Fair unterwegs mit Sophie de Rivaz, Entwicklungspolitik-Fachfrau
Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?
Viele Romane ermöglichen es uns, durch Zeit und Raum zu reisen und uns im Gegenzug mit geschärftem Blick selbst zu betrachten. Ich habe gerade zwei Bücher von französischen Autoren über Pandemiegeschichten gelesen.
Das erste, "L’or et la soie" von Raymond Jean, erzählt die Geschichte des Pestausbruchs im Jahr 1720 in Marseille, einer Stadt, die ich faszinierend finde. Viele Menschen sterben auf verdächtige Weise auf einem Schiff, der Grand Saint-Antoine, das Tücher und Seidenstoffe von einem Hafen im Osten nach Frankreich transportiert. Soll man das Schiff unter Quarantäne stellen und riskieren, ein teures und wertvolles Handelsgut zu verlieren? Die Behörden in Marseille zögern und finden schliesslich eine Lösung, die akzeptabel erscheint. Mit dem Ergebnis: Die Seuche breitet sich in Marseille aus, wo die Hälfte der Bevölkerung innerhalb weniger Monate stirbt. Die schwierige Interessenabwägung zwischen Wirtschaft und Gesundheit, die unsere Regierungen derzeit angesichts des Coronavirus vornehmen, ist daher nichts Neues.
Das andere Werk, "Le hussard sur le toit" von Jean Giono, erzählt eine Geschichte, die sich 1830 etwas weiter nördlich in der Haute-Provence abspielt, einer herrlichen Region Frankreichs. Ein junger italienischer Offizier, Angelo Pardi, muss im turbulenten Kontext der italienischen Vereinigung aus dem Piemont fliehen. Während überall die Cholera wütet, begibt er sich auf die Suche nach einem Landsmann. Auf seiner Reise trifft er Menschen von unglaublicher Grosszügigkeit, wie diesen jungen Arzt, der sich beim Versuch, PatientInnen mit den wenigen zur Verfügung stehenden Medikamenten und Ressourcen zu retten, völlig verausgabt. Aber er begegnet auch Angst und Grausamkeit. So entgeht er bei seiner Ankunft in Manosque nur knapp einem Massaker durch eine Gruppe von Einwohnern, die davon überzeugt sind, dass die Cholera von Ausländern eingeschleppt worden ist.
Diese Irrationalität angesichts der Krankheit findet sich heute sowohl bei denjenigen, die die Existenz des Coronavirus leugnen, als auch in Ländern, wo Minderheiten beschuldigt werden, ÜberträgerInnen der Krankheit zu sein. In ähnlicher Weise helfen aber auch viele Menschen selbstlos anderen dabei, mit der gegenwärtigen Pandemie fertig zu werden.
Was heisst für dich fair unterwegs sein?
Das Bild, das ich vor mir habe, ist das der Reisenden, die sich auf ein Abenteuer begeben, um die Welt und andere zu entdecken. Wie können wir heute eine "faire" Praxis des Tourismus leben, die eine begrenzte Auswirkung auf die Umwelt mit der Achtung der Kulturen und Menschen verbindet? Wie einen Tourismus fördern, der sowohl eine Einkommensquelle für die besuchten Gemeinschaften und Regionen darstellt, aber auch für die Mehrheit der Menschen erschwinglich ist? Dies ist die Quadratur des Kreises. Ich bewundere die Reiseveranstalter und die Mitglieder von fair unterwegs – akte, die versuchen, auf diese Herausforderung zu reagieren.
Persönlich reise ich gerne mit dem Zug, einem Transportmittel, das ich weniger ermüdend finde als das Auto und das – im Gegensatz zum Flugzeug – eine sanfte Eingewöhnung in eine neue Umgebung ermöglicht. Ich wandere auch gerne in den Alpen, egal in welchem Land (wobei ich neben Graubünden auch Italien bevorzuge wegen der Gastfreundschaft und des guten Essens).
Was bedeutet der aktuelle Lockdown für dich? Wie gehst du damit um?
Zuerst fand ich die Isolation beängstigend. Ich mache mir weiterhin Sorgen um einige meiner Angehörigen, die zu den Schwachen gehören, sowie um all jene, die ihren Arbeitsplatz verloren haben oder verlieren werden. Gleichzeitig ist die Pandemie ein Indikator für die Ungleichheiten und den Grad der Prekarität vieler Menschen, die vom Wirtschaftswachstum und der Entwicklung der letzten Jahrzehnte völlig vergessen worden sind. Ich hoffe, dass diese Krise eine Gelegenheit für einen Sprung nach vorn sein wird, für eine neue Sichtweise, wie wir wirtschaftlich arbeiten, aber ich bin hier vielleicht sehr naiv. Abgesehen davon ist die "schweizerische" Form des Lockdowns für mich durchaus erträglich.
Wie gefällt dir das Portal fairunterwegs.org?
Das Portal bietet die Möglichkeit, Porträts interessanter Persönlichkeiten zu entdecken und Anregungen zu erhalten, um anders zu reisen, sowohl in der näheren Umgebung als auch in Übersee. Für Menschen, die gerne reisen, ist es ein nützliches und inspirierendes Portal.
Raymond Jean: L’or et la soie. Actes Sud, Arles 1990, 224 Seiten, EUR 6.60, ISBN: 978-2-8686-9500-0.
Jean Giono: Le hussard sur le toit. Gallimard, Paris 1998. 498 Seiten, Taschenbuch, CHF 15.90, EUR 8.99, ISBN: 978-2-07-036240-0.