Welches Buch führt Sie auf die intensivste innere Reise?

Früher habe ich sehr viel gelesen, heute lese ich etwas weniger. Als ich mir zu diesem Interview Gedanken machte, fielen mir zwei Bücher ein. Das erste ist "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann. Auf sehr amüsante, illustrative Weise spinnt er einen Roman rund um zwei unterschiedliche Genies, den Mathematiker und Geodäten Karl Friedrich Gauss und den reisehungrigen Naturforscher Alexander von Humboldt. Sie gehören zu jenen grossen Geistern der Aufklärung, die unsere Weltsicht fundamental verändert haben, indem sie uns die mathematisch naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt brachten. Alexander von Humboldt reiste durch viele Länder und Kontinente, legte Herbarien an, vermass die Gebiete und erstellte Karten. Dabei dienten ihm auch die Berechnungsgrundlagen von Karl Friedrich Gauss, mithilfe derer er zum Beispiel die Triangulationspunkte zur Vermessung bestimmter Flächen ermittelte. Die beiden Wissenschaftler begegneten sich, das ist historisch verbrieft, und blieben danach in Kontakt. Der Roman überzeugt durch seine prägnante Sprache, seine Dichte und den Humor von Kehlmann und ist auf jeden Fall sehr lesenswert.
Das zweite Buch ist "Quatemberkinder oder wie das Vreneli die Gletscher brünnen macht" von Tim Krohn. In einer selbst erschaffenen Sprache, die sich zwischen Deutsch und Schweizerdeutsch bewegt; wild und atemberaubend, entführt er uns in die unheimliche Glarner Sagenwelt und in eine Lebensrealität, in welcher die Vernunft just noch nicht regiert.

 Wie kommen Sie auf diese Bücher?

Ich lese gerne Fiktion um abzuschalten. Während meiner Arbeit im Ausland habe ich natürlich auch einiges über die Regionen gelesen, in denen ich gerade tätig war, im Kongo etwa "Schatten über dem Kongo" von Adam Hochschild oder in Afghanistan Bücher über die geopolitische Situation dort, zum Beispiel von Peter Hopkirk "The great game" und von Ahmed Rashid "Taliban". Aber inzwischen lese ich nicht mehr so viel Fachliteratur. Ich bin wählerischer bei Büchern, lese lieber wenige, dafür solche, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Also verzichte ich meistens auf einen schnellen Kauf im Duty Free Shop. Ich lasse mich von Besprechungen oder Empfehlungen von Freunden inspirieren. Ausserdem führt mein Arbeitsweg an einer guten Buchhandlung vorbei. Das Stöbern in den Büchern gibt mir ein gutes Gefühl.

Die Bücher, die Sie empfehlen, handeln von Menschen, die die Realität neu sehen und anders begreifen. Ist das ein Interesse, das sich über Ihre vielen Reisen fürs Internationale Komitee vom Roten Kreuz und jetzt für Swisscontact herausgebildet hat?

Sicher, meine Tätigkeit im Ausland war hierbei prägend. Es braucht viel, damit man sich von Voreingenommenheit, Vorurteilen und Erwartungen befreien kann; vor allem Zeit und Offenheit für Unvorhergesehenes, spontane Begegnungen und Erlebnisse. Das muss man immer wieder von neuem lernen: Nicht wertend und vergleichend zu reisen. Oft verbauen wir uns einen unvoreingenommenen Blick auf neue Kulturen, indem wir sie ständig mit der unsrigen und unseren Wertvorstellungen vergleichen.

Steht diese Spontaneität nicht im Widerspruch zur Empfehlung, die wir ja auch abgeben, sich gut für Reisen vorzubereiten?

Es ist mir klar, dass es ein Privileg ist, mit viel Zeit zu reisen. Wenn ich das Jahr hindurch stark eingebunden bin und nur zwei Wochen am Stück Ferien beziehe, lese ich auch einen Reiseführer und plane, was ich unternehmen will: Diese Wanderung will ich machen, diese Meeresbucht sehen. Zudem macht es Sinn, sich vor der Reise mit der Kultur und Geschichte eines Ortes auseinanderzusetzen. Doch manchmal ist dann der Aufenthalt zu stark durchgeplant und die Möglichkeit, Neues zu entdecken und zu erleben verbaut. Einfach drauflosreisen konnte ich noch in den Neunzigerjahren als Student, als ich durch die Anden trekkte oder per Interrail durch Europa fuhr. Das ist das Privileg der Jugend.
Aber Bücher wie jene, die ich empfohlen habe, helfen vielleicht manchmal, sich von Fixierungen des Alltags zu lösen. Wenn ich während meiner physischen Reisen auch eine mentale Reise machen kann, dann reise ich bisweilen mit einem anderen Geist: ruhiger, offener, weniger getrieben.

