Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?

Henning Mankells "Chronist der Winde" von 1995. Ein Bäcker aus Maputo findet den etwa elf-, zwölfjährigen Nelio auf der Bühne eines Theaters. Nelio wurde vom Wachpersonal angeschossen, nachdem er und seine Strassenkindergruppe die Bühne illegal benutzt hatten, um ein selbsterfundenes Theaterstück mit dem Titel "Insel ohne Angst" aufzuführen. Der Bäcker, José, pflegt Nelio während der neun Tage, die er noch lebt, und erfährt die Lebensgeschichte des Jungen. Nelio wurde in seinem Dorf etwa in der Mitte von Mosambik von bewaffneten Banden überfallen. Sein Vater wurde erschossen, er und seine Mutter entführt. Nelio sollte Kindersoldat werden und als Prüfung seinen besten Freund erschiessen, doch er entflieht. Einen Teil seines Wegs nach Maputo geht er gemeinsam mit dem Albino Yabu Bata. In Maputo schliesst er sich einer Gruppe von Strassenkindern an und wird schliesslich deren Anführer. Das Theaterstück "Insel ohne Angst" spielen sie für einen an einem Lebertumor erkrankten Jungen aus ihrer Gruppe, der kurz danach friedlich stirbt. José, der Bäcker, ist derart beeindruckt von Nelios Erzählung, dass er seinen Beruf aufgibt und fortan als Bettler und "Chronist der Winde" durchs Land zieht und über die Situation der Kinder spricht. Es ist ein wunderschönes Buch.

Was fasziniert Dich so an dem Buch?

Es weckt viele Erinnerungen an meine Zeit in Mosambik. Die Reise, die Nelio macht, kenne ich gut. Sie geht vom etwa auf 800 Metern über Meer gelegenen westlichen Hochland hinunter bis ans Meer, durch verschiedene Landschaften. Ich war von 1981 bis 1990 in Mosambik, erst als Stadtplanerin der mosambikanischen Regierung. Damals half die schwedische Entwicklungsagentur SIDA dem Land, Fachkräfte zu finden. Ich arbeitete im Sekretariat für Raumplanung und war für Zentralmosambik zuständig. Später wurde ich Leiterin der nationalen Stadtplanung und damit die rechte Hand des Staatssekretärs. Es ging dabei um städtische Entwicklungspläne, welche nach der Unabhängigkeit auch die Aktivitäten und Gebiete der afrikanischen Bevölkerung einschlossen, und um die Lokalisierung und Planung internationaler Entwicklungsprojekte. Ich reiste regelmässig für einen Monat in die zentralen Provinzen Manica und Sofala – und fuhr in dieser Zeit mit irgendeinem Autotransport zweimal hin und zurück. Es war eine traumhaft schöne Reise, wenn auch oft gefährlich wegen der Rebellenorganisation RENAMO. Ich war immer mit einem zusätzlichen leichten Gepäckstück und guten Schuhen unterwegs, damit ich bei einem Überfall wegrennen konnte. Glücklicherweise passierte nichts. Nach dem Einsatz für die Regierung war ich noch dreieinhalb Jahre für Helvetas tätig. In Mosambik lebte ich mit meinem heutigen Ehemann, Herbert Schmid zusammen, den ich kurz vorher kennen gelernt hatte.

1990 seid ihr aus Mosambik in die Schweiz zurückgekehrt.

Ich schrieb mich für einen Master in Umwelttechnik ein. Aber 1991 war der Frauenstreik und ich kandidierte auf einer grünen Frauenliste für den Nationalrat. Als Nationalrätin engagierte ich mich in der Anti-Apartheid-Bewegung, bei der Association of European Parliamentarians for Africa (AWEPA) und als Wahlbeobachterin. Ebenfalls arbeitete ich im Frauenzentrum Solothurn, für die Regionalgruppe der Erklärung von Bern und für das regionale Abstimmungskomitee für die Genschutz-Initiative. Doch Herbert wollte weg. Er war in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) für Südafrika zuständig und reiste 1997 als Vizekoordinator nach Südafrika. Ich folgte ihm ein Jahr später und brachte aus der Schweiz eine Projektidee für "fairen" Tourismus mit. Daraus wurde die Initiative "Fair Trade in Tourism", aus welcher die weltweit erste Fair Trade Labeling-Organisation FTTSA entstand.

