Welches Buch führt Sie auf die intensivste innere Reise?

Ich lese gerne und viel. Jedes gute Buch nimmt mich auf eine innere Reise mit, das ist ja der Witz davon. Jetzt lese ich gerade das tolle Buch "Gesang der Fledermäuse" der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Der Kriminalroman spielt im gebirgigen Teil Polens nahe der tschechischen Grenze. Tokarczuk schreibt spannend, humorvoll und differenziert. Die Hauptperson ist Astrologin – ein Gebiet, von dem ich wirklich gar nichts verstehe. Aber die Lektüre versetzt mich in eine andere Welt, ein Dorf mit rund zehn Häusern, das im Sommer von Städtern benutzt und im Winter von allen verlassen ist, mit vielleicht noch drei BewohnerInnen, die ausharren. Es geht unter anderem um Themen wie Einsamkeit, Abgeschiedenheit, Selbstgenügsamkeit, älter werden, sterben. 

Lesen Sie gerne Romane?

Ich lese vorwiegend Romane, mehrheitlich von ausländischen Autoren und Autorinnen. Es ist übrigens interessant, dass Sie gerade die Frage nach der inneren Reise gestellt haben. "Innere Reisen" waren das Thema am letzten Stamm der Klima-Grosseltern (siehe Box). Das vorletzte Mal diskutierten wir über das physische Reisen – und daraus entstand auch unser Reisebericht, der auf fairunterwegs erschienen ist. Doch dann kam Corona, und wir beschäftigten uns mit der Frage, wie man sich auch ohne physische Reisen bereichernde Auszeiten gestalten kann. Wir sind auf viele Methoden gestossen: Lesen, Joggen, Tanzen, Meditation, Gärtnern, Kunst und Musik – es gibt so viele Vehikel, die man für das innere Reisen nutzen kann.

Sind Reisen das Komplementärprogramm zum Alltag?

Wir alle haben viele Möglichkeiten in uns. Im Alltag sind wir auf ein paar Möglichkeiten festgelegt, andere bleiben nicht realisiert. Jeder verspürt zu Zeiten die Lust, auch andere spannende Seiten auszuleben. Sowohl Reisen wie Bücher sind eine Möglichkeit, sich einen Freiraum zu schaffen, in dem man sich in anderen Bereichen bewegen kann.

Was bedeutet für Sie fair unterwegs sein im Alltag und auf Reisen?

Grundsätzlich bedeutet für mich fair sein, anderen keinen Schaden zuzufügen. Meine Frau und ich sind Klima-Grosseltern: Wir wollen Klimagerechtigkeit auch für die nächste Generation. Unsere Enkelin ist vierjährig, ich bin gerade 70 Jahre alt geworden. Wenn unsere Enkelin 70 sein wird, wie wird es dann aussehen, welche Möglichkeiten wird sie dann noch haben? Wir leisten uns übertriebenen Luxus auf Kosten derer, die nach uns kommen – es sei denn, wir fahren unseren Konsum herunter. Ich finde es unfair, was manche unserer Altersgenossen machen: Keine Zeit für sonst was, man fliegt was das Zeug hält. In Bezug auf das Klima heisst fair sein, seinen CO2-Fussabdruck so zu reduzieren, dass nicht nur andere Regionen der Welt, sondern auch künftige Generationen in ihren Möglichkeiten nicht eingeschränkt werden. Wir wissen es inzwischen alle: Es dauert hunderte von Jahren, bis das emittierte CO2 abgebaut ist. Auch wenn wir heute unseren Ausstoss reduzieren, wird es also erst einmal noch wärmer und die Klimafolgen werden noch schlimmer, bevor es allmählich wieder besser wird. Jegliche Reisetätigkeit ist mit erhöhter Emission von Treibhausgasen verbunden – wobei je nach Reiseform Riesenunterschiede bestehen, wie hoch diese Last ausfällt. Je mehr wir uns der CO2-Neutralität annähern, desto fairer. Aber wirklich fair unterwegs sein heisst auch per sofort weniger reisen, auf unnötige Reisen zu verzichten.

Welche Reisen sind unnötig?

Ja darüber liesse sich jetzt hin und her diskutieren. Ich bin erstmals geflogen, als ich 26 Jahre alt war. Meine Enkelin sass schon als Halbjährige im Flugzeug. Früher war es überhaupt nicht schlimm, dass man nur selten reisen konnte. Viele Reisen werden heute nicht überdacht, sie werden gemacht, weil’s halt andere auch tun. Da gälte es, einmal Distanz zu nehmen, und sich zu überlegen: Ist die Reise wirklich nötig? Muss ich zum Eisklettern nach Patagonien oder könnte ich das auch in den Eisfällen von Kandersteg? 

Vielleicht gibt es für Patagonien grad das billigere Angebot.