Was bedeutet für Sie fair unterwegs sein?

Nicht mit vorgefasstem Generalverdacht reisen: Zum Beispiel dass einen ohnehin alle übers Ohr hauen wollen. Oft sind wir Schweizer recht knauserig mit Trinkgeld. Ich empfehle, vor der Reise oder nach der Ankunft am Flughafen Kleingeld zu wechseln, um gleich auf die Leute zugehen und ihre Dienste auch in Anspruch nehmen zu können. Mit einer gewissen Grosszügigkeit und Neugier, statt dem Gefühl, ständig auf der Hut sein zu müssen werden Reisen erlebnisreicher und spannender. Dann heisst es für mich auch, mich auf etwas einzulassen. Ich will mich nicht immer auf den vorgegebenen Touristenrouten bewegen, sondern mich auch etwas treiben lassen und das Atmosphärische aufnehmen. Dabei das Unbekannte wertschätzen und kennen lernen, sei es über die Wahl eines hiesigen Taxis oder Busses, über den lokalen Tourguide, oder das Essen am Wegrand im lokalen Restaurant. Das ist stimulierend und bringt mich mit den Leuten ins Gespräch. Und glücklicherweise verfüge ich über einen robusten Magen.
Fair unterwegs zu sein hat natürlich auch eine ökologische Komponente. Aber wenn wir mit dem Flugzeug reisen, ist es wohl hinfällig, hier noch viel erreichen zu wollen.

Warum denn? Die Anreise ist zwar ein wichtiger Umweltposten, aber es gibt ja auch noch Kriterien bei der Wahl von Unterkünften, die bei der Ökobilanz stark ins Gewicht fallen.

Richtig. Kleine Pensionen sind oft authentischer als grosse Hotelketten, die in Nairobi gleich aussehen wie in Jakarta. Ob diese jedoch ökologischer sind, kann ich nicht beurteilen.

Wir übertragen Sie diese Haltung in den Alltag hier in der Schweiz?

Von meiner Einstellung her bin ich hier nicht anders unterwegs. Für die Arbeit bin ich während drei bis vier Monaten auf Reisen, deshalb geniesse ich es, in meinen Ferien mit meiner Frau und Freunden die Schweiz zu erwandern. Wir haben eine Ferienwohnung im Saanenland und verbringen viel Zeit dort. Die Berge sind für uns ein Ort der Erholung wo wir Kraft tanken können. Auch in der Schweiz suche und schätze ich die lokalen Spezialitäten: Reise ich in das Tessin, so besuche ich ein Grotto, in der Waadt esse ich Croûte au fromage, im Bündnerland einen Bündnerteller oder eine Gerstensuppe. Aber auch hier in Bern, wo ich wohne, besuche ich gerne samstags den Wochenmarkt. Hier gibt es feine Butterzöpfe aus dem Emmental oder frischen Fisch aus dem Neuenburgersee. Schon meine Eltern haben uns das Lokale nahegebracht. Sie reisten nie ins Ausland, sondern machten mit uns immer Ferien in der Schweiz.

Seit drei Jahren sind Sie Geschäftsführer von Swisscontact, einer Organisation, die ebenfalls daran arbeitet, die Welt etwas fairer zu machen. Wie wichtig ist es Ihnen, Ihre Einstellung auch in Ihrer Arbeit leben zu können?

Sehr wichtig. Ich habe grosse Freude an meiner jetzigen Arbeit, weil sie sinnvoll und herausfordernd ist. Regelmässig stehen wir vor der Aufgabe unsere Arbeit neu definieren, neue Ansätze suchen zu müssen, denn unsere Arbeit findet in einem sehr komplexen und dynamischen Umfeld statt. Das zeigt sich auch in der Teamzusammensetzung. Wir suchen intrinsisch motivierte und überdurchschnittlich engagierte Menschen. Wir führen im Dialog und entscheiden "bottom-up": Unsere Angestellten, insbesondere vor Ort, gestalten und entwickeln die Tätigkeiten mit. Das ist elementar, wenn es darum geht, integrative und breitenwirksame lokale Lösungsansätze zu finden. So zu arbeiten macht Freude.

