Fair unterwegs mit Ruedi Rechsteiner, Ökonom, Energieexperte und Swissaid-Präsident
Welches Buch entführt dich auf die schönste Reise?
Im Moment ist es die Biografie von Ulrich Ochsenbein, welche dieses Jahr im Echtzeit-Verlag erschienen ist. Der Autor unserer Bundesverfassung war als Radikaler in die Politik eingestiegen, machte auch bei Kämpfen gegen religiöse Minderheiten mit, und entwickelte sich im schweizerischen System schliesslich zum gemässigten Politiker des Ausgleichs.
Aber das System war damals doch recht instabil.
Ja, das Land war geprägt von Freischarenzügen und dem Sonderbundskrieg. Ochsenbein als radikaler Freisinniger führte selbst den Freischarenzug nach Luzern an, und erlitt eine empfindliche Niederlage. Er musste den Respekt vor der politischen Vielfalt in Kantonen und Gemeinden erst erlernen. Und führte mit dem Zweikammersystem den zentralen Interessensausgleich ein, der die Schweizer Politik bis heute prägt. Abgeschaut hat er dies den Vereinigten Staaten.
Identifizierst du dich mit ihm?
Mir als Ökonom hat das Buch einen packenden Einblick in die Gründungszeit der Schweiz verschafft. Identifizieren kann ich mich in dem Sinne, dass Politiker oft ihre Karriere mit einem Spezialanliegen beginnen, das sie vehement verfechten. Wenn sie dann später in den politischen Institutionen sitzen, kommen sie über den Kommissionenschlüssel zu Aufgaben, die sie viel weniger direkt interessieren. Sie müssen sich dann zurechtfinden und lernen dabei, Spielregeln zu respektieren.
Mein Spezialgebiet ist die Energiepolitik. Doch einer der Stationen bis zum Nationalrat war das Präsidium der Finanzkommission. So musste ich das Budget ins Gleichgewicht bringen und mich mit Fragen beschäftigen im Stil von: Wo kann man bei der Ausrüstung des Baudepartements am besten den Sparhebel ansetzen? Man muss lernen, sich in Nebenthemen einzulassen und sie im Allgemeininteresse lösen. Ich habe da die Erfahrung gemacht, dass man sich oft nicht bei seinem ureigenen Interessensgebiet die Lorbeeren holt, sondern bei solchen "Nebenthemen", um dann erst viel später beim eigenen Hauptanliegen zu punkten
Seit zweieinhalb Jahren bist du Präsident von Swissaid, einem Trägerverein des arbeitskreises tourismus & entwicklung. Da bist du sicher viel unterwegs.
Ich besuche einmal im Jahr ein Land, in dem Swissaid Projekte durchführt.
Was ist dir bei diesen Reisen wichtig?
Für mich ist es ein Privileg, dank diesem Amt in Länder reisen zu können, in die ich sonst wohl kaum käme. Besonders wichtig sind mir die Begegnungen mit Menschen, die mit unseren Projekten zu tun haben: Bauern, Lehrerinnen, Kinderkrippenleiterinnen, Bürgermeister usw. Die Reisen führen auch in Konfliktgebiete. Einmal war ich in Sri Lanka Gast eines interreligiösen Dialogs. Eine dramatische Szene: Die Leute, die am Tisch sassen, trauten sich kaum, den Mund zu öffnen, aus Angst vor Anschlägen und Repressalien. Oder ich besuchte in Kolumbien die Agrotreibstofffarmen und die Bauern, die durch sie vertreiben wurden. Solche Begegnungen sind mir wichtig, weil ich mich danach viel besser einsetzen kann gegen diese problematische Entwicklung, die den Kleinbauern die Anbaugebiete und den Wald wegnimmt und aus Böden mit hoher Biodiversität biologisch wertlose und verletzliche Monokulturen macht. Die Reise war nicht ungefährlich. Wir reisten in gepanzerten Fahrzeugen durch Gebiete, die von den Drogenbaronen kontrolliert wurden.
Willst du sagen, das Geld der Drogen stecke hinter dem Agrotreibstoffanbau?
Das Drogenkapital ist sehr präsent in der kolumbianischen Landwirtschaft. Die Drogenbarone suchen dafür schnelle Investitionsmöglichkeiten in exportorientierten Branchen, wie Fleisch (Rinderfarmen) oder eben Agrotreibstoffe. Sie stellen sogenanntes "Sicherheitspersonal" an, welches die Bauern vertreibt. Dann wird das Land für extensive Landwirtschaft genutzt und von Statthaltern verwaltet, die ihre Produkte nach Europa und in die Vereinigten Staaten liefern.
Ich habe Bauern besucht, die seit Jahren von Vertreibung bedroht sind. Sie werden von christlichen Peace Brigades begleitet und haben eigene Alarmsysteme eingerichtet. Das Problem ist, dass in Kolumbien die Eigentumsrechte nicht sauber definiert sind. Dabei wäre es technisch gesehen ein Leichtes, öffentliche Grundbücher zu führen. Da sind zu viele Einzelinteressen im Spiel.
Wohin reisest du in deinen Ferien?
Einmal pro Jahr reise ich mit dem Zug nach Bergün und einmal nach Elba, ebenfalls mit dem Zug. Meine Kinder sind neun und zwölf Jahre alt, da richten wir uns nach ihren Wünschen. Wir waren aber auch schon in Amerika bei Verwandten.
Was verbindest du mit Nachhaltigkeit beim Reisen?
