Welches Buch führt Sie auf die schönste Lesereise?

Bei jedem der vielen Bücher, die ich vor allem beim Pendeln zwischen Bern und Biel lese, gehe ich auf eine Reise. Die starken Bilder aus dem Buch "Amazone" des französischen Autors Maxence Fermine tauchen in meinem Innern immer wieder auf. Auf dem Fluss vor einem Amazonasdorf treibt eines Tages ein Floss mit einem weissem Flügel, auf dem ein Afroamerikaner in weissem Frack Jazz spielt. Er legt in einem imaginären Dorf an. Das Schiff, auf dem er als Schiffspianist gearbeitet hat, ist versunken. Einer inneren Berufung und einem Traum folgend, muss er jetzt den Flügel durch den Amazonas zu einem Urwalddorf transportieren. Die Bilder vom Transport des schwarzen Flügels durch Sumpf und Wälder, die Felsen hoch, wo er fast hinunterfällt, sind sehr poetisch. Das Buch findet ein ungewöhnliches Ende. Faszinierend ist, dass in dieser Geschichte Kultur – und nicht Zivilisation – in die Urwaldlandschaft einbricht. Das ist sehr berührend, poetisch, romantisch.

Spricht "Amazone" das an, was Sie bei Ihrem Engagement für den Landschaftsschutz antreibt?

Das Bild dieses Afroamerikaners im weissen Frack, der in der Dorfbar spielt und den Flügel aus dem Gefühl heraus transportiert, dies sich und seiner Berufung schuldig zu sein, ist surreal. Aber irgendwie ist es ein Idealbild der Berührung von Mensch und Natur. Das Buch hat mit wirtschaftlicher Beweggründung des Lebens nichts zu tun, der Protagonist ist von allem anderen als von ökonomischen Interessen angetrieben.

Eine Antithese zur Realität?

Es zeigt, dass dieses Leben von Melancholie, Traum und Sehnsucht auch ein Weg ist. Der Protagonist hat diesen Weg zurückgelegt. Dabei hat er nicht einfach alles kurz und klein geschlagen, was sich ihm entgegenstellte, sondern er ging mit Sorgfalt an die Aufgabe, die ihm viele Nöte, aber auch grosse Glücksgefühle bescherte. Dieser Antrieb in der heute so ausgenüchterten Zeit berührt ganz besonders.

Wie sind Sie selber unterwegs?

Ich bin natürlich viel unterwegs, und das auch nicht ungern. Unterwegs sein ist für mich ein Akt der Einsamkeit. Ich trete aus dem Alltag aus und allein – wie auch immer relativ, mit Handy und Computer – in eine andere Dimension. Ich erlebe das positiv, inmitten der Zugmasse als einsamer Mensch unterwegs zu sein.
Ansonsten bin ich eher der Antityp des Reisenden. Mich zieht kein Ziel an. Ich muss nicht nach Amazonien. Schon nur, weil ich Flugangst habe. Als Kind habe ich zwar auch von fernen Ländern geträumt und habe auch heute noch das Geo abonniert. Aber irgendwie fürchte ich mich davor, die Orte zu sehen. Ich weiss zu viel darüber, was hinter den Träumen von den Orten hinter den sieben Bergen steckt. Ich erkenne mich in Fernando Pessoa wieder, der, wenn er auf die Strasse Lissabons hinausging, den Sonnenwurf auf der Häuserzeile als Reiseabenteuer deutete. An den Orten, zu denen es mich zieht, bin ich in irgendeiner Form sesshaft, lebt ein Teil meiner Identität. Dort bin ich auch tätig, habe einen Antrieb, mich einzubringen. Ein solcher Ort ist Lipari, wo ich zu Wander- und Kulturtourismus recherchiert und publiziert habe. Oder Mexiko. Ich reiste in den 80er-Jahren dorthin, um mich mit der Landnutzung in Yucatan auseinanderzusetzen.

Zu welchem Typ des Reisenden Sind Sie der Antityp?

Der typische Reisende will die Seele baumeln lassen und sich unterhalten. Dafür reist er und konsumiert. Und trifft das gleiche internationale Personal und Publikum in den gleichen internationalen Hotelketten. Diese Art des Reisens kann ich mit meiner Lebenshaltung nicht vereinbaren. Ich will mir keine Sachen vorführen lassen. Ich habe Angst vor Gaukeleien, von denen ich verführt werden könnte. Aber auch Angst, etwas zu provozieren.

Was?

Damals in Yucatan besuchte ich die Mayastätten und arbeitete an einer Radiosendung darüber. Ich war mit dem Rucksack unterwegs und fühlte mich ein bisschen wie Alexander von Humboldt auf Reisen. Doch die Einheimischen nahmen mich als westlichen Touristen wahr. Als die Leute später nach Yucatan reisten, waren da schon die Bank für die Touristen und die Benzinstation. Offenbar war das, was ich ausstrahlte, etwas völlig anderes als das, was ich bin oder sein will.

Gibt es denn für Sie noch eine vertretbare Form des Reisens?