Swisscontact hat sich lange als Entwicklungsorganisation der Wirtschaft bezeichnet. Gilt das immer noch?

Swisscontact ist aus der Wirtschaft heraus entstanden, aber in den letzten zwanzig Jahren haben die Unternehmen viele eigene Stiftungen gegründet. Wir nennen uns heute lieber "die wirtschaftsnahe Entwicklungsorganisation". Und wir legen Wert darauf, nicht einfach ein Hilfswerk, sondern eine Entwicklungsorganisation oder genauer, eine Stiftung für technische Entwicklungszusammenarbeit zu sein. Denn welche Problemstellung wir auch vorfinden – eine politische, soziale, ökologische, menschenrechtliche – wir suchen dafür immer eine technische, wirtschaftsorientierte Lösung. Wir betreiben keine Advocacy und führen auch keine öffentlichen Kampagnen durch.

Immerhin machen Sie mit der Swisscontact-Jahreskonferenz auf Themen und Anliegen aufmerksam.

In der Tat wollen wir unsere Arbeit und unsere Lösungsansätze in der Entwicklungszusammenarbeit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen. Thema der letzten Konferenz war die Ressourceneffizienz, Thema der diesjährigen Veranstaltung ist die Berufsbildung, ein zentrales Anliegen von uns – denn eine gute und solide Ausbildung ist von grosser Bedeutung für das Individuum und die Wirtschaft. In dem Sinne betreiben wir schon ein gewisses Öffentlichkeitsarbeit und sind darum bemüht, dass man unsere Arbeit kennt und unterstützt. Gerade im Tourismus ist es ja wichtig, dass die Wertschöpfungskette so ausgestaltet wird, dass möglichst viele Menschen davon profitieren. Das möchten wir bekannt machen und aufzeigen, was man bewirken kann. Wir haben Tourismusprojekte in Indonesien, Peru und Tunesien. Dort fördern wir eine alternative Form des Tourismus, eben nicht für die Massen, sondern in ländlichen Gebieten mit Klein- und Kleinstunternehmen. Das ist auch ein Tourismus, der etwas mehr Zeit von den Reisenden beansprucht, dafür viel Einmaliges zu bieten hat.

Swisscontact unterstützt seit einigen Jahren das fairunterwegs-Reiseportal. Warum?

Das passt inhaltlich und von den Werten her. Auch fairunterwegs setzt auf die Stärkung von lokalen Wertschöpfungsketten und auf den Dialog mit der Branche und Regierungen vor Ort, um aufzuzeigen, dass mit Massentourismus oft genau das zerstört wird, wovon der Tourismus lebt, und dass dies nicht nachhaltig ist. Auch wir haben in der Schweiz, als die Industrialisierung zur Neige ging, eine grosse Abwanderung von den Berggebieten erlebt. Die Entwicklung des Bergtourismus war eine Antwort darauf. Zwar gibt es hier auch Phänomene des Massentourismus, insbesondere im Winter in den Skigebieten, aber es gibt auch wertvolle Ansätze, wie Tourismus im Einklang mit der Natur entwickelt werden kann. Dadurch haben wir in der Schweiz wertvolle Erfahrungen gesammelt, die wir weitergeben können.
Fairunterwegs.org zeigt auf, wie man reisen und spannende Dinge entdecken und gleichzeitig einen Beitrag zum Wohlstand einer Region leisten kann. Thematisch passt das sehr gut zu uns, und das Wissen rund um Tourismus und Entwicklung ist für uns eine wichtige Referenz.


Von Samuel Bon empfohlene Bücher:

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Rohwolt Taschenbuch, Berlin 2012 (2. Auflage), 206 Seiten; CHF 20.90, EUR 12.99; ISBN 978-3-499-25327-0
Tim Krohn: Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2010. 311 Seiten, CHF 17.90, EUR 10,90, ISBN 3-257-23961-0.
Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der grossen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen. Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 508 Seiten, CHF 39.90 CHF EUR 25.95, ISBN 978-3-608-94769-4
Peter Hopkirk: The Great Game. John Murray Publisher, London 2006, 566 Seiten, CHF 19.90, EUR 12.00, ISBN 978-0-719-56447-5