Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?

Ich lese gerne Krimis über die Gegend, in die ich reise. Sind sie gut geschrieben, am liebsten von SchriftstellerInnen des Landes, lernt man viel über die Gegend. In den letzten drei Jahren war ich wegen des Projekts der Sozialkliniken viel in Griechenland. Da passen die Krimis von Petros Markaris. Er beschreibt die Situation im Land, mit Korruption, Krise…

Schuldenkrise…

Genau. Dazu ist auch "Der grosse Plan" von Wolfgang Schorlau zu empfehlen. Der Krimi handelt von einer jungen Deutschen mit griechischen Wurzeln, die als Beamtin den Staat zur Umsetzung des Schuldendeals mit der EU beraten soll. Sie erfährt, dass Deutschland während der Besetzung Griechenlands im zweiten Weltkrieg das Land regelrecht ausgeplündert hatte, was zu Krankheiten und Hungersnöten führte, an denen viele GriechInnen starben. Und dass die Wehrmacht Massaker an ganzen Dörfern verübt hatte. Nach dieser Lektüre versteht man gar nicht, warum nicht Deutschland den Griechen Schulden zurückzahlt statt umgekehrt. Damals mussten die besetzten griechischen Banken den Deutschen das Geld abliefern.

Wie wach ist das Bewusstsein über das erlittene Unrecht bei den jungen GriechInnen heute?

Es ist sehr wach. Viele haben Eltern oder Grosseltern, welche die Besatzung noch selbst erlebt haben. Die Verhandlungen mit Deutschland und der EU über die griechischen Schulden sehen aus dieser Perspektive anders aus.

Was suchst du in den Büchern, die du wählst?

Wissen über die Situation in den Ländern, historisches Wissen, und ein Gefühl für die Stimmung in der Gegend.
Ich habe auch viel italienische Nachkriegsliteratur gelesen. Ich bin Italienerin, mein Vater stammt aus Intra in der Region des Lago Maggiore und die Mutter aus Piacenza. Aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Meine Mutter ist schon 48 in die Schweiz gezogen, mein Vater ist Secondo. Die Familie Schiavi migrierte 1904 in die Schweiz. Sie gehörten zur den Waldensern, der Kirche der protestantischen Minderheit in Italien, und hatten Kontakt zu den Waldensern in Zürich.

Treibt dich diese Geschichte für dein politisches Engagement an?

Ich bin im Bewusstsein aufgewachsen, zu einer diskriminierten Minderheit zu gehören. Mein Vater verdiente ordentlich und wir gehörten durchaus zur Mittelschicht. Aber ich war in der Schulklasse das einzige Ausländerkind und wurde als "Tschingg" beschimpft. Und dann noch als Frau: Der Lehrer fand, ich soll doch besser nur die Lehre machen.

Wie haben dich die "Ausländer raus"-Abstimmungen der 70er-Jahre geprägt?

Die Ausländerinitiative von James Schwarzenbach, die den Ausländeranteil auf 10 Prozent begrenzen wollte, kam 1970 zur Abstimmung. Damals war ich 15 Jahre alt. Ich hatte selber keine Angst, bei einer Annahme wegziehen zu müssen. Aber die ausländerfeindliche Stimmung war schon spürbar. Bei den späteren Ausländerinitiativen von Oehen und Konsorten war ich schon im Soziologiestudium. Ich unterrichtete in Zürich MigrantInnen und war Mitglied der POCH-Hochschulgruppe (POCH – Progressive Organisation der Schweiz [Red.]). Ich war schon früh politisch engagiert, wahrscheinlich aus meiner doppelten Diskriminierungserfahrung als Frau und Ausländerin. Meine Mutter lebte während des Faschismus in der Emilia Romagna, einer Hochburg der Widerstandskämpfer. Aber natürlich waren da auch die faschistischen Jugendorganisationen, in denen sie und ihre KollegInnen sozialisiert wurden. Die Mutter sprach nie über diese Zeit. Also las ich verschiedene Werke von Giorgio Bassani, der in der gleichen Zeit wie meine Mutter in der gleichen Gegend lebte und detailliert über die Geschehnisse berichtete. Dann konfrontierte ich meine Mutter mit dem angelesenen Wissen, und sie begann zur erzählen, etwa, wie sie und ihre FreundInnen von einem Flugzeug verfolgt wurden. Die Mutter war Hebamme. Als die Familie in ein Dorf nahe von Piacenza floh, gewährleistete sie zusammen mit dem Apotheker die Gesundheitsversorgung des Dorfes. – Ich konnte über Bassanis Bücher meine eigene Geschichte aufarbeiten.

