Fair unterwegs mit Ruth-Gaby Vermot-Mangold, Reisende für den Frieden
Du wolltest uns auf eine Reise rund um das Buch "1000 PeaceWomen across the Globe" mitnehmen. Welche der Frauen hast Du besucht?
Wann immer ich mich für ein Seminar, die Eröffnung unserer Ausstellung oder sonst eine Aufgabe in einem Land befinde, versuche ich, eine FriedensFrau des Landes zu besuchen. Kürzlich war ich am Weltkongress gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, die in Rio stattfand. Da reiste ich auch noch nach São Paolo, um dort die Friedensfrauen zu besuchen und über ihre Arbeit zu sprechen.
Wohin wolltest Du uns auf dieser Lesereise mitnehmen?
Die erste Reise führt uns nach Tschetschenien, zu Anna Politkowskaia. Die russische Journalistin war Korrespondentin für den nördlichen Kaukasus der Zeitung "Novaya Gazeta". Sie schrieb offen über die Verbrechen Russlands an der tschetschenischen Bevölkerung und forderte Menschenrechte für die tschetschenischen Flüchtlinge. Sie verlangte eine Untersuchung der Korruptionsfälle im Verteidigungsministerium und legte sich mit dem Regime des damaligen Präsidenten Achmat Abdulchamidowitsch Kadyrow (dem Vater des heutigen Präsidenten) an. Ich reiste 2004 dorthin und nochmals Anfang 2005. Eine Versammlung tschetschenischer Frauen berichtete mir von ihrem schwierigen Leben mitten im Krieg: Sie säten und pflanzten auf jedem freien Plätzchen in den Hinterhöfen, um etwas zu essen zu haben, oder wanderten in der Stadt umher auf der Suche nach irgendetwas Ess- oder Brauchbarem. Sie halfen sich gegenseitig. Manchmal erhielten sie Hilfe von den Leuten aus den Lagern ausserhalb Tschetscheniens, die nachts über die Grenze kamen. Die Frauen erzählten, es fehle ihnen an Medikamenten und Verbandstoff. Ihre Kinder könnten nicht zur Schule, weil es zu gefährlich sei. Viele Schulen seien zerstört, Lehrkräfte geflohen. Ich traf eine junge Frau von 14 oder 15 Jahren, die täglich so viele Kinder wie möglich versammelte und ihnen beibrachte, was sie wusste, weil sie verhindern wollte, dass die Kinder, wie sie sagte "wegen des Krieges dumm bleiben". Sie bat mich um schöne Bücher ohne zerstörte Häuser und Bombenkrater in den Wiesen, um Farbstifte und Kugelschreiber, denn ihre Kinder sollten sehen, dass die Welt auch schön sein kann. Als ich in der Schweiz all das gewünschte Material gesammelt hatte, kehrte ich zurück – doch die junge Frau war inzwischen ermordet worden. Das Regime wollte offenbar nicht, dass irgendwo Leben aufblüht.
Die zweite Geschichte führt nach Moldawien zu Alina Radu, auch sie eine Journalistin. Moldawien ist ein wunderschönes, fruchtbares, armes Land. Die Korruption blüht! Alina Radu hatte herausgefunden, dass ein kriminelles Netzwerk junge Männer mit Arbeitsangeboten in die Türkei lockt. Die Männer verschuldeten sich für die Reise, fanden aber in der Türkei keine Arbeit. Stattdessen wurden sie genötigt, zur Abzahlung ihrer Schulden ihre Niere zu verkaufen. Sie wurden im Haus eines Arztes namens Jakub aufgepäppelt und medizinisch abgeklärt. Eines Nachts wurde ihnen die Niere herausgenommen und sofort am selben Ort dem Kunden implantiert. Ich bin der Geschichte nachgegangen und habe die Männer besucht und über diesen Skandal im Europarat berichtet. Daraufhin wurden Ermittlungen gestartet, und der türkische Arzt wurde verhaftet. Ausserdem wurde die Kontrolle der Privatspitäler verbessert. Aber ob damit der Organhandel gestoppt wurde, ist ungewiss – wahrscheinlich werden diese illegalen Transplantationen anderswo gemacht, denn das Geschäft ist einträglich. Den Männern waren zwei- bis dreitausend Euro versprochen worden. Doch der eine erhielt ein Auto, mit dem er es kaum bis nach Moldawien zurückschaffte, der andere gar nichts, weil ihm zu viele Reisekosten abgezogen wurden. Die wenigsten erhielten das ganze versprochene Geld. Heute geht es den Männern schlecht, denn sie erhielten nirgends medizinische Nachsorge, die bei einer Nierenentnahme zwingend ist. Der Chefarzt der Universitätsklinik in Chisinau war entsetzt über den schlechten Gesundheitszustand der Männer. Er vermutete, dass einige in den nächsten Jahren selber eine Dialyse benötigten oder gar eine neue Niere bräuchten. Viele der Männer sind junge Bauern, die den Boden ohne Maschinen kultivieren und schwer schleppen müssen. Sie wollen oft nicht, dass die andern von ihrem Unglück wissen, denn sie fühlen sich nicht mehr als "ganze Männer". Aline Radu, die kritische Journalistin ist wegen ihrer alarmierenden Berichterstattung aus allen Redaktionen gefeuert worden. Jetzt gibt sie mit anderen Journalisten eine eigene gesellschaftskritische Zeitung heraus – und das ist mutig.
