Fair unterwegs mit Rudolf Bärfuss, Alt-Botschafter in Mosambik, Brasilien und Südafrika
Welches Buch entführt Sie auf die schönste Reise?
Es ist ein Werk von Jorge Amado, einem grossartigen brasilianischen Autor des 20. Jahrhunderts. Er erhielt viele Preise und starb 2001 an einem Herzinfarkt. Der Titel, der es mir besonders angetan hat, ist: A morte e a morte de Quincas Berro d’Água von 1961 (Deutsch: Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller). Ich las es einmal in Salvador da Bahia, mit Sicht auf die wunderschöne Bucht, die Baía de Todos-os-Santos. Meine Frau litt an jenem Tag unter einer Magenverstimmung, sodass der geplante Ausflug dahinfiel und ich mich in die heitere Lektüre vertiefen konnte. Das Résumé der Geschichte: Ein Staatsangestellter flippt aus und verlässt Frau und Kinder. Er taucht in die Bohème ab und beginnt zu saufen und sich den weltlichen Freuden hinzugeben. Er ist ein Aussteiger, bewegt sich unter Randständigen, bis er an Leberversagen stirbt. Seinen Namen erhält er, als er eines Nachmittags eine Flasche ansetzt, im Glauben, es sei Cachaça – doch es ist Wasser. "WASSER!!", brüllt Quincas entsetzt, was ihm den Zusatznamen "Berro d’Água" oder eben Wasserbrüller einträgt. Nach seinem Tod will ihn die Familie trotz seines Ausstiegs so bestatten, wie es sich gehört, und sie macht den Leichnam dafür bereit. Doch dann tauchen seine Saufkumpane auf und nehmen ihn auf eine letzte Sauftour mit. Nach vielen Verwicklungen landen sie auf einem Schiff – von dem Quincas in einem dramatischen Akt ins Meer fällt. Somit stirbt er zweimal – weshalb es "a morte e a morte", also "der Tod und der Tod" heisst. Für die Familie ist er eines natürlichen Todes gestorben, für seine Festbrüder hingegen stürzte er sich ins Meer, weil er nicht in einem engen Sarg begraben werden wollte.
Das klingt nach viel Schabernack.
Ja, aber es ist auch eine Reise nach innen. Ein Ausstieg hin zu einem Leben, das bis dahin inakzeptabel erschien. Es ist eine Befreiung und eine Flucht – die ganz ohne CO2-Emissionen auskommt. Einfach leben, unbeirrt von den Vorstellungen, Wünschen und Ansprüchen anderer. Sich alle Freiheiten einfach nehmen – das kann ich seit zwei Jahren ebenfalls in hohem Masse. Als Rentner bin ich frei jeglicher diplomatischer Zwänge und könnte, so ich wollte, wie Quincas einfach ausflippen. Ich kann mit Ihnen ein Interview führen, wenn ich es gut finde und es mir Freude macht – und sonst kann ich es einfach bleiben lassen.
Wir freuen uns, dass Sie sich für das Interview entschieden haben. Fair unterwegs zu sein ist Ihnen offenbar ein Anliegen. Was bedeutet es für Sie?
Mir ist der soziale Aspekt wichtig. Keine Hungerlöhne in Fünfsternehotels, keine gefährlichen Arbeitsbedingungen, Einhaltung der Menschenrechte. Ich reise lieber in Länder, in denen die Menschenrechte einigermassen eingehalten werden. Die Anreise ist meistens problematisch, weil es da noch keine wirkliche Alternative zum Flugzeug gibt. Aber an Ort und Stelle strebe ich danach, dass Umwelt und Gesellschaft durch den Tourismus nicht allzu stark belastet werden.
Als Negativbeispiel fallen mir die Philippinen ein. Mein Sohn ist Hotelier in Manila, in einem Fünfsternehotel. Dort finden sich viele Elemente eines nicht nachhaltigen Tourismus: vor allem prekäre Anstellungen. Mit unserem Sohn verbrachten meine Frau und ich drei Tage in einem Holiday Resort auf einer Insel, das vielen fairunterwegs-Kriterien entgegensteht: Der Mensch ist voller Widersprüche.
Wie gehen Sie mit solchen Widersprüchen um?
Die kann man nicht auflösen. Frei sein gerät immer in Widerspruch mit fair sein. Niemand lebt widerspruchsfrei.
Von 2004 bis 2008 waren Sie Schweizer Botschafter in Brasília, der Hauptstadt Brasiliens. In dieser Zeit sind Sie mit René Schärer in Kontakt gekommen. Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Brasília ist eine junge Stadt, in vielerlei Hinsicht hochinteressant und attraktiv, jedoch atypisch für Brasilien. Um das Land kennenzulernen, muss man es intensiv bereisen. Dabei lernte ich viele interessante Schweizer kennen. René besuchte uns in Brasília, und wir reisten 2006 zu ihm in den Nordosten, ins Dorf Prainha do Canto Verde. Dort zeigte er uns alles. Angefangen hatte die Entwicklung mit dem Kampf gegen Spekulanten. Die wollten auf dem Land einen Tourismuskomplex bauen. Doch René wehrte sich zusammen mit den Dorfbewohnern. Später befasste er sich mit Bildung, Artesanalfischerei und sanftem Tourismus in Prainha. Inzwischen ist er ein Experte von internationalem Rang, der von der brasilianischen Regierung an internationale Fischereikonferenzen delegiert wird.