Wir haben viel über dein Engagement für Minderheiten gesprochen. Aber was heisst für dich fair unterwegs sein im Alltag und auf Reisen?

Ich habe lange für die grün-rote Partei BASTA politisiert und bin noch heute Mitglied. Aber ich war nie besonders grün unterwegs. Seit ich 25 Jahre alt bin, hatten wir immer ein Auto, vor allem für die Arbeit. Ich machte Schulungen in Dörfern, wo ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum mehr nach Hause gekommen wäre. Hans und ich haben auch seit 20 Jahren ein Generalabonnement – sogar unser Hund hatte früher ein GA.

Faire Arbeitsbedingungen sind mir wichtig. Ich achte auch darauf, woher das Gemüse kommt und ziehe Bioprodukte vor. Allerdings nicht immer saisonale, weil ich lieber Zucchetti habe als Kohl. Dank meiner Ältesten, die schon mit sieben Jahren beschloss, vegetarisch zu leben, essen wir nicht viel Fleisch, meist nur dann, wenn wir Besuch haben. Und immerhin versuche ich, eher weniger zu konsumieren. Die Bücher lese ich heute meist auf dem I-Pad, da habe ich auch gleich alle am gleichen Ort zur Hand.
Aber natürlich müsste ich mehr tun. Ich bin ein gutes Beispiel, um zu zeigen, dass einzelne freiwillige Handlungen nicht reichen. Es braucht Regulierungen. Daher bin ich wohl am meisten fair unterwegs durch mein politisches Engagement und durch die Unterstützung von Organisationen, die sich für fairere Regeln einsetzen.

Und wie sieht’s auf Reisen aus?

Ich habe kürzlich meinen Fussabdruck berechnen lassen und festgestellt, das ich mit meinem Lebensstil dreieinhalb Welten verbrauche. Früher fuhren wir mit den Kindern nach Italien ans Meer oder machten in der Schweiz Ferien. Der grosse Fussabdruck entsteht hauptsächlich durch die Fliegerei, die wiederum mit meinem Engagement seit meiner Pensionierung zu tun hat. Ich leite das Frauenkomitee der Bau- und Holzarbeiter Internationale. Dieses Jahr reiste ich im Frühling nach Brasilien ans Weltsozialforum in Salvador de Bahia und nach Sao Paolo für eine Rede zum Frauentag vom 8. März vor der Obachlosenbewegung. Die Obdachlosenbewegung (Movimiento sin techo) hält dort ein Gelände besetzt und baut Unterkünfte. Das verschafft Obdach für viele Familien und Arbeit für die Bauarbeiter. Im Juni war ich in Griechenland bei den Sozialkliniken. Mitte Oktober fliege ich nach Seattle zu einer internationalen Konferenz der Handwerksfrauen (Women in Trade), die immer noch eine kleine Minderheit in den so genannten Männerberufen darstellen. In der Regel reise ich früher an oder später ab, um das Land kennenzulernen. Hans kommt nach Seattle mit und wir reisen die Westküste hinunter. Beim Reisen liebe ich Landschaften und Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum. Hat man sie so erlebt, mag man fast nicht mehr in den Zoo gehen.

Meine Reisen kann ich nur mit dem Bezug zu meinen Tätigkeiten rechtfertigen. Ich buche keine Gruppenreisen, ziehe in der Regel kleinere Unterkünfte vor und reise mit viel Interesse und Offenheit für Land und Leute. Meistens kenne ich vor Ort Personen und erfahre von ihnen viel über die Lebensbedingungen. In Ägypten waren wir Gäste der nordafrikanischen Konferenz der Staatlichen Gewerkschaften. Einmal sprachen wir mit einem freien Gewerkschafter, den Hans über den Solifonds kennt. Später zitierte man uns ins Büro der Staatsgewerkschaft und machte uns klar, dass die freien Gewerkschaften ein schlechter Umgang seien. Wir fragten unseren Kontaktmann, ob unser Treffen für ihn gefährlich werden könnte. Damit lebe er immer, sagte er.

Wie viel Macht haben die Gewerkschaften in der Schweiz?