Die dritte Reise führte mich vor drei Jahren nach China. Dort habe ich Shuqin Zhang kennen gelernt. Zhang ist Polizistin mit Leib und Seele, eine strenge Frau. Als sie entdeckte, dass die Kinder von Gefangenen einfach auf die Strasse gestellt wurden, änderte sie ihr Leben. Sie begann, die Kinder einzusammeln und brachte sie in einem Haus unter, das sie aus eigenen Mitteln renoviert hatte. Dort gab sie ihnen zu essen, schickte sie in eine Schule und achtete auf ihre Gesundheit und Hygiene. Sie brachte die Kinder dorthin, wo das Todesurteil an ihren Eltern vollstreckt wurde, und ermöglichte den Kindern, Abschied zu nehmen, auch wenn es hart war. Sie ist eine heftige Gegnerin der Todesstrafe. Mittlerweile wurden mit internationaler Hilfe weitere Häuser gebaut, ein Dorf ist entstanden, das Beijing Sun Village Special Children Aid Centre genannt wird – und inzwischen sind noch vier weitere Dörfer dazu gekommen.
Du reist viel. Was motiviert Dich zum Reisen?
Ich tauge nicht dafür, ins Blaue zu reisen. Mich zieht es dorthin, wo ich mit Menschen zu tun habe. Jetzt kenne ich über das Buch so viele Frauen in allen Ecken dieser Welt. Mich zieht es zu ihnen, ich möchte ihre Arbeit kennen lernen. Aber meistens reise ich im Zusammenhang mit meinen Ämtern: Nach Rio als Kinderschutz-Vorstandsmitglied, in den Sudan als Präsidentin der FriedensFrauen, in der gleichen Funktion nach Ägypten und Mazedonien.
Sind Deine Reisen nachhaltig?
Sicher nicht, wenn ich die CO2-Bilanz betrachte. Aber es gibt auch inhaltliche Aspekte der Nachhaltigkeit. Es ist zum Beispiel wichtig, der Resolution 1325 des Uno-Sicherheitsrats Nachachtung zu verschaffen, die den Einbezug von Frauen in Friedensverhandlungen fordert. Mit meinen Reisen unterstütze ich das Netzwerk der FriedensFrauen. Es braucht auch von Zeit zu Zeit eine Trouble-Shooterin, die zu den Frauen reist und deren Arbeit öffentlich und sichtbar macht.
Wie beurteilst Du unser Reiseportal fairunterwegs.org?
Es ist gut und dringend nötig. Viele Menschen reisen noch zu wenig bewusst und überlegen kaum, dass sie mit ihren Reisen Menschen ausbeuten und die Umwelt zerstören Es ist auch wichtig, dass auch viele touristische Unternehmen draufklicken.
Wie nimmst Du den arbeitskreis tourismus & entwicklung wahr?
Ich kenne Euch seit Beginn und freu mich über Euer nachhaltiges „Stören“. Damit meine ich Euer unermüdliches Hinweisen auf Fehlentwicklungen im Tourismus und das Aufzeigen von Alternativen. Es gibt nichts Besseres als Euch, wenn es um soziale und ökologische Aspekte des Reisens geht. Unsere Bemühungen zielen in die gleiche Richtung: Wir wollen beide, dass die Menschenrechte respektiert, die Ressourcen geschützt und Rechte von Indigenen gewahrt bleiben. Ihr verbindet die Themen Tourismus und Entwicklung in einzigartiger Weise. Damit seid ihr ein wichtiges Gegenüber für die Tourismusbranche und eine starke Stimme der Zivilgesellschaft.
*FriedensFrauen Weltweit ist ein Nachfolge-Projekt der Kampagne "1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005" deren Ziel es war, Frauen, ihre Arbeit für eine gerechte Zukunft und Frieden, ihre Netzwerke und Methoden sichtbar zu machen. Weltweit setzen sich Frauen – oft ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit – für das Wohl der Gemeinschaft ein. Sie rufen zur Versöhnung auf, verlangen Gerechtigkeit und bauen wieder auf, was zerstört wurde. Sie transformieren Konflikte, kämpfen gegen Armut und für Menschenrechte. Sie kreieren alternative Einkommensmöglichkeiten, bilden aus, heilen, reintegrieren HIV-Patienten, setzen sich für den Zugang zu Land und sauberem Wasser ein, finden Lösungen gegen alle Formen der Gewalt und wehren sich gegen die genitale Verstümmelung von Mädchen.
1000 PeaceWomen Across the Globe; Ein kontrast-Buch, erschienen bei Scalo, nur in Englisch; 2’208 Seiten; gebunden; 850 Fotografien s/w; Buchgestaltung: Tania Prill, Alberto Vieceli; ISBN 978-3-906729-60-2
Erhältlich beim Kontrast-Verlag (Schweiz) und bei Amazon (EU-Länder). Das Buch ist auch in Japanisch erschienen, Teile daraus sind in auf Spanisch, Chinesisch und Portugiesisch erschienen. Auf www.1000peacewomen.org ist es auch auf Deutsch.