Welches Buch führt Sie auf die intensivste Reise?

Viele. Mit Pedro Lenz reise ich nach „Schummertau“ und mit Kurt Tucholsky ins Schloss Gripsholm. Ich mag Bücher, die im Alltag spielen und gleichzeitig fragen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Fasziniert bin ich auch von Hanna Arendts Auseinandersetzung mit der Politik. Im Rahmen der Analyse der totalitären Regimes in Hitler-Deutschland und Stalin-Russland während des zweiten Weltkriegs untersucht sie, was Politik ist und nach welchen Spielregeln Menschen ihr Zusammenleben gestalten.

Nach welchen Spielregeln sollten wir Menschen unser Zusammenleben gestalten?

Der Mensch ist ein soziales Wesen und lebt nur in Frieden, wenn es auch den Nachbarn gut geht. Es geht deshalb nicht ohne Toleranz und Gemeinschaftssinn. Zentral ist auch der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, damit die nächsten Generationen in ihrer Entwicklung nicht eingeschränkt sind. Heute ist die Welt geprägt von immer grösserer Ungleichheit in Bezug auf Einkommen, Besitz und Lebenschancen. Wenn diese Ungleichheit weiter zunimmt, dann leben wir auf einem Pulverfass.

Wie erklärt Hanna Arendt diese Ungleichheit?

Sie beschreibt die Entwicklung aus einer historischen Perspektive und den Einfluss von Machtinteressen und Ideologien. Leider ist es sehr schwierig, diese Logik zu durchbrechen. Nach dem ersten und zweiten Weltkrieg wurde die Landkarte im Nahen Osten oder in Afrika neu gezeichnet. Bereits der Kolonialismus in seiner unvergleichbaren Brutalität – etwa dem Genozid von mindestens einer Million Menschen auf den Gummiplantagen im Kongo – schuf die Basis für das Ungleichgewicht in der Welt, das überwunden werden muss.

Warum haben sich die meisten Entwicklungsländer nach der Unabhängigkeit nicht aus ihrer passiven Rolle befreien können?

Die westlichen Werte der Demokratie wurden von den ehemaligen Kolonien übernommen, ohne dass damit eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung einherging. Die alten Eliten blieben an der Macht, ebenso die globalen Konzerne, die sich nicht um die Durchsetzung von Menschenrechten oder von Umweltstandards kümmerten und es auch heute nicht tun. Anders war dies nach dem zweiten Weltkrieg, als die Siegermächte die kriegszerstörten Länder Europas mit Krediten, Waren und Rohstoffen unterstützten. Sie schufen damit eine Grundlage für den Wirtschaftsboom in den Fünfzigerjahren. Doch als immer mehr Kolonien politisch unabhängig wurden, lag den ehemaligen Kolonialmächten mehr daran, sich weiterhin den Zugang zu den Rohstoffen zu sichern. Wenn die Menschen keine Chance auf eine echte Beteiligung an der globalen wirtschaftlichen Entwicklung haben, nützt die beste Verfassung nichts.

Und wenn sie keine Chance haben, wirtschaftlich zu überleben, wandern sie aus.

Noch nie haben so viele Menschen wie heute wegen kriegerischer Konflikte, Naturkatastrophen oder wirtschaftlicher Chancenlosigkeit ihre Heimat verlassen. Um dies zu ändern, müssen die Länder des Westens ihre Entwicklungszusammenarbeit verstärken und die Wirtschafts- und Handelsstrukturen auf fairere Grundlagen stellen.

Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht, und es gab auch noch nie so viele Urlaubsreisen wie heute.

Länder des Südens können sich mit dem Tourismus eine Einnahmequelle schaffen. Reisen, die über touristische Resorts hinausgehen und einen Kontakt mit der Bevölkerung ermöglichen, können auch viel zur Verständigung beitragen. Gerade uns aus der perfekt organisierten Schweiz tut es gut, wenn wir sehen, wie schwierig das Leben in anderen Ländern ist, wenn der öffentliche Verkehr nicht funktioniert oder kein sauberes Wasser aus den Leitungen fliesst. Allerdings gibt es noch viel Arbeit zu tun, damit der Austausch fair und der Tourismus auch ökologisch nachhaltig ist.