In der Schweiz haben die Gewerkschaften eine hohe institutionelle Macht. Es gibt sehr alte Verträge und Traditionen. Im Baugewerbe wurden diese im zweiten Weltkrieg durch Streiks erstritten. Bei den Arbeitgebern gibt es ein breites Verständnis, dass es sich lohnt, die Arbeitsbedingungen branchenweit zur regeln. Darum stehen die meisten auch hinter den flankierenden Massnahmen. Natürlich ist der Druck der EU auf die Schweiz hoch, ein Rahmenabkommen abzuschliessen. Wir können sonst keine weiteren bilateralen Abkommen verhandeln, und die EU beginnt die Schweiz auch zu schikanieren, z.B. mit der Börsenäquivalenz. Die Gewerkschaften hatten schon immer ein ambivalentes Verhältnis zur EU. Einerseits ist sie ein neokoloniales Konzept, andererseits hat die Personenfreizügigkeit, verbunden mit den flankierenden Massnahmen, die Situation vieler Arbeitnehmenden aus der EU in der Schweiz verbessert – man denke bloss an das Saisonnierstatut, das dadurch endlich abgeschafft werden konnte.

Fairunterwegs möchte die Reisenden und die Reisebranche dazu gewinnen, den Urlaub sozial- und umweltgerechter zu gestalten. Du sagst, du setztest vor allem auf Regulierungen und andere Anreize. Kannst du dem Reiseportal trotzdem etwas abgewinnen?

Ich habe den Reisecheck gemacht und mich im Hinblick auf meine Reise nach Seattle orientiert. Da habe ich doch ein paar Sachen erfahren. Die Seite ist ansprechend gemacht. Besonders gern lese ich die Porträts der Rubrik "Fair unterwegs mit…". Es ist tröstlich zu sehen, dass auch andere ihre sozialen und ökologischen Ansprüche nicht perfekt umzusetzen vermögen. Man kann sich politisch für etwas einsetzen, ohne persönlich alles schon perfekt zu machen. Aber nächsten Frühling werde ich mit dem Zug nach London reisen. Kurzstreckenflüge gehören verboten. Es ist absurd, dass sie billiger sind als der Zug. Fliegen muss so teuer werden, dass es sich nur noch geschäftlich oder ausnahmsweise lohnt. Nicht für das Shopping in Istanbul am Wochenende. Solange aber die Anreize so falsch gesetzt sind, gibt es einfach zu Wenige, die ihre Konsumgewohnheiten ändern.

Aber glaubst du denn, dass wir über das Parlament oder über Initiativen entsprechende Verbote und Anreize durchbringen?

Ich bin es gewohnt, in der Minderheit zu sein. Aber die Klimaerwärmung und deren Auswirkungen werden immer bedrohlicher und spürbarer. Deshalb glaube ich, dass es noch eine Vernunft gibt, auch in der Politik.     

Empfohlene Bücher:Petros Markaris: Zahltag. Deutsch von Michaela Prinzinger. Diogenes, Zürich 2012, ISBN 978-3-257-06841-2. 432 Seiten, CHF 19.90, EUR 14.00, ISBN 978-3-257-24268-3
Wolfgang Schorlau: Der grosse Plan. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 448 Seiten, CHF 19.90, EUR 14.99. ISBN 978-3462046670
Giorgio Bassani: Ferrareser Geschichten. Wagenbach, Berlin 2016. 247 Seiten, CHF 15.90, EUR 12.90, ISBN 978-3803125644.
Bericht zum Besuch der Sozialkliniken in Griechenland 

Was suchst du in den Büchern, die du wählst?

Wissen über die Situation in den Ländern, historisches Wissen, und ein Gefühl für die Stimmung in der Gegend.
Ich habe auch viel italienische Nachkriegsliteratur gelesen. Ich bin Italienerin, mein Vater stammt aus Intra in der Region des Lago Maggiore und die Mutter aus Piacenza. Aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Meine Mutter ist schon 48 in die Schweiz gezogen, mein Vater ist Secondo. Die Familie Schiavi migrierte 1904 in die Schweiz. Sie gehörten zur den Waldensern, der Kirche der protestantischen Minderheit in Italien, und hatten Kontakt zu den Waldensern in Zürich.

Treibt dich diese Geschichte für dein politisches Engagement an?

Ich bin im Bewusstsein aufgewachsen, zu einer diskriminierten Minderheit zu gehören. Mein Vater verdiente ordentlich und wir gehörten durchaus zur Mittelschicht. Aber ich war in der Schulklasse das einzige Ausländerkind und wurde als "Tschingg" beschimpft. Und dann noch als Frau: Der Lehrer fand, ich soll doch besser nur die Lehre machen.

Wie haben dich die "Ausländer raus"-Abstimmungen der 70er-Jahre geprägt?