Eine Vision ist mir sehr wichtig. Viele sagen, es gebe für das Problem des Flugtreibstoffs keine Lösung. Es ist dumm so etwas zu sagen. Heute schon lässt sich aus Wind- und Solarenergie synthetisches Methan herstellen. Eine Beimischungspflicht für Kerosin, das aus Windstrom generiert wurde, könnte die CO2-Bilanz des Reisens schnell und effizient verbessern. Ein Liter sauberes Kerosen würde dann etwa einen Franken kosten oder 1.50, das ist zwar zwei bis dreimal teurer als bisher, aber angesichts der hohen Zahlungsbereitschaft für Fernreisen alles andere als unerschwinglich.
Ich habe noch nie davon gehört. Ich habe bloss gelesen, dass man seit diesem Jahr dem Kerosin Agrotreibstoffe beimischt.
Windgeneriertes Kerosin steckt erst in den Anfängen, aber technisch ist dies sicher kein Problem. In Deutschland überlegt man sich, was man mit dem überschüssigen Windstrom macht, solange der Atomstrom noch die Leitungen verstopft.
Du willst sagen, die Atomkraftwerke brauche es heute schon nicht mehr?
Das ist richtig. Wir können alle Akws im Rahmen eines normalen Erneuerungszyklus problemlos ersetzen.
Die Sonntagszeitung hat ja vor kurzem vor der teuersten Abstimmungskampagne gewarnt, welche die Schweizer Atomlobby führen wolle, um neue AKWs zu bauen.
Für die Axpo ist Atomenergie eine Religion, das hat mit kaufmännischem Verhalten gar nichts zu tun. Ebenfalls für die ETH-Leute, die ihre Atomforschung nicht aufgeben wollen und ihre Mission und die eigenen Pöstchen verteidigen. Sie haben Atomenergie schon immer als Erlösungs-Technik verkauft. Das hat nichts mit Rationalität zu tun.
Aber nicht nur für sie. Viele Leute haben doch eher etwas gegen Endlager, nicht gegen AKWs.
Das glaube ich nicht. Bei den Atomkraftwerken ist nicht nur das Endlager ein Problem, sondern auch die erhöhte Krebsrate in der Umgebung, die Uranbeschaffung mit den radioaktiven Beschädigungen im Uran-Fördergebiet, die Verbreitung von Atomwaffen – heute will sich ja bald jede Bananenrepublik atomar bewaffnen, um mehr Status auf der Weltbühne zu erlangen.
Zurück zum Reisen: Der arbeitskreis tourismus & entwicklung setzt sich für den Fairen Handel im Tourismus ein. Kaufst du Fairtrade-Produkte?
Wir sind fleissige Kunden von Max Havelaar und von Bio-Produkten. Aber wir sind auch Kunden von Agrico, einer lokalen Genossenschaft, die ihre biologischen Landbauprodukte im Abonnement vertreibt.
Und würdest du auch Fairtrade-Ferien unterstützen?
Ich finde es sehr wichtig, dass es das gibt. Die Konsumenten von Fairtrade-Ferien geben anderen den Standard vor. TouristInnen wollen ja einem Land an sich nicht schaden, und sie haben auch eine gewisse Zahlungsbereitschaft. Der Tourismus kann für den Naturschutz und für die Kulturinstitutionen in einem Land von geldwertem Nutzen sein. Ich finde es nicht schlecht, diese Leistungen abzugelten.
Gibt es für dich Grenzen des Wachstums?
Allein in der Nordsee könnte mit Windenergie ohne schädliche Folgen genug Strom für den ganzen Weltbedarf produziert werden. Auf einem Zehntel der Nordseeoberfläche kann man genug Strom für die EU produzieren. Und in der Sahara könnte auf einer Fläche von 500 mal 500 Kilometern genug Solarenergie für den Weltstrombedarf produziert werden. Ich gehe davon aus, dass schon bis 2030 etwa ein Drittel oder die Hälfte des Stroms in Europa aus Wind und Sonne stammen wird. Es gibt kein Energieproblem. Es gibt bloss den erbitterten Kampf um Marktanteile zwischen veralteten und neuen Technologien und ihren Lobbies. Die erneuerbaren Energien gewinnen sehr schnell an Terrain, denn sie wachsen jährlich um 20-30 Prozent und werden immer billiger.
Heisst das, dass wir an unserem Lebensstil nichts ändern müssen?
Einiges müssen wir aufgeben, zum Beispiel die Öl- und Kohleförderung, oder benzinbetriebene Autos. Diese Umstellungen sind mit Kosten verbunden und dagegen gibt es Opposition. Ausserdem müssen wir verdichten: grössere Naturschutzzonen schaffen, Ruhezeiten der Tierwelt respektieren, Kunstdünger und Pestizide herunterfahren. Aber die Grundfunktionen wie Mobilität, Freizeit, genug Essen sind nicht in Frage gestellt, wenn wir rechtzeitig umstellen.
Reichen also politische Entscheide, um die Welt vor einer Klima-, Wasser- oder Hungerkatastrophe zu retten?
Am Schluss geht es natürlich jeden an. Aber nicht jeder kann die Probleme individuell lösen. Wenn ich kein Auto besitze, belohne ich meinen Nachbarn, der nun zwei Parkplätze nutzen kann. Die grössten Verschmutzer pro Kopf sind angelsächsische Länder wie Australien, USA oder Grossbritannien, Länder mit einer Tradition in Manchesterkapitalismus und einer imperialistischen oder chauvinistischen Grundhaltung. Diese Rücksichtslosigkeit sollte einer ökologisch sozial orientierten Grundhaltung weichen: Den Markt spielen lassen, aber ihm Zügel anlegen und für Kostenwahrheit sorgen.
Rolf Holenstein: Ochsenbein. Erfinder der modernen Schweiz. Echtzeit-Verlag, Basel 2010, Gebunden, 656 Seiten. SFr. 48.00, Euro 35.00. ISBN 978-3-905800-30-2