Fair unterwegs mit Patrizia Kummer, Snowboard-Olympiasiegerin
Basel, 03.12.2014, akte/
Welches Buch führt dich auf die intensivste Reise?
Was mir da als erstes einfällt ist "Momo" von Michael Ende. Es ist das allererste Buch, das ich bewusst gelesen habe. Der Untertitel lautet "Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte". Hauptpersonen sind das Mädchen Momo, das sehr gut zuhören und sich in andere hineinversetzen kann; Gigi, der Geschichtenerzähler und Fremdenführer mit den vielen weiteren Jobs; Beppo, der Strassenkehrer, der nicht das Ende der Strasse beachtet, sondern nur das nächste Stück, das er bearbeitet; und die Zeitdiebe: Herren mit fahler grauer Haut, grauen Hüten, grauen Sakkos, eleganten grauen Autos und Zigarren aus getrockneter Zeit im Mund, ohne die sie nicht existieren können. Obwohl sich niemand an ihren Auftritt erinnern kann, kontrollieren sie schliesslich die ganze Stadt. Das Buch zeigt kritisch, wie die Zeit verknappt wird und vermittelt wichtige Ansätze, wie man anders mit Zeit umgehen kann.
Sicher ein Thema, das für dich seit dem ersten Lesen nichts an Aktualität verloren hat!
Ja, ich habe viel zu tun. Dabei habe ich selber gemerkt: Je weniger ich mich stressen lasse, desto mehr Zeit habe ich. Es bringt nichts, der Zeit nachzurennen. Ich muss im Moment leben. Ich habe das Buch von Michael Ende nur zweimal gelesen – nochmalerweise lese ich Bücher gerne mehrmals – und es ist mir so viel in Erinnerung geblieben und hat mir so viel gebracht!
Hast du denn Zeit zum Lesen?
Die nehme ich mir. Neben Sport und Studium brauche ich mal eine Lese- oder Film-Auszeit, um abzuschalten und mich in eine andere Realität entführen zu lassen. Deshalb lese ich lieber keine Biografie oder Dokumentation, sondern eine Geschichte, die mich mitreisst und eine Aussage rüberbringt. Ich reise sehr viel, meistens im Auto. Es ist oft einfach langweilig, während vieler Stunden im Auto unterwegs zu sein. Aber wenn ich mal in öffentlichen Verkehrsmitteln reise, ist das mega entspannend, und da packe ich dann die Gelegenheit zum Lesen.
Reisest du gerne?
Ja, ich sehe gerne etwas Neues, andere Menschen. Die meisten Reisen im Zusammenhang mit dem Sport werden für mich organisiert. Aber das Jahr über muss ich alle sechs bis sieben Wochen eine Erholungswoche nach intensivem Kraft- und Konditionstraining einlegen. Ich habe gemerkt, dass ich mich in der Schweiz nicht so gut erholen kann, weil zu viele Eventanfragen eingehen. Das heisst, ich muss weg. Mal war ich in Schottland, mal in Toronto, das tut mir gut. Nach dem Olympiasieg war das Interesse an meiner Person so gross, dass ich eine längere Auszeit brauchte. Ich reiste für fünf Wochen nach Maui/Hawai, mietete dort ein Apartment und konnte in einem lokalen Bioladen einkaufen, so auch die Lokalbevölkerung treffen. Sie legt viel Wert auf das Eigene, das hat mich beeindruckt.
Was heisst für dich fair unterwegs sein?
Nun, grundsätzlich habe ich ja einen umweltbelastenden Job, mit all den Reisen und den Pisten in den Bergen. Aber im Rahmen meiner Möglichkeiten versuche ich mich umweltgerecht zu verhalten: Die Petflasche stelle ich im Hotel zum Beispiel immer neben den Abfall, damit sie separat entsorgt werden kann – meist nur, um später zu entdecken, dass sie doch wieder im Abfall gelandet ist. Und ich bemühe mich auch, immer fair gegenüber Menschen zu sein: im Alltag zum Beispiel, in dem ich im Bus oder Zug den Platz räume, wenn jemand ihn nötiger braucht. Auf Reisen, indem ich internationale Fastfood-Ketten meide und eher in ein lokales Restaurant gehe. Und schliesslich ist mir im Sport besonders wichtig, fair unterwegs zu sein. Denn wenn ich fair Sport treibe, dann ist der Sieg auch mehr wert, als wenn ich immer auf den eigenen Vorteil bedacht bin, und er trägt auch eher den Respekt der KollegInnen ein.