Die Ausländerinitiative von James Schwarzenbach, die den Ausländeranteil auf 10 Prozent begrenzen wollte, kam 1970 zur Abstimmung. Damals war ich 15 Jahre alt. Ich hatte selber keine Angst, bei einer Annahme wegziehen zu müssen. Aber die ausländerfeindliche Stimmung war schon spürbar. Bei den späteren Ausländerinitiativen von Oehen und Konsorten war ich schon im Soziologiestudium. Ich unterrichtete in Zürich MigrantInnen und war Mitglied der POCH-Hochschulgruppe (POCH – Progressive Organisation der Schweiz [Red.]). Ich war schon früh politisch engagiert, wahrscheinlich aus meiner doppelten Diskriminierungserfahrung als Frau und Ausländerin. Meine Mutter lebte während des Faschismus in der Emilia Romagna, einer Hochburg der Widerstandskämpfer. Aber natürlich waren da auch die faschistischen Jugendorganisationen, in denen sie und ihre KollegInnen sozialisiert wurden. Die Mutter sprach nie über diese Zeit. Also las ich verschiedene Werke von Giorgio Bassani, der in der gleichen Zeit wie meine Mutter in der gleichen Gegend lebte und detailliert über die Geschehnisse berichtete. Dann konfrontierte ich meine Mutter mit dem angelesenen Wissen, und sie begann zur erzählen, etwa, wie sie und ihre FreundInnen von einem Flugzeug verfolgt wurden. Die Mutter war Hebamme. Als die Familie in ein Dorf nahe von Piacenza floh, gewährleistete sie zusammen mit dem Apotheker die Gesundheitsversorgung des Dorfes. – Ich konnte über Bassanis Bücher meine eigene Geschichte aufarbeiten.

Wir haben viel über dein Engagement für Minderheiten gesprochen. Aber was heisst für dich fair unterwegs sein im Alltag und auf Reisen?

Ich habe lange für die grün-rote Partei BASTA politisiert und bin noch heute Mitglied. Aber ich war nie besonders grün unterwegs. Seit ich 25 Jahre alt bin, hatten wir immer ein Auto, vor allem für die Arbeit. Ich machte Schulungen in Dörfern, wo ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum mehr nach Hause gekommen wäre. Hans und ich haben auch seit 20 Jahren ein Generalabonnement – sogar unser Hund hatte früher ein GA.

Faire Arbeitsbedingungen sind mir wichtig. Ich achte auch darauf, woher das Gemüse kommt und ziehe Bioprodukte vor. Allerdings nicht immer saisonale, weil ich lieber Zucchetti habe als Kohl. Dank meiner Ältesten, die schon mit sieben Jahren beschloss, vegetarisch zu leben, essen wir nicht viel Fleisch, meist nur dann, wenn wir Besuch haben. Und immerhin versuche ich, eher weniger zu konsumieren. Die Bücher lese ich heute meist auf dem I-Pad, da habe ich auch gleich alle am gleichen Ort zur Hand.
Aber natürlich müsste ich mehr tun. Ich bin ein gutes Beispiel, um zu zeigen, dass einzelne freiwillige Handlungen nicht reichen. Es braucht Regulierungen. Daher bin ich wohl am meisten fair unterwegs durch mein politisches Engagement und durch die Unterstützung von Organisationen, die sich für fairere Regeln einsetzen.

Und wie sieht’s auf Reisen aus?

Ich habe kürzlich meinen Fussabdruck berechnen lassen und festgestellt, das ich mit meinem Lebensstil dreieinhalb Welten verbrauche. Früher fuhren wir mit den Kindern nach Italien ans Meer oder machten in der Schweiz Ferien. Der grosse Fussabdruck entsteht hauptsächlich durch die Fliegerei, die wiederum mit meinem Engagement seit meiner Pensionierung zu tun hat. Ich leite das Frauenkomitee der Bau- und Holzarbeiter Internationale. Dieses Jahr reiste ich im Frühling nach Brasilien ans Weltsozialforum in Salvador de Bahia und nach Sao Paolo für eine Rede zum Frauentag vom 8. März vor der Obachlosenbewegung. Die Obdachlosenbewegung (Movimiento sin techo) hält dort ein Gelände besetzt und baut Unterkünfte. Das verschafft Obdach für viele Familien und Arbeit für die Bauarbeiter. Im Juni war ich in Griechenland bei den Sozialkliniken. Mitte Oktober fliege ich nach Seattle zu einer internationalen Konferenz der Handwerksfrauen (Women in Trade), die immer noch eine kleine Minderheit in den so genannten Männerberufen darstellen. In der Regel reise ich früher an oder später ab, um das Land kennenzulernen. Hans kommt nach Seattle mit und wir reisen die Westküste hinunter. Beim Reisen liebe ich Landschaften und Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum. Hat man sie so erlebt, mag man fast nicht mehr in den Zoo gehen.