Sie haben vorhin vom Kolonialismus gesprochen, der direkt in den Kapitalismus mündete: Orten Sie im weltweiten Tourismusgeschäft keine kolonialen Strukturen?

Natürlich, vor allem beim Tourismus in wirtschaftlich schwachen Ländern. Dort ist das Gefälle enorm. Reiche Engländer begannen ja im 18. und 19. Jahrhundert die Welt zu entdecken. Auch heute reist nur freiwillig herum, wer Zeit und Geld hat. Aber wir können das Rad nicht zurückdrehen. Es geht heute darum, den Tourismus so zu gestalten, dass er effektiv Chancen bietet zur Modernisierung und zur Belebung der Wirtschaft und der einheimischen Bevölkerung nützt.

Was heisst für Sie fair unterwegs zu sein?

Es heisst, dass ich meinen ökologischen Fussabdruck möglichst klein halte und möglichst wenig Spuren zurücklasse. Es heisst auch, dass ich faire Preise bezahlen will und nicht den billigsten Weg suche. Die Bevölkerung vor Ort soll ja etwas am Tourismus verdienen können. Weiter will ich auch hinter die Kulissen der Orte schauen, die ich besuche. Ich lese viel darüber und gehe am liebsten dorthin, wo ich bereits Bekannte oder eine Verbindung über meine Arbeit habe. Eine meiner letzten Reisen führte mich nach Rotterdam. Als Verkehrspolitikerin wollte ich den zweitgrössten Hafen der Welt kennenlernen und tauchte in eine hochspannende Geschichte von Migration und globalen Warenströmen ein. Natürlich habe ich auch die alternative Gastro-Szene erkundet und ein kühles Bad in der Nordsee genossen.

Und wie halten Sie es mit Fernreisen?

Ich reise relativ wenig. Meistens bin ich zu Fuss in der Schweiz unterwegs oder fahre mit dem Zug in europäische Städte. In meinem Leben bin ich bisher dreimal geflogen. Meine vierte Flugreise wird mich wahrscheinlich im nächsten Jahr nach Nepal führen. Zu diesem Land habe ich eine verwandtschaftliche Bindung. Mich locken aber auch die einmaligen Berglandschaften. Selbstverständlich werde ich den CO2-Ausstoss meines Flugs kompensieren.

Wie gefällt Ihnen unser Reiseportal www.fairuntwegs.org im neuen Look?

Es kommt schön, einfach und klar daher, die Icons und Headerbilder erleichtern die Orientierung. Fairunterwegs.org hilft Menschen, die sich mit den gängigen Reiseformen nicht wohl fühlen, Alternativen zu finden. Das Reiseportal zeigt auf, wie Reisende den Tourismus positiv beeinflussen können und wie dadurch Begegnungen möglich sind, die Reisende und GastgeberInnen bereichern. Das ist sehr hilfreich.

Von Regula Rytz empfohlene Bücher:

  • Hanna Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Piper, München-Zürich 1986 (TB), 12. Aufl. 2008, ISBN 978-3-492-21032-4
  • Pedro Lenz: Der Goalie bin ig. Kein + Aber, 2. Aufl. Zürich 2014, 183 Seiten, CHF 13.90, EUR 9.90; ISBN 978-0369-5918-4
  • Kurt Tucholsky: Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte. Fabula, Hamburg 2015, 144 Seiten, CHF 21.90, EUR 14.90, ISBN 978-95855-295-1 

Von Regula Rytz empfohlene Bücher:

  • Hanna Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Piper, München-Zürich 1986 (TB), 12. Aufl. 2008, ISBN 978-3-492-21032-4
  • Pedro Lenz: Der Goalie bin ig. Kein + Aber, 2. Aufl. Zürich 2014, 183 Seiten, CHF 13.90, EUR 9.90; ISBN 978-0369-5918-4
  • Kurt Tucholsky: Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte. Fabula, Hamburg 2015, 144 Seiten, CHF 21.90, EUR 14.90, ISBN 978-95855-295-1