Ist das südliche Afrika eine Art zweite Heimat für dich geworden?

Wohl eher eine zusätzlich Heimat. Später lebten wir im Balkan und von 2006 bis 2009 in Kuba. Herbert war Koordinator für die DEZA in Mazedonien und Kuba. Es war meistens so, dass ich Herbert später in ein Land folgte, dort ein Engagement fand und es dann zu Ende bringen wollte. In Kuba arbeitete ich in einem Programm für lokale Landwirtschaftsinititativen.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Mit dem Zug oder Bus fahren. Ich bin so viel geflogen. Jetzt kann ich mir nicht vorstellen, für zehn Tage an den Strand zu fliegen. Wenn ich ins südliche Afrika gehen würde, dann gleich für ein halbes Jahr. Ausserdem gehört zum Fair unterwegs sein, das Geld dort zu lassen, wo es zu den Leuten kommt. Also in B & B zu übernachten. Herbert und ich sind viel gereist, mindestens einmal pro Jahr. Jetzt bin ich wie gesättigt. Herbert war jetzt in der DEZA für Laos zuständig. Aber ich hatte gar keine Lust, mich noch in einen neuen Kontinent einzudenken. Ich habe genug, jetzt will ich die Schweiz noch näher kennen lernen.

Dann bist du jetzt vom Fernweh kuriert?

Nicht ganz. Mit siebzehn war ich Chile-Fan. Chile war der älteste demokratische Staat in Lateinamerika. Ich wollte immer nach Chile. Ich machte 1969/70 in Berlin ein Architekturpraktikum und hätte die Gelegenheit gehabt, nach Chile zu gehen. Doch überzeugte mich eine ältere Freundin, nach Zürich zurückzukehren und an der ETH das Diplom zu machen. Damals fand ich Diplome nicht wichtig. Dank ihr habe ich es gerade noch geschafft, vor dem Verfall des Studiums zu diplomieren. Ich lebte wieder in  Solothurn und engagierte mich politisch und mit der Genossenschaft Kreuz. Auch wenn viele meine radikalen Positionen kritisierten, nie hat jemand an meinen beruflichen Kompetenzen gezweifelt, nur, weil ich dipl. Arch. ETH war.
Und deshalb war ich noch nie in Chile. Es war keine differenzierte politische Vorstellung, die mich dorthin zog, sondern vielmehr faszinierten mich die ganze Kultur, die Musik, das Leben, die Leute. Mit siebzehn oder achtzehn war ich noch nicht so politisiert. Ich stellte mir vor, dort mit Leuten zusammen eine Siedlung zu bauen. Aber diese bauen wir vielleicht hier als 2000-Watt-Region.

2009 kamst du aus Kuba zurück  – und hast dich gleich wieder politisch engagiert, nämlich für die 2000 Watt-Gesellschaft. Wie bist du darauf gekommen?