Meine Reisen kann ich nur mit dem Bezug zu meinen Tätigkeiten rechtfertigen. Ich buche keine Gruppenreisen, ziehe in der Regel kleinere Unterkünfte vor und reise mit viel Interesse und Offenheit für Land und Leute. Meistens kenne ich vor Ort Personen und erfahre von ihnen viel über die Lebensbedingungen. In Ägypten waren wir Gäste der nordafrikanischen Konferenz der Staatlichen Gewerkschaften. Einmal sprachen wir mit einem freien Gewerkschafter, den Hans über den Solifonds kennt. Später zitierte man uns ins Büro der Staatsgewerkschaft und machte uns klar, dass die freien Gewerkschaften ein schlechter Umgang seien. Wir fragten unseren Kontaktmann, ob unser Treffen für ihn gefährlich werden könnte. Damit lebe er immer, sagte er.

Wie viel Macht haben die Gewerkschaften in der Schweiz?

In der Schweiz haben die Gewerkschaften eine hohe institutionelle Macht. Es gibt sehr alte Verträge und Traditionen. Im Baugewerbe wurden diese im zweiten Weltkrieg durch Streiks erstritten. Bei den Arbeitgebern gibt es ein breites Verständnis, dass es sich lohnt, die Arbeitsbedingungen branchenweit zur regeln. Darum stehen die meisten auch hinter den flankierenden Massnahmen. Natürlich ist der Druck der EU auf die Schweiz hoch, ein Rahmenabkommen abzuschliessen. Wir können sonst keine weiteren bilateralen Abkommen verhandeln, und die EU beginnt die Schweiz auch zu schikanieren, z.B. mit der Börsenäquivalenz. Die Gewerkschaften hatten schon immer ein ambivalentes Verhältnis zur EU. Einerseits ist sie ein neokoloniales Konzept, andererseits hat die Personenfreizügigkeit, verbunden mit den flankierenden Massnahmen, die Situation vieler Arbeitnehmenden aus der EU in der Schweiz verbessert – man denke bloss an das Saisonnierstatut, das dadurch endlich abgeschafft werden konnte.

Fairunterwegs möchte die Reisenden und die Reisebranche dazu gewinnen, den Urlaub sozial- und umweltgerechter zu gestalten. Du sagst, du setztest vor allem auf Regulierungen und andere Anreize. Kannst du dem Reiseportal trotzdem etwas abgewinnen?

Ich habe den Reisecheck gemacht und mich im Hinblick auf meine Reise nach Seattle orientiert. Da habe ich doch ein paar Sachen erfahren. Die Seite ist ansprechend gemacht. Besonders gern lese ich die Porträts der Rubrik "Fair unterwegs mit…". Es ist tröstlich zu sehen, dass auch andere ihre sozialen und ökologischen Ansprüche nicht perfekt umzusetzen vermögen. Man kann sich politisch für etwas einsetzen, ohne persönlich alles schon perfekt zu machen. Aber nächsten Frühling werde ich mit dem Zug nach London reisen. Kurzstreckenflüge gehören verboten. Es ist absurd, dass sie billiger sind als der Zug. Fliegen muss so teuer werden, dass es sich nur noch geschäftlich oder ausnahmsweise lohnt. Nicht für das Shopping in Istanbul am Wochenende. Solange aber die Anreize so falsch gesetzt sind, gibt es einfach zu Wenige, die ihre Konsumgewohnheiten ändern.

Aber glaubst du denn, dass wir über das Parlament oder über Initiativen entsprechende Verbote und Anreize durchbringen?

Ich bin es gewohnt, in der Minderheit zu sein. Aber die Klimaerwärmung und deren Auswirkungen werden immer bedrohlicher und spürbarer. Deshalb glaube ich, dass es noch eine Vernunft gibt, auch in der Politik.     

Empfohlene Bücher:Petros Markaris: Zahltag. Deutsch von Michaela Prinzinger. Diogenes, Zürich 2012, ISBN 978-3-257-06841-2. 432 Seiten, CHF 19.90, EUR 14.00, ISBN 978-3-257-24268-3
Wolfgang Schorlau: Der grosse Plan. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 448 Seiten, CHF 19.90, EUR 14.99. ISBN 978-3462046670
Giorgio Bassani: Ferrareser Geschichten. Wagenbach, Berlin 2016. 247 Seiten, CHF 15.90, EUR 12.90, ISBN 978-3803125644.
Bericht zum Besuch der Sozialkliniken in Griechenland