Klar, die innere Reise. Ansonsten ist es schwierig. Es ist schon eine enorme Verschwendung von Ressourcen, Energie, Wasser. Vom moralisch-ethischen Standpunkt betrachtet wäre die Antwort also nein. Anderseits ist Reisen seit Urzeiten ein tiefer Sehnsuchtswunsch. Vielleicht müssten wir reisen wie die Nomaden, uns treiben lassen von der eigenen Bewegung. Ich bin fasziniert vom Thema Gehen, von den grossen Spaziergängern der Vergangenheit wie etwa Robert Walser. Da wird die Bewegung fast zur Trance. Ich jogge auch viel und gern, oder gehe irgendwohin übers Land. Das ist für mich jeweils eine Art Mini-Reise und ein Akt der Einsamkeit, der mir viel bringt. Aber eben etwas völlig anderes als ein finales Reisen à la zwei Wochen Sharm el Sheik – ohne dass ich die Reisenden pauschal verurteilen möchte.

Für die freie, nomadische, nicht finale Art des Reisens braucht es aber entweder ein dickes Portemonnaie oder ein sehr gastfreundliches Umfeld.

Ja, die Einstellung der Bereisten ist für ein richtiges Reisen entscheidend. Einrichtungen wie das Passhospiz oder die Klöster, wo empfangen wird, wer einen beschwerlichen Weg hinter sich gebracht hat. Dabei kann man das Fremdsein erspüren – nach dem berühmten Satz des Ethnopsychoanalytikers Fritz Morgenthaler "Look, I am a foreigner". Auf meinen Reisen in Lipari habe ich das erlebt: Gemustert, angeschaut, wiedererkannt zu werden. Aus diesem Prozess heraus entsteht Berührung. Diese Art zu reisen ist schwieriger geworden. Denn die Landschaften sind derart zerschnitten, überall treffe ich auf Absperrungen von Privateigentum. In dieser Zerstörung, Zerschneidung weicht das Ästhetische dem nüchtern Funktionalen. Man kann sich nicht mehr in der Landschaft verlieren, alles ist verplant, hochgeometrisch, mit Wegweisern versehen. Die Faszination des Sich-Verlaufens ist weg. Früher habe ich mich im Wald beim Elternhaus in Neuhausen am Rheinfall so verlaufen können, das ich fast nicht mehr heraus fand. Das war eine Art "Wilderness Experience".

Sie kämpfen gegen die Zerstörung der landschaftlichen Vielfalt, die bedroht ist von Spekulation, Mafia, Zweitwohnungsbau… Gegen wen kämpfen Sie?

Eigentlich kämpfen wir gegen uns selbst. Im Kunstmuseum Thun habe ich die Ausstellung "Landschaft im Wandel" besucht. Gemeinsam mit einem Bauherrn betrachtete ich die alten Ansichten und hatte den Eindruck, dass er wie ich bedauerte, was verloren gegangen war. Selbst Leute, die die Woche hindurch Land betonieren, suchen am Wochenende das Gegenteil. Letztlich hat das niemand gewollt. Schuld tragen die Ansprüche, die dank den Energiequellen immer grösser geworden sind. Das sind Widersprüche, die innerlich kaum zu lösen sind.
Ich bin selbst nicht der Konsequenteste. Aber ich versuche, von der inszenierten Gesellschaft wegzukommen und etwas von der "Economie de Décroissance" zu leben: Ich muss nicht alles erlebt und konsumiert haben. Mein 23-jähriger Untermieter muss zum Kitesurfen nach Übersee. Ich bin jetzt fünfzig. Mit zwanzig hatte ich auch meine Begehrlichkeiten, aber seither sind sie in der Gesellschaft exorbitant gewachsen. Die Kunst liegt heute darin, den grösseren Gewinn im Verzicht wahrzunehmen.

Was halten sie von unserem Reiseportal fairunterwegs.org?

Ich finde diese Sensibilisierung toll. Gefallen hat mir zum Beispiel der Artikel zur Zunahme der Reisen mit der gleichzeitigen Zunahme der Xenophobie. Man könnte erwarten, dass Reisende eine differenzierte Haltung gegenüber Fremden einnehmen. Bei einer Reise tritt man in eine andere Individualität ein. Aber der entscheidende Schritt, die Kultur der Begegnung in den Alltag zu übertragen, passiert nicht. Fairunterwegs ist eine der wenigen Reisenden, die auch Grundsatzfragen stellen. Wir haben auch Pflichten, wenn wir etwas kaufen – auch wenn es eine Reise ist.
Maxence Fermine: Amazone. Roman, Verlag Albin Michel, 2004/1, Taschenausgabe, 224 Seiten, 5.23 Euro, ISBN : 2253117331
Weitere Tipps:
Alexander von Humboldt

  • Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents. (Übers. Hermann Hauff). Die einzige von Humboldt autorisierte Übersetzung; bei J.G. Cotta, Stuttgart 1859. Im Internet bei Google Books: Erster Band, Zweiter Band, Dritter Band, Vierter Band
  • Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Hrsg. von Ottmar Ette. 2 Bände. Insel, Frankfurt am Main und Leipzig 1991, ISBN 3-458-16947-4
  • Fahrt auf dem Orinoko. Reisebericht, Hörbuch, gelesen von Johannes Steck. Audiobuch Verlag, Freiburg im Breisgau 2007, ISBN 3-89964-233-3

Fernando Pessoa: Mein Lissabon. Ein Lese- und Bilderbuch. Was der Reisende sehen sollte. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes und Sabine Dörlemann. Ammann-Verlag 2001. 190S. Ebr. ISBN 3-250-30007-1, e (D) 14.50/Fr. 28.–/e (A) 14.90