Als ich dort war, wurden die ersten Katamarane gebaut. Diese Boote mit den zwei durch das Deck miteinander verbundenen Rümpfen sind sicherer als die traditionell benutzten Jangadas, diese seetüchtigen Segelflosse. Ich habe grosse Hochachtung vor den Fischern, die noch mit Jangadas fischen. Sie sind manchmal tagelang auf hoher See, wo sie auf minimalstem Platz arbeiten und schlafen. René improvisierte eine Werft in Prainha und begann mit den Fischern einfache Katamarane zu bauen, die mehr Platz und mehr Sicherheit bieten. Das gefiel mir sehr.
In der Folge war René oft bei uns zu Gast, wenn er in der Hauptstadt etwas zu erledigen hatte.
Sie haben so genannte Landsgemeinden der Nachhaltigkeit einberufen, an denen René teilnahm?
Darauf bin ich ein bisschen stolz. In diesem urdemokratischen Forum haben alle die gleichen Rechte, sei es der Leiter einer kleinen hochverschuldeten NGO, sei es der Grossinvestor. An die erste Landsgemeinde auf der Botschaft in Brasília kamen 25 Schweizerinnen und Schweizer, die sich als Pioniere in irgendeiner Weise für Nachhaltigkeit einsetzten. Während meiner vorangegangenen Reisen hatte ich alle Teilnehmer und ihre Aktivitäten individuell besucht und nun wollte ich ihnen die Gelegenheit bieten, sich gegenseitig kennenzulernen, gemeinsam zu lernen, Erfahrungen auszutauschen und Netzwerke zu knüpfen. In drei verschiedenen Blöcken vertieften wir zunächst Fragen der Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei, dann des Klimawandels und der Energieeffizienz und schliesslich des fairen Handels, des Tourismus und der Zertifizierung. René koordinierte einen der Blöcke. Die Teilnehmenden waren enthusiastisch; auch René fand, er habe an dieser Landsgemeinde viel gelernt. Wir veranstalteten ein Jahr später eine weitere Landsgemeinde bei Salvador da Bahia und noch eine dritte ein Jahr später in São Paulo.
Was waren die Erkenntnisse aus diesen Landsgemeinden?
Nachhaltigkeit, das sind Denkprozesse – Lernprozesse. Viele Projekte kämpfen mit den gleichen Schwierigkeiten; die Schweizer Pioniere haben voneinander gelernt und sogar gemeinsame Projekte gestartet. Damit sie Erfolg haben, muss man aufmerksam auf die Lokalbevölkerung hören, auf dem aufbauen, was da ist, gute lokale Ansätze verstärken. Die Einheimischen wissen am besten, wie ihre Situation ist und wie man sie verändert. Im Austausch konnten die Teilnehmenden erfahren, wie sie zu Geld kommen, sie konnten sich vernetzen und Allianzen schmieden. Das ist ganz wichtig. Man kann nichts alleine durchboxen, sondern muss die Mechanismen einer Gemeinschaft verstehen, sich hineinspüren und mit ihr leben, so wie es René getan hat.
In Prainha scheint es aber immer noch – oder wieder Zoff mit dem Spekulanten zu geben, der die Bevölkerung spalten will. René wird sich in nächster Zeit zur Ruhe setzen. Hat das Modell der solidarischen nachhaltigen Entwicklung dann noch eine Chance?
Im Dorf Prainha gibt es eine solide Basis. René hat mit der Dorfbevölkerung viel erarbeitet; die Leute wissen, wie sie sich wehren können. Zudem lebt René ja dort, er kann bei Bedarf immer noch intervenieren. Das ist ein Vorteil gegenüber vielen Projekten, die eingehen, kaum sind die Gründer weg. René kann die Projekte weiter begleiten. Er ist ein Musterbeispiel eines Schweizers, der Nachhaltigkeit lebt.
fairunterwegs möchte Reisende dazu ermutigen, bei allen Widersprüchen doch ihre Freiheit immer wieder dazu zu nutzen, mit ihren Entscheiden eine faire, nachhaltige Entwicklung zu begünstigen. Überzeugt Sie das Portal?
Viele Reisende beginnen, kritische Fragen zu stellen, und wollen mehr Nachhaltigkeit im Tourismus. Das Staatssekretariat für Wirtschaft fördert aktiv die Nachhaltige Entwicklung im Tourismus. Da ist es gut, dass fairunterwegs auch ein junges, internetaffines Publikum anspricht, thematisch in die Breite geht, verschiedene Einstiegsmöglichkeiten bietet, wie zum Beispiel über das Reiseland meiner Wahl. Es müsste noch bekannter werden, nicht nur bei den Reiseveranstaltern, sondern auch bei der Hotellerie und Ausbildungsstätten wie etwa der Ecole Hôtelière de Lausanne – wo mein Sohn seine Ausbildung absolvierte.
Sie reisen nicht nur nach innen, sondern auch recht viel nach aussen.
Ja, und damit habe ich eine schlechte Klimawirkung. Aber in den 34 Jahren meiner diplomatischen Karriere habe ich Freunde auf der ganzen Welt gefunden. Ich will die nicht einfach vergessen. Ich versuche die Klimawirkung durch die CO2-Kompensation zu verringern und nicht mehr als einmal pro Jahr weit zu reisen. Ich finde schon, dass man sich da Zügel anlegen sollte. Aber ich bin nicht sehr konsequent: Vor einem Jahr war ich mit meiner Frau für einen Monat in Brasilien; vor zwei Jahren waren wir mit Studiosus auf einer Gruppenreise in Australien. Im letzten Herbst besuchten wir Griechenland. Dies war unser kleiner Beitrag an die Entschärfung der dortigen Krise. Das nächste Projekt ist nun eine Velotour rund um den Bodensee.
Jorge Amado: Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller, Piper Verlag, München 1998, 77 Seiten, ISBN 978-3492113410