Im Magazin "Zeitpunkt" erschien ein Interview mit  Dieter Imboden, dem ETH-Umweltwissenschaftler, der die "2000-Watt-Gesellschaft" lanciert hatte. Er sagte, die Zeit der Freiwilligkeit sei vorbei, denn in immer mehr Umweltbereichen würden Systemgrenzen erreicht. Unwetter nehmen zu, Dürren, Überschwemmungen. Ich habe dies ja in einem Teil der Länder, in denen ich gelebt habe, selbst erfahren, so auch Hurrikane in Kuba. Bei einem mussten wir in Havanna evakuieren. Wir hatten Angst, die alten Kolonialgebäude würden einstürzen, aber glücklicherweise zog der Hurrikan nicht durch die Stadt.
Mir wurde klar, dass diese zunehmenden Unwetterkatastrophen grösstenteils auf den exorbitanten Lebensstil der reichen Länder zurückzuführen sind – und dass die Lösung sein muss, diesen wieder auf ein weltverträgliches Mass zurückzufahren. Mein Motto wurde "Klimawandel ist Kulturwandel". In Zürich, Basel und anderen Städten ist die 2000-Watt-Gesellschaft ein behördenverbindliches Ziel. Aber wir wollten, dass es zu einer Bürgerinitiative wird. Wir fingen 2009 an zu arbeiten und gründeten 2011 den Verein "2000-Watt-Region Solothurn". Wir verstehen uns als Info- und Drehscheibe für die Bevölkerung und für Initiativen im Suffizienz-Bereich. So haben wir zusammen mit dem WWF Solothurn "flick+werk" gegründet. Diese Initiative will die Leute anregen, Gegenstände selbst zu flicken oder herzustellen.
Suffizienz ist der entscheidende Faktor. Bei der Energieeffizienz sind sich alle Parteien einig: Ein Potenzial von 30 Prozent ist machbar; ebenso, dass fossile Energien durch erneuerbare abgelöst werden müssen. Doch damit Effizienz und Substitution wirken, braucht es Suffizienz: dass alle nur noch so viel Energie und Ressourcen nutzen, wie sie wirklich brauchen.

Kann man denn noch reisen, wenn man sich auf den Bedarf von 2000 Watt pro Jahr beschränken will?

Wir müssen den Reisenden schmackhaft machen, dass gute Lebensqualität auch mit Langsamkeit zu tun hat: Wer mit dem Zug oder Bus übers Land reist, oder mit dem Fahrrad, erlebt einen Ort ganz anders. Bis jetzt geben sich viele noch mit dem oberflächlichen Reiz des Neuen zufrieden. Und wenn fliegen, sollte der Aufenthalt im Land länger sein. Dies heisst in beiden Fällen, es braucht mehr Zeit.

Die Arbeitnehmenden in den Industriestaaten sind immer produktiver geworden, sie kompensieren mit Ferien auch den Verlust an Freiheit und Lebensqualität im Alltag.

Heute sollte anstelle von mehr Lohn die Erwerbsarbeitszeit gekürzt werden. Klar, dabei würde das Bruttoinlandprodukt sinken, aber die zusätzliche Zeit könnten die Menschen dazu verwenden, die Dinge wieder selber zu machen. Dann bräuchten sie in der Freizeit auch weniger Geld, um zu kompensieren, und könnten stattdessen Gemüse anpflanzen, Kleider selber machen, Möbel schreinern. Das Wohlbefinden ist nur bis zu einem bestimmten Grad an das Bruttoinlandprodukt gekoppelt – im Westen ist es schon längst abgekoppelt.

Für Verhaltensänderungen beim Reisen setzt sich auch fairunterwegs.org ein. Überzeugt dich das Portal?

Es ist interessant und gestalterisch attraktiv. Aber es ist viel Text, ich weiss nicht, ob man damit die 08/15-Reisenden erreicht. Ich werde sicher wieder aufs Portal gehen. Ich finde es auch gut, dass auf fairunterwegs Pioniere unter den Reiseveranstaltern wie Heinz Hirter bekannt gemacht werden. Und die Konsumkampagne "Augen auf beim Ferienkauf" finde ich wichtig. Schickt mir auf jeden Fall die neuen Postkarten! Die können wir in Läden und Beizen und bei den lokalen Veranstaltern auflegen.


Henning Mankell: Der Chronist der Winde, dtv-Tascchenbuch, München, 2011, 267 Seiten, CHF 15.90, Euro 10.00, ISBN: 978-342-312964-0