Das führt ins weite Feld der Politik: Die Bedingungen sind einfach unfair.
Meines Erachtens machen Reisen nur Sinn, wenn man offen ist für die Menschen in den besuchten Gebieten. Wichtig ist auch, respektvoll zu sein und grosszügig statt geizig. Schnäppchenjagen ist abstossend. Wenn wir schon dort sind, sollen die Einheimischen auch etwas davon haben. Aus der Perspektive eines älteren Menschen kann ich sagen, dass fair unterwegs sein auch heisst, sich genug Zeit zu nehmen für das Reisen. Zeit für die Frage, was ich denn eigentlich brauche und die Vorbereitung auf die Reise. Zeit für einen Aufenthalt, bei dem Erleben möglich ist, statt einfach von einem Punkt zum nächsten zu hasten. Zeit für eine langsamere Fortbewegung. Das tun aber gerade ältere Leute kaum. Sie fliegen an den Abfahrtsort des Kreuzfahrtschiffs. Alle, die wir auf dem Postschiff angetroffen haben, kamen mit dem Flugzeug nach Bergen. Meine Frau und ich, die mit dem Zug angereist waren, galten als Exoten. 

Sie und Ihre Frau sind ja nicht nur Grosseltern für das Klima, sondern auch engagiert bei den Klimagesprächen, die Fastenopfer und Brot für alle veranstalten. Worum geht es da und was für Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Die Klimagespräche sind ein psychologisch-wissenschaftlich basiertes Verfahren, um in sechs Sitzungen eine Gruppe von sechs bis acht Personen auf dem Weg zum konkreten klimaverträglichen Handeln zu begleiten. Zum verwendeten Gerüst gibt es ein ausführliches Handbuch. Das Reisen wird unter dem Thema Mobilität behandelt. Ich habe sowohl als Gruppenmitglied teilgenommen wie auch als Moderator Gespräche geleitet. Dabei habe ich zweierlei festgestellt: Zum einen, dass der Weg von der Erkenntnis zum Handeln sehr komplex ist. Ich habe Respekt vor dem, was es bedeutet, Klimaschutz im eigenen Leben umzusetzen. Zum zweiten, dass es extrem schwierig ist, über die Klimafrage mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie haben grosse Ängste und Widerstände, wehren ab, reden klein, reden sich heraus. Während meiner Tätigkeit als Arzt habe ich solche Widerstände auch kennengelernt, etwa bei Krebspatienten. Aber dort war aufgrund des Leidensdrucks die Motivation zum Handeln grösser. Wenn man aber sagt, es gibt in gewissen Regionen der Welt Extremwetterlagen und bei uns schmelzen die Gletscher, so nehmen dies praktisch alle zur Kenntnis, aber schätzungsweise 90 Prozent der Menschen in der Schweiz lässt das kalt.

Auch auf fairunterwegs.org versuchen wir Reisende vom Wissen zum Handeln zu begleiten. Wie gefällt Ihnen das Portal?

Ich finde es total gut und wichtig, zu zeigen, dass andere Arten zu reisen attraktiv sind. Ich bin wirklich der Überzeugung, dass Reisende oft über den Tisch gezogen werden und viel Geld für gar nicht so tolle Reiseerlebnisse ausgeben. Ich kenne selbst Personen, gerade in unserer Altersklasse und besonders Frauen, die aus Angst spannende und faire Individualreisen nicht in Betracht ziehen. In den Klimagesprächen erklärte eine Teilnehmerin, sie traue sich nicht, anders zu reisen. Sie fahre von zu Hause bis zum Flughafen und folge an der Destination einem vorgegebenen Programm.

Es ist gar nicht so einfach, mit der Angst umzugehen. Eine von uns diskutierte Möglichkeit, die Schwelle für das direktere Erleben von Ort und Menschen etwas herabzusetzen, ist es, sich in Gruppen zusammenzutun.

Buchempfehlung: Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Kampa-Verlag, Zürich 2019, 320 Seiten CHF 32.50, EUR (D) 24.00, EUR (A) 24.70, ISBN 978-3-311-10022-5.

Klima-Grosseltern und Klimagespräche

Die "Klima-Grosseltern" sind eine schweizerische Bewegung und ein gemeinnütziger Verein. Sie wurden mit der Absicht gegründet, allen Grosseltern, Tanten, Onkeln und übrigen Personen der älteren Generation eine Stimme zu geben, die sich um das Klima sorgen, das sie ihren Nachkommen hinterlassen. Weitere Infos zum Verein finden Sie hier.

René und Marianne Jaccard sind nicht nur Mitglieder des Vereins ‹Klima-Grosseltern›, sondern engagieren sich auch aktiv für die Klimagespräche von Brot für alle und Fastenopfer – bis Mai 2020 moderierten sie sechs Gespräche mit einer Gruppe von acht Leuten.  Weitere Informationen zu den Klimagesprächen: sehen-und-handeln.ch/klimagespraeche/