen. Als Nutzer möchte ich die Informationen also manchmal noch einfacher präsentiert bekommen. Zum Beispiel einfach eine Gesamtnote 5 oder 6 für den "guten" Reiseanbieter. Die NutzerInnen des Portals sollten die wesentlichen Infos in dreissig Sekunden finden: bei welchem Anbieter kann ich eine faire Reise buchen? Alles Weitere kann dann in weiterführenden Downloads vermittelt werden.
HELVETAS Swiss Intercooperation ist Träger des arbeitskreises tourismus & entwicklung.
Empfohlene Bücher:
Toni Morrison: Beloved. Random House UK Ltd., London 2007, Reihe Vintage Classics, 352 Seiten, CHF 17.90, EUR 9.40, ISBN 978-09-951165-6
auf Deutsch:
Toni Morrison: Menschenkind. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2007, 397 Seiten CHF 18.50, EUR 9.99, ISBN 978-499-24420-9