Was gefällt dir besonders an deiner Sportart?
Mich begeistert die Geschwindigkeit. Und ausserdem gefällt mir beim Snowboarden auch alles rund herum. Wir sind wie eine Familie: Wenn etwas kaputt geht, kannst du sicher sein, dass dir jemand hilft. Und im Parallelslalom stehts du natürlich in Konkurrenz mit der anderen Fahrerin, aber nach der Abfahrt schüttelt man sich sofort wieder die Hand. Damit bezeugen wir den Respekt gegenüber der Gewinnerin, aber auch gegenüber der Verliererin.
Deine kollegiale Haltung passt zu deiner viel gerühmten mentalen Stärke. Woher kommt sie?
Meine ersten Snowboardrennen fuhr ich mit zwölf oder 13 Jahren. Seit acht Jahren bin ich im Weltcupzirkus mit dabei. Ich habe im Sport viel erlebt und musste auch unten durch. Aber ich habe immer weitergemacht. Es kam mir nie in den Sinn aufzuhören. Ich habe gelernt, mit Druck umzugehen. Daraus mache ich kein Geheimnis. In Drucksituationen halte ich mir vor Augen, worum es mir eigentlich geht: ums Snowboarden, um den Spass und die Freude, die ich mit diesem Sport verbinde. Ich versuche vor dem Rennen nicht an die Konsequenzen eines Siegs oder einer Niederlage zu denken, oder an die Medaille, sondern lasse nur dieses Gefühl wieder aufkommen – das macht micht extrem ruhig.
Ganz aufgehen in dem, was man macht, wird in der Psychologie ja auch als ein Rezept zum Glücklichsein gehandelt. Du hast letztes Jahr den Bachelor in Psychologie gemacht und bist jetzt im Masterstudium. Was bringt dir das Studium?
Es war cool, etwas über die Motivationspsychologie zu lernen und das dann anzuwenden. Ich habe auch gelernt, die Dinge weniger schwarzweiss, sondern mehr in Graustufen zu betrachten. Was ich mir gut gemerkt habe ist die menschliche Tendenz, bei anderen vom Verhalten gleich auf die Persönlichkeit zu schliessen, aber wenn es um uns selber geht, immer alles gerne mit den Umständen zu erklären. Das versuche ich jetzt besser zu machen: Entscheidet sich zum Beispiel jemand ganz anders, als ich es getan hätte, so kann ich das heute eher stehen lassen. Ich kenne den Hintergrund nicht, es kann für diese Person der perfekte Entscheid gewesen sein. Ich versuche, wenn ich die Handlungen anderer verstehen will, immer deren Situation zu berücksichtigen. Damit spare ich viel Kraft, weil ich mich nicht unnötig aufrege.
Was machst du mit dem Master in Psychologie?
Keine Ahnung. Ich mache das Studium, weil es Spass macht – wie alles, was ich mache.
Was hältst du von unserem Reiseportal fairunterwegs.org?
Es ist sinnvoll. Dafür ist das Internet da, dass man solche Informationen kompakt finden kann. Besonders gefällt mir, dass fairunterwegs unabhängig ist und dadurch glaubwürdig. Ein Stück die Welt verbessern, wie ihr es als Nonprofit-Organisation tut, das finde ich cool.
Die Leseempfehlung von Patrizia Kummer:
Michael Ende: Momo. Oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974, Kategorie Jugendbuch. Thienemann-Esslinger, Stuttgart 2013, 304 Seiten, CHF 29.90; EUR 19.99; ISBN 978-522-20187-2