Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?

Ich habe hin und her überlegt und weiss gar nicht, wie ich mich entscheiden soll. Am ehesten nehmen mich internationale News mit auf eine innere Reise, oder vielleicht auch eine äussere. Ich höre jeden Morgen im Radio das Echo der Zeit und bin interessiert zu hören, was ausserhalb der Schweiz passiert ist. So nehme ich zum Beispiel Anteil an der humanitären Krise im Umgang mit den Geflüchteten.

Bist du da auch persönlich involviert?

Ich war nie als Freiwillige in Griechenland, wenn du das meinst. Aber ich engagiere mich in der Migrations- und Asylpolitik. Ich fühle mich zutiefst privilegiert, hier in der Schweiz geboren worden zu sein, was ein reiner Zufall ist. Dieses Privileg geht mit einer Verantwortung einher. Im Geschichtsunterricht haben wir von den Weltkriegen gehört, von der internationalen Einigkeit darüber, das solches nie mehr passieren dürfe, von der Menschenrechtskonvention, die fast alle Staaten ratifizierten.

Doch in Europa als der Wiege der Menschenrechte werden diese seit Jahren in Frage gestellt. Die Menschen in Griechenland waren vorher in der Türkei. Sie hätten das Recht, ein Asylgesuch zu stellen, denn das Leben in Sicherheit ist ein Menschenrecht. Was jetzt passiert an der EU Aussengrenze ist ungeheuerlich. Man lässt die Geflüchteten kein Gesuch stellen, sondern treibt sie illegal in die Türkei zurück oder lässt sie sterben, und die EuropäerInnen schauen zu. Nicht alle. Ich habe im Dezember eine Aktivistin aus Kroatien getroffen, die sich an der EU-Aussengrenze zu Bosnien engagiert. Sie erzählte mir von einer Familie, die 28 Mal versucht hat, die Grenze zu überschreiten, um ein Asylgesuch zu stellen, und jedes Mal zurückgewiesen wurde. Das sind illegale Push-Backs. Wir versuchen, das im Parlament zu thematisieren, die Regierung will nicht darüber sprechen. Auf der anderen Seite ist man in der EU bereit, innerhalb von zwei Tagen 700 Millionen Euro für einen verstärkten Grenzschutz zu sprechen. Das ist der absolute Wahnsinn.

EU-Kommissionschefin Von der Leyen argumentiert, dass man sich nicht erpressen lassen dürfe vom türkischen Präsidenten Erdogan.

Die Erpressung hat schon mit dem Deal begonnen, die Geflüchteten gegen Geld in der Türkei zu halten. Es hat wohl viele überrascht, dass Erdogan seine Drohung wahrmacht. 

Derweilen boomt der Tourismus in der Türkei und in Griechenland

Vor sechs Jahren war ich in Samos in den Ferien. Es ist schon ein spezielles Gefühl, dass ich dort am Strand gelegen habe, wo jetzt die Situation eskaliert. Es gibt ein Lied vom Zürcher Chansonnier Faber, dessen Musik ich trotz seiner sehr expliziten und manchmal sexistischen Sprache mag. Einer seiner Songs heisst "Wer nicht schwimmen kann, der taucht". Darin beschreibt er die gelangweilte Sattheit weisser Männer, die im Liegestuhl am Strand liegen und zuschauen, wie Boote voller Geflüchteten kentern. Gemäss der Internationalen Organisation für Migration sind zwischen 2000 und 2017 knapp 34’000 Flüchtende im Mittelmeer ertrunken, dabei liege die Dunkelziffer aber um ein Vielfaches höher. 

Dieses Bild der satten weissen Männer am Strand: Hat für dich der Tourismus etwas Koloniales?

Teils sicher. Aber es hat in den letzten Jahren auch ein Umdenken stattgefunden. Mit 18 bin ich auch gereist. Ich war in Südostasien, und das hatte schon etwas Koloniales. Ich feierte Party auf einer thailändischen Insel und am nächsten Tag mussten die Einheimischen den ganzen Müll einsammeln – und in der Schweiz verstehen wir uns als die grossen Umweltschützerinnen und Abfallrecycler. Wenn heute Demonstrierende offene Grenzen fordern, also die Idee, welche bereits John Lennon in seinen Liedzeilen ausdrückte " „Imagine there’s no countries […] | You may say I’m a dreamer | But I’m not the only one | I hope someday you’ll join us | And the world will be as one“ – wird das als Illusion abgetan. Gleichzeitig haben wir mit dem Schweizer Pass faktisch globale Bewegungsfreiheit, offene Grenzen. So gesehen wirkt der Tourismus schon wie das Pünktchen auf dem "i" einer imperialen Lebensweise, die sich sonst etwa im Handel mit Kleidern oder grundsätzlich dem guten Leben auf Kosten des Rests der Welt zeigt.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Egal ob beim Einkauf oder beim Ferien machen: Ich überlege mir, wie viel Raum oder Ressourcen ich für mich beanspruche und ob dieser Anteil fair ist. Ich habe einen strengen Arbeitsalltag und wenig Ferien. Es ist im ersten Moment eine superschöne Vorstellung, ans Ende der Welt zu fliegen und abzuschalten. Das ist Mainstream, das macht man hier so. Aber es ist zum einen nicht der gesündeste Weg für mich und es funktioniert auch nicht fürs Klima. Also versuche ich es anders, reise eher per Zug mal für fünf Tage nach Amsterdam oder nach Paris. Ich bin zwar nicht aus der Generation der Klimabewegung, die sind etwa zehn Jahre jünger als ich, aber dank den Fridays for Future habe ich Europa neu entdeckt, oder auch die Schweiz und ihre Berge. Für mich ist das nicht unbedingt Verzicht, sondern eher eine Entdeckung. Es ist ja eine kulturelle Frage, welche Ferien wir als toll empfinden.

In den letzten Jahren ist der Voluntourismus zu einem Wachstumsmarkt geworden, bei dem Urlaubende ihre Reise mit einem kurzen Freiwilligeneinsatz verbinden.

Intuitiv kann ich die Faszination verstehen. Aber als politisch aktiver Mensch frage ich mich schon, warum ich nach Guatemala jetten und dort Schildkröten retten soll statt hier die Biodiversität zu erhalten. Viele merken auf der Gefühlsebene, dass auf der Welt einiges in die falsche Richtung läuft. Das finde ich super. Aber gleichzeitig haben sich viele von der Politik entfremdet. Sie gehen lieber den "Armen helfen" statt hier den institutionellen Mächten entgegenzutreten und gemeinsam etwas zu ändern, damit es keine Armen mehr gibt.

Gewisse Freiwilligeneinsätze können aber auch zur Politisierung beitragen. Eine Kollegin war mehrfach auf Lesbos bis kurz vor der Eskalation. Vielleicht brauchte sie dieses Erlebnis, um stärker zu sehen, dass es ohne Politik nicht geht – auch wenn sie in dieser Sache vollkommen versagt. Wenn sie danach einer Partei beitritt, finde ich das gut. In der Schweiz sind diese Missstände nicht gleich sichtbar, auch wenn es sie gibt.

Du sagtest, was wir im Urlaub als toll empfinden, sei eine kulturelle Frage. Müssen wir unsere Tourismuskultur ändern?

Wir müssen wegkommen von einer Tourismuskultur, bei der Reisen, Dienstleistungen, Destinationen oder Erlebnisse ganz wie Kleider oder andere Waren konsumiert werden. Das erfordert einen kulturellen Wandel bei uns. Ich möchte keinem Land vorwerfen, dass es vom Reisehype profitieren möchte, genauso wie ich China mit den hohen CO2-Emissionen nicht alleine für die Klimakrise verantwortlich machen will. Wir müssen bei uns ansetzen.

Das möchte auch fairunterwegs.org. Wie gefällt dir das Portal?

Ich finde es sehr spannend. Wir merken ja auch in der Schweiz, dass der Klimawandel den Tourismus bedroht und umgekehrt, aber noch sind die Antworten darauf oft kurzsichtig. So hat etwa Ständerat Hans Wicki vorgeschlagen, der Staat solle doch die Schneekanonen subventionieren. 

Klar sind die Skigebiete vom Klimawandel betroffen, man wird dort nicht mehr einfach Skifahren gehen können wie noch in meiner Jugend. Das ist für manche Regionen dramatisch. Aber wir müssten eine nachhaltige Strategie fahren, die schönen Regionen erhalten, auch als Erholungsgebiete, aber ohne die Natur auszubeuten. Aber in den Räten wird viel Klientelpolitik betrieben. Es gehen jene ans Rednerpult, die auf Tourismusförderung setzen, weil ihre Kantonen erwarten, dass sie Cash heimbringen. Sie dominieren die Diskussionen um den Tourismus. Da ist es besonders wichtig, dass Organisationen wie eure das Thema anders beleuchten und alternative Modelle aufzeigen. Jede Vision durchbricht die Alternativlosigkeit. Bis sich Visionen wie die eines naturschonenden Tourismus mit fairer Beteiligung aller durchsetzt, braucht es noch viel Druck von der Zivilgesellschaft.

Empfehlungen

SRF Echo der Zeit

https://www.srf.ch/play/radio/sendung/echo-der-zeit?id=28549e81-c453-4671-92ad-cb28796d06a8

Faber: Wer nicht schwimmen kann, der taucht

Musik: https://www.youtube.com/watch?v=FyeedvwGMJk

Text:  http://www.songtextemania.com/wer_nicht_schwimmen_kann_der_taucht_songtext_faber.html